Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 12

Geographie und Kartographie

In seinem breit angelegten Forschungsprogramm der ‚Physikalischen Geographie‘ verband Alexander von Humboldt sinnliche Naturbeobachtung mit möglichst präzisen geographischen Daten zu einem geophysikalischen Gesamtgefüge, von dem in der Folgezeit diverse Forschungsrichtungen der Geographie – darunter die Klimageographie, die Hydrographie oder die Geographie der Pflanzen und Tiere – mitgeprägt wurden. Humboldts holistischer Ansatz zielte jedoch auf eine synthetisierende, ganzheitliche Naturbeschreibung, die sich kaum auf einzelne Themenbereiche oder Fragestellungen eingrenzen lässt. Es greift insofern zu kurz, die Geographie (griechisch ‚γῆ‘ [‚gê‘] = ‚Erde‘, γράφειν‘ [‚graphein‘] = ‚schreiben‘, ‚beschreiben‘] als eines von Humboldts zentralen Interessen zu sondern, vielmehr muss sie als grundlegend für seine gesamte wissenschaftliche Arbeit aufgefasst werden.1 Als Gegenstand von Humboldts ‚Physikalischer Geographie‘ kann ‚die Erde‘ oder ‚die Natur‘ bezeichnet werden, deren Beschreibung neben einer möglichst genauen Erfassung der topographischen Struktur und ihrer Entstehung – zumindest dem theoretischen Anspruch nach – jene der Abhängigkeiten aller natürlichen Kräfte, d. h. aller gesetzmäßig ablaufenden Naturprozesse anstrebte. Zu ihnen rechnete Humboldt auch anthropo-, öko- oder biologische Entwicklungen, die er von der geographischen Beschaffenheit determiniert sah. Präzise Analysen der geologischen Schichten gehörten ebenso zu dieser Naturforschung wie die Ausbreitung von Pflanzengattungen auf der Erdoberfläche oder die kulturelle Entwicklung des Menschen in unterschiedlichen Regionen.2

Dreidimensional erfasste Topographie

Als heuristisches Grundgerüst des hier knapp skizzierten Forschungsvorhabens kann die Beschreibung der terrestrischen Topographie in ihren drei Dimensionen aufgefasst werden. Humboldts gesamtes Werk ließ sich von der Theorie leiten, „daßdie Aufnahme eines Ortes in drei Dimensionen (Breitengrad, Längengrad und Höhe) […] der Schlüssel zum Verständnis der Naturwelt sei.“3 Gegenüber vorausgegangenen geographischen Überlegungen bezog Humboldt nun also auch die im Laufe des 18. Jahrhunderts technisch deutlich verbesserte Höhenmessung konsequent in seine Analysen mit ein und verknüpfte sie mit topographischen Flächenangaben. Auf dieser Basis erkannte er – etwa hinsichtlich der Verbreitung der Pflanzen auf der Erdoberfläche – vorher noch nicht beschriebene geophysikalische Abhängigkeiten. Zugleich ließen sich natürliche Prozesse sondieren, die nicht von der geographischen Lage bedingt wurden, etwa die Entstehung von Gesteinen und Mineralien.4 Um diese von ihm angestellten Naturbeobachtungen vor Augen stellen zu können, nahmen Karten und kartenähnliche Darstellungen in Humboldts wissenschaftlicher Tätigkeit eine Schlüsselrolle ein. Damit hierbei auch die dritte Dimension berücksichtigt werden konnte, ergänzte Humboldt die tradierten Flächenprojektionen um solche der Höhe. Mit der sogenannten ‚Höhenkarte‘ entwickelte er in diesem Zusammenhang eine eigene Projektionsmethode, deren Visualisierungsverfahren und wissenschaftlichen Nutzen er in seinem „Essay de Pasigraphie“ (1803/1804) vorstellte.5 Dank dieser medialen kartographischen Rahmung ließen sich Naturbeobachtungen ihrer Breite, Fläche und Höhe nach verorten, aufeinander bezogen darstellen und wissenschaftlich beurteilen.6 Die Kartographie stellte dementsprechend nicht nur eines von Humboldts wissenschaftlichen Betätigungsfeldern dar, sondern eine mit der ‚Physikalischen Geographie‘ aufs Engste verkoppelte, grundlegende epistemische Praxis, die Humboldt über viele Jahre und für verschiedenste thematische Fragestellungen verfolgte.7 Das Resultat dieser Arbeit bilden neben wenigen verstreuten Einzeltafeln, die in unterschiedlichen Publikationsorganen erschienen, im Wesentlichen zwei aufwändige und kostspielige Atlanten mit topographischen Karten: der Atlas géographique et physique du Royaume de la Nouvelle-Espagne (Paris 1808–1811) und der Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent (Paris 1814–1837).8 Editorisch sind sie Humboldts Reisewerk, der Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent‬, zugeordnet. Bisweilen wird von der Forschung auch Heinrich Berghaus’ Physikalischer Atlas (1845–1848), der 90 thematische Tafeln zu Alexander von Humboldts Kosmos (1845–1862) bot, als drittes topographisches Kartenwerk von Humboldt angesprochen. Zwar lieferte dieser entscheidende Impulse, doch wurde der Band schließlich von Berghaus allein publiziert. In ihrer inhaltlichen und gestalterischen Ausrichtung weisen die Tafeln deutliche Unterschiede zu Humboldts kartographischem Werk auf, weshalb der Physikalische Atlas letztlich eine eigene Leistung Berghaus’ darstellt.9

Humboldts kartographische Praxis

Anders als viele Gelehrte seiner Zeit, die kartographisches Material zu wissenschaftlichen Zwecken nutzten, produzierte Humboldt seine Karten weitgehend selbst und war bei ihrem Produktionsprozess an nahezu allen Schritten beteiligt. Eine seiner wesentlichen Zielsetzungen war es hierbei auch, die um 1800 häufig noch unstimmigen Angaben zu räumlichen Koordinaten zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.10 Dank der technisch deutlich verbesserten Präzisionsinstrumente war es Humboldt nun auch selbst möglich, recht genaue geographische Messdaten der Fläche und der Höhe vorzunehmen. Auf seinen Reisen durch die Amerikas (1799–1804) und durch Russland (1829) führte er zu diesem Zweck zahlreiche Instrumente mit. Wie wichtig Humboldt die daraus hervorgegangenen Sammlungen geographischer Daten waren, verdeutlicht das Recueil d’observations astronomiques, das die auf seiner amerikanischen Reise zusammengetragenen Messwerte enthielt.11 Viele der an die Datenaufnahme anschließenden graphischen Entwürfe für seine Karten fertigte Humboldt bereits vor Ort an. In ihrer Gestaltung unterscheiden sie sich häufig nur unwesentlich von den späteren Druckfassungen. Erst nach dieser selbst geleisteten Vorarbeit betraute Humboldt spezialisierte Fachleute mit der Fertigstellung der Karte– Kartographen (für die Kartennetzentwürfe), Kupferstecher (für die Anfertigung des Stichs) und schließlich Illuminatoren (für die farbige Ausgestaltung). Jedoch wurden auch diese letzten Schritte des Herstellungsprozesses von Humboldt noch akribisch begleitet. Er formulierte genaue Vorgaben, kommentierte Zwischenergebnisse und ließ sie bei Bedarf verbessern oder berichtigen.12 Da die von Humboldt produzierten Karten vergleichsweise exakt waren, vor allem amerikanische Territorien bisweilen erstmals präzise nach geodätischen Gesichtspunkten kartierten und zudem geographische Informationen auf eine Anfang des 19. Jahrhunderts noch weitgehend ungebräuchliche Weise themenbezogen auswerteten, erzeugten sie bereits zeitgenössisch weitreichenden Nachhall. Sie wurden verschiedentlich aufgegriffen und weiterentwickelt, wobei es auch, etwa bei Humboldts topographischer Erfassung Mexikos, zu nicht ausgewiesenen Aneignungen kam. In seinem Aufsatz „Über eine Karte von Neuspanien von Hrn. Arrowsmith“ beklagte Humboldt etwa, der englische Kartograph Aaron Arrowsmith habe sich die „große und mühevolle Arbeit […] ganz zugeeignet; er hat meine Carte générale du Mexique getreu copirt und […] herausgegeben; er hat dabey seinen Namen an die Stelle des meinigen gesetzt“.13 Auch den US-amerikanischen Offizier Zebulon Montgomery Pike, der für die Vereinigten Staaten in militärischer Mission kartierte, bezichtigte Humboldt des Plagiats an seiner mexikanischen Karte.14 Für diese Übernahmen finden sich eine Reihe von Belegen, gleichwohl muss bei der heutigen Beurteilung berücksichtigt werden, dass es zur damaligen Zeit verbreitete kartographische Praxis war, Daten aus vorangegangenen Karten zu übernehmen, ohne die Quellen im Einzelnen darzulegen.

Geo- und kartographische Überlegungen in den Schriften

Von Humboldt existieren nur wenige programmatische Aussagen zu seiner kartographischen Arbeit. In diesem Kontext besonders reichhaltig ist der „Essay de Pasigraphie“ (1803/1804). Er befasst sich primär mit der Symbolsprache der Pasigraphie (griechisch ‚πας‘ [‚pas‘] = ‚ganz‘, ‚alle‘; γράφειν‘ [‚graphein‘] = ‚schreiben, ‚beschreiben‘), deren Kürzel allgemein verständlich sein sollten. Humboldt übernahm sie in seine geologischen Überlegungen und erhoffte sich hiervon, in Karten auch komplexe und großflächige Erdschichten auf einen Blick präsentieren zu können. Seinen Essay verfasste Humboldt auf seiner amerikanischen Reise für Studenten des Colegio de Minería in Mexiko-Stadt. 1805 erschien der Text unselbständig in einer spanischen Übersetzung von Andrés Manuel del Río, einem ab 1794 am mexikanischen Colegio tätigen Professor für Mineralogie.15 Lange Zeit galt Humboldts ursprünglich französischsprachiges Manuskript als verschollen. 1958 wurde es schließlich in den ausufernden Kollektaneen des wissenschaftlichen Nachlasses Humboldts entdeckt und als flüchtige, knapp kommentierte Transkription ediert; nun liegt der Text im Übersetzungsband der Berner Ausgabe erstmals in deutscher Übersetzung vor.16 Aus dem „Essay de Pasigraphie“ geht zunächst hervor, welchen Wert Humboldt im geologischen Kontext der bildlichen gegenüber der versprachlichten Wissenspräsentation beimaß. Einige wesentliche Aspekte der medialen Umsetzung geographischer Bilder werden detailliert erläutert, darunter vor allem die von Humboldt eigenständig entwickelte kartographische Projektionsmethode der ‚Höhenkarte‘. Ferner gibt der Text – wenngleich recht allgemein – Aufschluss über Humboldts Verwendung des Begriffs ‚Karte‘, der er nicht nur Aufsichten auf die Erdoberfläche, sondern auch Schnittdarstellungen subsumierte. Zudem legte der Essay die Grundlage dafür, eine von Humboldt gezielt inszenierte, Erkenntnis generierende Zusammenschau von Karten oder Kartenteilen, bei der Höhen- und Flächenprojektionen zu räumlichen Darstellungen verkoppelt werden, zu erkennen und ihrem heuristischen Prinzip nach zu verstehen.
Abb. 1: Carte des lignes Isothermes (1817) [Bildnachweis]
Zu den eigenständigen Aufsätzen, die geographische Themen pointiert und geschlossen diskutieren, zählt vor allem die Abhandlung „Des lignes isothermes et la distribution de la chaleur sur le globe“, mit der 1817 die „Carte des lignes Isothermes“ erschien (Abb. 1).17 Bis heute wird die Karte, die erstmals gemittelte Temperaturwerte zu Wärmekurven verband und mit ihnen die nördliche Hemisphäre in klimatische Zonen unterteilte, nicht nur für die Klimageographie, sondern auch für die ‚thematische Kartographie‘ insgesamt als wegweisend gehandelt. Zu diesem Bereich der Kartographie werden Karten gezählt, die ihren Schwerpunkt nicht – wie topographische Karten – auf eine möglichst präzise Geländedarstellung selbst legen, sondern, von dieser ausgehend, Objekte und Sachverhalte nicht-topographischer Art diskutieren. Da Humboldt seine kartographischen Darstellungen konsequent thematisch ausweitete, fallen letztlich sehr viele, möglicherweise alle seiner Karten in diese Kategorie. Bis heute ist Humboldts diesbezügliche Prägekraft auch darin spürbar, dass sich der von ihm eingeführte Terminus der ‚Isotherme‘ für die in Karten visualisierten Linien zwischen Orten gleicher Durchschnittstemperatur gehalten hat.18 Bezogen auf geographische und kartographische Themen nutzte Humboldt die Schriften jedoch meist für offenere Formen der verschriftlichten Analyse und nicht für argumentativ geschlossene Aufsätze – und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen formulierte er darin Kerngedanken, die er selbst als richtungsweisend verstand und in seinen selbständigen Werken umfassend ausgebaut hatte oder ausbauen wollte. Zum anderen korrigierte und kommentierte er vorherige Publikationen, beispielsweise aufgrund neu gewonnener Forschungsergebnisse. Für den ersten Aspekt gilt, dass sich Kernaussagen Humboldts häufig ausufernden, rhetorisch komplex gegliederten und zum Teil nicht fertiggestellten Buchwerken nicht ohne Mühe abringen lassen. Dank der Kondensate aus der Hand des Autors wird hingegen klar erkennbar, von welchen Informationen er bei seinen geo- oder kartographischen Überlegungen zunächst ausging; in Teilen lassen sich auf der Basis der unselbständigen Schriften auch die Konzeptionen nicht vollendeter Texte oder Textteile rekonstruieren. Beides trifft etwa auf das bislang von der Humboldt-Forschung nur wenig beachtete Examen critique (1836–1839) zu. In „Ueber die ältesten Karten des Neuen Continents und den Namen Amerika“ (1853), publiziert als Vorwort zu Friedrich Wilhelm Ghillanys Geschichte des Seefahrers Ritter Martin Behaim, skizzierte Humboldt die Struktur des nie vollendeten dritten Teils seines Examen critique. Zugleich wird dieser Text als eine ideengeschichtlich orientierte Untersuchung über die ‚Entdeckung‘ Amerikas ausgewiesen. Nicht nur durch die Komplexität und die Fülle der verhandelten Informationen, sondern auch durch die fehlende Vollendung des Examen Critique lässt sich dieser Kernpunkt bei dessen Lektüre bisweilen nur schwer ausmachen.19 Bei dem zweiten Aspekt, durch den das Format der unselbständig publizierten Schrift im geo- und kartographischen Kontext für Humboldt besonders dienlich war, handelte es sich um die Möglichkeit zur schnellen Korrektur, Rechtfertigung oder Weiterentwicklung vorheriger Publikationen, vor allem bezüglich geographischer Messungen. An solchen Reaktionen Humboldts lässt sich neben dem Wandel der Wissenschaftslandschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch seine ebenso aktive wie unablässige Auseinandersetzung mit neuen Erkenntnissen der Naturforschung nachzeichnen. Unter Humboldts Überlegungen, die ihn über Jahrzehnte hinweg beschäftigten und die er immer wieder kritisch aufgriff und in unselbständigen Publikationen kommentierte, findet sich z. B. das Naturgesetz der zu den Polen hin in der Höhe abnehmenden Schneegrenze. Nach eigener Aussage hatte er das Thema erstmals in dem spanischsprachigen Artikel „Geografía física. Ideas sobre el límite inferior de la nieve perpétua, y sobre la geografía de las plantas“ (1804) berührt. Zwei Jahre darauf erschien mit den „Beobachtungen über das Gesetz der Wärmeabnahme in den höhern Regionen der Athmosphäre, und über die untern Gränzen des ewigen Schnees“ (1806) ein erster deutschsprachiger Beitrag.20 In seinem Reisewerk griff Humboldt das Prinzip der zu den Polen hin abnehmenden Schneegrenze an verschiedener Stelle erneut auf und setzte es nun auch in seinem Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent auf der großformatigen Karte „Limite inférieure des Neiges perpétuelles à différentes Latitudes“ (1814) graphisch um.21 Wenig später ergaben neue Messungen jedoch, dass die höchsten Erhebungen über dem Meeresspiegel nicht in den Anden, sondern im Himalaya zu finden seien. Zugleich wurden Beobachtungen angestellt, die dem von Humboldt formulierten Gesetz der abnehmenden Schneegrenze nicht vollständig entsprachen. Diese Positionen nahm er umgehend in seine Überlegungen auf und diskutierte sie in „Sur la limité inférieure des neiges perpétuelles dans les montagnes de l’Himalaya et les régions équinoctiales“ mit Bezug auf die Isothermen. In dem 1820 publizierten Beitrag deutet sich bereits an, dass die Beschreibung des Naturphänomens global besehen komplexer ausfällt, als es Humboldts erste Ausführungen einer gleichmäßig zu den Polen hin sinkenden Schneegrenze noch suggerierten.22
Abb. 2: Points culminants et hauteurs moyennes des chaines principales de l’Europe, de l’Amérique et d’Asie (1825) [Bildnachweis]
Humboldt reagierte in den unselbständigen Publikationen schnell und direkt auf neue Forschungsergebnisse. Er räumte hierbei durchaus eigene Fehlschlüsse ein, wenngleich er sich, wie auch bei der Diskussion über die Gesetzmäßigkeit der Höhe der Schneegrenze, darum bemühte, die neu gewonnenen Erkenntnisse mit seinen eigenen Ergebnissen zu vereinbaren. So erkannte er etwa in einem vergleichenden Beitrag über die höchsten bekannten Gipfel der Erde den Kinchinjinga (heute meist Kangchendzönga) als damals höchste bekannte Erhebung über dem Meeresspiegel an, jedoch nicht ohne zu betonen, dass der von ihm lange Zeit als höchster Berg der Erde angenommene südamerikanische Chimborazo dennoch „wiederum für jetzt der höchste gemessene Berg des neuen Continents“ bliebe.23 Dennoch korrigierte Humboldt auf der Grundlage von neuen Höhenmessungen schließlich auch diese Überzeugung: Seine Karte der „Points culminants et hauteurs moyennes des chaines principales de l’Europe, de l’Amérique et d’Asie“,24 die 1825 zusammen mit dem Aufsatz „De quelques phénomènes physiques et géologiques qu’offrent les Cordillères des Andes de Quito et la partie occidentale de l’Himalaya“ erstmals gedruckt wurde, führte den Chimborazo zunächst noch als höchsten Berg Südamerikas an (Abb. 2). Karte und Text diskutieren im globalen Vergleich von vier Bergmassiven die Abhängigkeit der mittleren Kammhöhen und der höchsten Gipfelpunkte der jeweiligen Gebirgsmassive. Als Humboldt die Karte 30 Jahre später in überarbeiteter deutscher Fassung für seinen Tafelband Umrisse von Vulkanen nachdrucken ließ, hielt er an den wesentlichen geologischen Ergebnissen fest, passte die Darstellung den neuen Höhenmessungen jedoch an. Dem Chimborazo wurde nun der Status als höchstem Berg der Anden aberkannt. Statt seiner nahm Humboldt den Aconcagua und statt des Dhawalagiri den Kintschinjinga [sic] in die Graphik auf.25

Kartengestaltung

Die von Humboldt ausgestalteten kartographischen Oberflächen sind für ihre Entstehungszeit ebenso charakteristisch, wie sie sich zugleich von damaligen Konventionen absetzen. Zwar forcierte Humboldt eine sich um 1800 von Westeuropa aus durchsetzende, möglichst präzise Wiedergabe geographischer Koordinaten und bediente sich diesbezüglich der üblichen Kartenzeichen, doch war die graphische Ausführung seiner Kartenblätter äußerst unkonventionell. Statt der angestrebten, großflächig dargestellten Topographie überführte Humboldt – trotz einer bisweilen deutlich umfassenderen Datengrundlage – lediglich ausgewählte Informationen in seine Kartenbilder. Die fertigen Blätter beschränken sich daher graphisch aufs Wesentliche, vielfach dominieren auf ihnen weiße Flächen. Statt aber sogenannte ‚weiße Flecken‘ zu indizieren, mit denen noch zu Humboldts Lebzeiten unbekanntes Terrain auf Landkarten markiert wurde, sind die monochromen Bereiche von heuristischer Bedeutung: Denn dank ihnen wird der Blick bei der Kartenbetrachtung gezielt auf die bedeutsamen Aspekte des Kartenbilds gelenkt. Die für die jeweilige Aussage über das Naturwissen wesentlichen topographischen Elemente der Karten ließen sich so gedanklich leichter verknüpfen. Für Humboldt galten vor allem Berge und Flüsse als maßgebliche Faktoren, die trennend oder verbindend auf Prozesse in der Natur einwirkten und diese förderten oder hemmten. In seinen Karten waren es daher insbesondere Flussverläufe und Berggipfel, die Humboldt graphisch heraushob, um von ihnen ausgehend bestimmte Fragestellungen zu diskutieren. Vor allem der Orinoco, den Humboldt während seiner Reise durch Südamerika befuhr, und der Chimborazo, den Humboldt zu besteigen versucht hatte, dienten ihm als zentrale kartographische Motive. Vom Orinoko und dessen angrenzendem Flusssystem nahm Humboldt wesentliche Teile erstmals präzise auf und konnte auf dieser Basis eine von der Wissenschaft vorher lange angezweifelte Verbindung zwischen den Flussnetzen des Orinoko und des Amazonas endgültig belegen. Zugleich ermöglichten ihm diese Ergebnisse Schlußfolgerungen über wichtige hydrologische Gesetzmäßigkeiten, mit denen sich etwa die ungewöhnliche Flussbifurkation im Oberlauf des Orinoko erklären ließ. „Partout la configuration du sol modifie la direction des eaux courantes, d’après des lois stables et uniformes”,26 schließt der Aufsatz „Note sur la communication qui existe entre l’Orénoque et la rivière des Amazones“ (1810), in dem Humboldt seine Erkenntnisse komprimiert vorstellte. Dass zusätzlich eine noch vorläufige, gleichwohl mit nicht geringem Aufwand gestochene Karte der „Bifurcation de l’Orénoque“ dem Publikum das Erkannte vor Augen stellt, betont die allgemeine Aussagekraft, die Humboldt der Publikation beimaß (Abb. 3).27 Neben dem Naturphänomen und seiner Gesetzmäßigkeit bestätigten die am Orinoko angestellten Beobachtungen ganz grundlegend Humboldts empirischen Forschungsansatz, nach dem das topographische Gefüge der Erde nicht – wie etwa der französische Kartograph Philippe Buache noch angenommen hatte – der Theorie nach auf dem Reißbrett gefunden werden könne, sondern erst vor Ort beobachtet, vermessen und aufgenommen werden müsse.
Abb. 3: Bifurcation de l’Orénoque (1810) [Bildnachweis]
Indem die Karte der „Bifurcation de l’Orénoque“ auf das Wesentliche beschränkt die zentrale Aussage der baldigen Gabelung des Flusses nach der Quelle hervorhebt, führt sie Humboldts reduzierte Kartengestaltung exemplarisch vor: Einige wenige, grob und unspezifisch erfasste Berge motivieren die von der Höhe zum Meer hin verlaufende Fließrichtung der Gewässer, letztlich bleibt die präzise topographische Darstellung aber auf die Flussverläufe und deren Verbindungen fokussiert. Hierdurch unterscheidet sich die „Bifurcation de l’Orénoque“ eklatant von zeitgenössischen Kartenbildern, weil sie, so wie Humboldts Karten generell, eine andere quantitative Verwendung von Kartenzeichen aufweist. Durch die Reduktion des Gezeigten treten bei Humboldt auf der Darstellungsebene zwei Aspekte auseinander, die spätestens mit der Normierung des topographischen Kartenbildes um 1800 eng miteinander verkoppelt wurden: möglichst präzise flächendeckende geographische Landaufnahme und ihre entsprechende Repräsentation im Kartenbild. Dass Humboldt zwar zahlreiche topographische Informationen sammelte, diese aber nur selektiv ins Kartenbild überführte, zeigt deutlich, dass er mit seinen Karten nicht primär auf eine umfassende topographische Dokumentation abzielte, sondern sich von thematischen Interessen leiten ließ. Ihre jeweilige Ausrichtung wird anhand der spezifischen Selektion der Daten für die einzelnen Karten sinnfällig. Obwohl Humboldts Karten also auf den jüngst entwickelten präzisen Techniken geodätischer und barometrischer Landvermessung basierten, war ihr Ziel letztlich nicht die topographische Erschließung und die Orientierung des Menschen vor Ort, auf die topographische Landkarten derselben Zeit vielfach abzielten. Stattdessen überführte Humboldt die kartographische Repräsentation auf der Grundlage präziser Messungen in komplexe thematische Diskussionen über die Wechselwirkungen in der Natur. Weil Humboldt für die Gestaltung seiner Karten dennoch auf konventionelle Kartenzeichen zurückgriff, ist diese thematische Dimension jedoch bisweilen nur schwer zu erkennen. Insbesondere seine aus der Aufsicht aufgenommenen kartographischen Darstellungen mögen daher auf den ersten Blick wie unzureichend ausgeführte topographische Landkarten erscheinen.

Geologische Fragestellungen

Abb. 4: Bergketten und Vulcane von Inner-Asien (1830) [Bildnachweis]
In der Karte zu den „Bergketten und Vulcane[n] von Inner-Asien“28 stützt die graphische Reduktion eine Argumentation, die nicht nur nach dem geomorphologischen Erscheinungsbild und dessen gegenwärtigen Auswirkungen auf die Naturprozesse der Gegend fragt, sondern in Humboldts vertiefter Auseinandersetzung eine weitere Dimension eröffnet, die in der fortgeschrittenen Beschäftigung mit geographischen Fragen für ihn immer wichtiger wurde: jene des historischen Wissens über die Natur (Abb. 4). Eine erste Fassung der Karte publizierte Humboldt bereits kurz nach seiner Rückkehr von der Russlandreise zusammen mit dem Aufsatz „Ueber die Bergketten und Vulcane von Inner-Asien und über einen neuen vulcanischen Ausbruch in der Andes-Kette“ (1830). Zunächst beschränkte sich die darin geführte Diskussion auf eine möglichst genaue Lagebeschreibung von Bergketten und Flüssen Zentral-Asiens, die Humboldt, wie er angab, gegenüber vorherigen Karten deutlich hatte korrigieren können. Dreizehn Jahre später vertiefte er die aufgeworfenen Thesen in der Monographie Asie centrale, mit der eine überarbeitete Karte erschien. Ihr geographischer Radius ist entsprechend der breiter angelegten Überlegungen ausgeweitet, zudem ist das Blatt deutlich detaillierter ausgestaltet und die topographische Gestalt einzelner Elemente, darunter jene des Aralsees, genauer umrissen. Die Karte leistet nun nicht mehr nur eine aktuelle Gebietsbeschreibung. Indem sie partiell auch das frühere topographische Gefüge der Erdoberfläche mit aufnimmt, etwa indem sie den „Ancien lit d’Amou Deria [sic]“ mit Hilfe einer Punktlinie markiert, wird in ihr zugleich eine zeitliche Dimension ersichtlich. Diese historische Ebene der kartographischen Diskussion liefert den Schlüssel für eine Analyse über die geomorphologische Entwicklung der Gegend, die Humboldt in den Bänden der Asie centrale ausführlich erläuterte.29

Das Wissen historischer Karten

Abb. 5: Karte von Amerika aus dem Jahre 1500 entworfen von Juan de la Cosa
Humboldts Auseinandersetzung mit historischen Themenkomplexen der Geographie, wie sie seine Karte zu Zentral-Asien avisiert, steht in enger Beziehung zu umfassenden kartographiehistorischen Überlegungen, mit denen er sich spätestens ab Mitte 1830er Jahre intensiv befasste. Kurz zuvor war eine im Jahre 1500 vom Steuermann des Kolumbus, Juan de la Cosa, entworfene Portolankarte wiederaufgefunden worden, die als erste europäische Karte das amerikanische Festland zeigte. Humboldt selbst hatte sie als ebendiese identifiziert: „Man hatte sie für eine Portugiesische Weltkarte gehalten von ganz unbekanntem Alter, bis ich […] bei fleissigen Arbeiten in den Pariser Bibliotheken im Jahre 1832 die Worte entdeckte: Juan de la Cosa la fizo en el Puerto de Sta. Maria en año de 1500.“30 Die sich an den Fund anschließende Beschäftigung mit der Geschichte der (vor allem amerikanischen) Kartierung der Erdoberfläche breitete Humboldt im umfangreichen, dennoch unvollendeten Examen critique aus. Parallel zu dessen Entstehung ließ Humboldt verschiedene historische Karten, darunter jene de la Cosas, nachstechen, die eine frühe europäische Sicht auf die ‚Neue Welt‘ zeigten (Abb. 5). Mit ihnen erweiterte Humboldt den ‚generellen Reiseatlas‘31 zu seiner Voyage, den Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent.32 Knapp zwanzig Jahre später erschienen zwei der Nachstiche mit deutschen Kartentiteln versehen erneut in Humboldts Vorwort zu Friedrich Wilhelm Ghillanys Geschichte des Seefahrers Ritter Martin Behaim (1853). Historische Karten speicherten laut Humboldt das Raumwissen vergangener Epochen, dessen Rekonstruktion einen Zugang zur Ideengeschichte dieser Zeiten eröffnete. Zu den grundlegenden Methoden, mit denen sich Humboldt diesem kartenimmanenten historischen Kenntnisstand annäherte, gehörte die Analyse der kartographisch verzeichneten Orte sowohl hinsichtlich der Verlässlichkeit ihrer Nennung als auch ihrer aufeinander bezogenen Positionierungen.33 Dank der toponymischen Analyse ließ sich ein räumliches Gefüge entwerfen, mit dem sich das Wissen über den Raum sowohl synchron als auch diachron bestimmen ließ. Letztlich zielte Humboldt mit dieser kartenbasierten Geo-Archäologie auf die Beschreibung von geistes- und naturgeschichtlichen Entwicklungen in der Zeit. Wissen über den Raum verstand Humboldt als Grundlage für die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt, das die Reichweite und Schlagkraft von Entscheidungen des Menschen bestimmte und schließlich dessen Handlungsoptionen bedingte. Wurde neues Wissen über den Raum gewonnen, so hieß dies auch, dass dem Denken und Agieren neue Wege geebnet worden waren. Es war die ‚Entdeckung‘ Amerikas und die mit ihr verbundene Wiederentdeckung des Erdenrunds, an der Humboldt die maßgebliche Umwälzung der globalen Raumvorstellungen und mit ihr die Wende zu einer Erkenntnis des ineinandergreifenden Naturganzen festmachte, wie er sie anstrebte.34 Auf der Grundlage seiner kartographiehistorischen Untersuchungen erhoffte sich Humboldt nun, zeigen zu können, auf welche Weise die damalige Wissensanreicherung hatte erlangt werden können und welche Folgen sie wissens- und ideengeschichtlich gehabt hatte. Nicht zuletzt verstand er seine eigene Forschung als einen Effekt dieser Entwicklung – und erhoffte sich wohl auch, dass diese langzeitige Auswirkungen haben würde. Als einer der ersten Wissenschaftler hatte Humboldt wichtige Territorien Amerikas präzise aufgenommen, ihre Fläche und Höhe vermessen und wesentliche, weit über die Amerikas hinausreichende Erkenntnisse über die ‚Physik der Erde‘ gewonnen. Amerika diente Humboldt hierbei gewissermaßen als Prototyp, um seine wissenschaftlichen Schlüsse komprimiert vor Augen stellen zu können: Auf engem Raum schienen sich hier unterschiedlichste Klimate, Zeiten und Kulturen zu treffen. So begegneten sich in Amerika die vermeintlich höchsten Berge der Erde und hochkomplexe Flusssysteme, aber auch unterschiedliche ethnische Gruppen amerikanischer, afrikanischer und europäischer Herkunft. Humboldts wissenschaftliche Herangehensweise, mit der er die geographische ebenso wie die kulturelle Besonderheit des amerikanischen Kontinents betonte, wurde und wird vor Ort vielfach als klarer Kontrast zur vorherigen kolonialen Perspektive wahrgenommen. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts bediente sich die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung Humboldts als Identifikationsfigur, die einen vermeintlich unverstellten Blick auf die Amerikas warf. So bezog sich beispielsweise der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento in seinem 1845 erschienenen Facundo o civilización y barbarie, einem zentralen Werk der lateinamerikanischen Gründungsliteratur, an verschiedener Stelle auf Humboldt, um sowohl die Besonderheit der amerikanischen Kultur als auch die Notwendigkeit europäisch geprägter ‚Zivilisation‘ zu betonen, vor deren Hintergrund diese Einzigartigkeit sich erst zeigte. Noch heute vermag die Figur Humboldts in Iberoamerika identitätsstiftende Angebote für eine (kritische) (De-)Konstruktion des ‚Eigenen‘ zu liefern. So spielt etwa die mit Alexander von Humboldt assoziierte ‚neue‘ Sicht auf Süd- und Mittelamerika in César Airas Erzählung Un episodio en la vida del pintor viajero (2000) eine tragende Rolle. Auch im Kontext der Bildenden Kunst ist auffällig, dass Dauerausstellungen, darunter jene des Museu Nacional de Belas Artes in Rio de Janeiro oder des Museo Nacional de Bellas Artes in Buenos Aires, die chronologische Narration ihrer nationalen Kunstgeschichten mit den von Humboldt protegierten Reisemalern beginnen, die mit dessen vermeintlich ‚neuer‘ Perspektive auf die Eigenheiten der lateinamerikanischen Landschaft loszogen, um sie im Bild einzufangen.

Geopolitische Implikationen

Humboldts eigene Analysen geographischer Räume reichten jedoch nicht nur, wie beschrieben, in Gegenwart und Vergangenheit, sondern wiesen bisweilen auch dezidiert in die Zukunft. Dass die kartographische Repräsentation hierbei die Grundlage und nicht selten auch den Gradmesser für die praktische Belastbarkeit der Überlegungen darstellte, zeigt sich exemplarisch an der von Humboldt verhandelten Frage, ob und wo ein schiffbarer Kanal durch den mittelamerikanischen Isthmus, d. h. eine Verbindung zwischen dem Pazifik und dem Atlantik, angelegt werden könne.35 Über Jahrzehnte hinweg, von der frühen Auswertung der amerikanischen Reise bis in die 1850er Jahre hinein, setzte Humboldt sich mit dieser Problematik auseinander. Zunächst erwog er den Ausbau des Canal de Raspadura, der Ende des 18. Jahrhunderts zwischen zwei natürlichen, sehr eng beieinanderliegenden kolumbianischen Flusssystemen angelegt worden war.36 Mit neuen topographischen Informationen aus der Region, die Humboldt Mitte der 1820er Jahre erhielt, verschob sich seine Einschätzung der geographischen Situation jedoch deutlich.37 Die Flusssysteme erschienen nun unwegsamer als in vorherigen Karten, vor allem aber führte der Canal de Raspadura nicht beständig Wasser. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein diskutierte Humboldt verschiedene Vorschläge zu schiffbaren „Communications-Mitteln zwischen beiden Meeren“.38 Ihren Vorteil sah er nicht nur für den Handel und für die Erschließung von Rohstoffen, sondern auch für den kulturellen Austausch. Da die Kordilleren eine schwer zu überwindende natürliche Grenze darstellten, war eine solche Verbindung von um so größerer Bedeutung; die hohen Gipfelzüge behinderten den gewünschten materiellen und kulturellen Austausch zwischen Mittel- und Südamerika ebenso wie denjenigen zwischen Europa und der südamerikanischen Westküste. Humboldts Überlegungen bezogen sich somit nicht nur auf den von Europa ausgehenden Handel, sondern auf einen globalen Transfer. Die geopolitische Verwertbarkeit von Humboldts geographischen Kenntnissen wurde bereits von seinen Zeitgenossen erkannt und nachgefragt. Insbesondere seine metallurgischen Kenntnisse zogen verschiedentlich ökonomische Interessen auf sich und trugen beispielsweise dazu bei, dass er seine von Russland geförderte asiatische Reise überhaupt realisieren konnte. Wie weit Humboldts Einfluss auf globale geopolitische Prozesse zu reichen vermochte, zeigt der Umstand, dass er 1817 als Berater herangezogen wurden, um in der Folge der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress die Beurteilung des Grenzverlaufs zwischen französischem und portugiesischem bzw. brasilianischem Gebiet vorzunehmen. Hiermit waren letztlich ökonomische Fragen verbunden, die das Kräfteverhältnis der europäischen Staaten betrafen: Frankreich benötigte das Überseegebiet dringend, um weltweit Handel treiben zu können. Humboldt kam zu folgendem Schluss: „La France, restreinte dans son commerce colonial, doit désirer vivement de rentrer dans la possession d’une province que la nature a ornée de ses plus belles productions. Deux nations voisines ne manqueront pas d’espaces pour étendre leur industrie; et, lorsqu’on occupe une si vaste partie du globe que le roi de Portugal et du Brésil, on cédera facilement quelques lieues de terrain sur les bords incultes de l’Oyapock.“39 Den nationalen Kräfteausgleich betonend, stärkte Humboldt die französische Position; noch im selben Jahr zog Portugal seine Truppen aus dem vorher besetzten Gebiet nördlich von Brasilien ab. Aufgrund der geodätischen Präzision ebenso wie der bisweilen erstmaligen Landaufnahme, die Humboldts Karten leisteten, wurden diese aber auch genutzt, um militärische Absichten zu verfolgen. Kriegsstrategisch sind geographisches Wissen und militärischer Vorteil im Landgewinn seit jeher eng verknüpft, weshalb auch die spanische Krone geographisches Wissen der ‚Neuen Welt‘ zunächst streng geheim zu halten versuchte. Viele Teile des Binnenlandes wurden erst durch Humboldts Karten bekannt. Tatsächlich soll dieses Wissen in kriegerischen Auseinandersetzungen bisweilen zur entscheidenden Orientierung vor Ort beigetragen haben. So wird etwa vermutet, dass Simón Bolívar seine militärischen Aktionen im Zuge der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege im beginnenden 19. Jahrhundert auf der Grundlage der präzisen Karten Humboldts vorbereitet hätte.40 Auch der US-amerikanische Offizier Zebulon Montgomery Pike soll bei seiner Erkundung Louisianas vermutlich Kartenmaterial Humboldts mit sich geführt haben.41 Noch 150 Jahre nach seinem Aufenthalt in den Amerikas wurde Humboldt selbst unter Spionageverdacht gestellt: Er habe auf dem Rückweg seiner amerikanischen Reise wichtige Informationen an den US-amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson weitergegeben und damit dessen imperialistische Expansionspläne befördert, erklärt Juan Ortega y Medina in seiner Einführung zum Ensayo político sobre el reíno de la Nueva España (1966). Fortgesponnen werden Legenden, die sich um Humboldts Karten ranken, nicht zuletzt in populärkulturellen Auseinandersetzungen, wie z. B. in der Fernsehproduktion des Senders RTL „Das Geheimnis vom Silbersee“, einer Karl-May-Verfilmung in der Winnetou-Reihe (2016). Den Ausgangspunkt der Abenteuergeschichte bildet ein fiktives Tagebuch Humboldts, in dem dieser die Lage eines geheimen, einen Goldschatz der Apachen bergenden Sees festhielt. Durch eine solche Interpretation der geographischen Überlegungen des historischen Humboldt werden seine genaue Naturbeobachtung und seine Landeskenntnisse ebenso wie seine kartographische Pionierarbeit, mit der er geographischen Mythen – vom fiktiven Ort eines Eldorado bis zu Philippe Buaches spekulativer geographischer Theorie, bei der Buache auf der Grundlage vereinzelter Beobachtungen auf eine regelhaft ausgeprägte Oberflächenstruktur der gesamten Erde geschlossen hatte – entschieden begegnen wollte, ins Gegenteil verkehrt. Die populärkulturelle Auseinandersetzung schreibt Humboldt selbst in das Narrativ einer mythologisierenden Geographie ein, der er aktiv entgegenarbeitete und von der er dennoch erkannte: „Toutes les fables ont quelque fondement réel“, ‚allen Fabeln liegt ein Körnchen Wahrheit zugrunde‘.42

Bibliographie

Karten

  • „Bifurcation de l’Orénoque“, in: Note sur la communication qui existe entre l’Orénoque et la rivière des Amazones (1810) [= Abb. 3].
  • „Limite inférieure des Neiges perpétuelles à différentes Latitudes“, in: Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent, Tafel 1, Paris: F. Schoell 1814 (Auslieferung 1).
  • „Carte Itinéraire du Cours de l´Orénoque, de l’Atabapo, du Casiquiare, et du Rio Negro offrant la bifurcation de l’Orénoque et sa communication avec la Rivière des Amazones“, in: Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent, Tafel 16, Paris: F. Schoell 1817 (Auslieferung 2).
  • „Carte des lignes Isothermes“, in: Annales de Chimie et de Physique 5 (1817), nach S. 102 [= Abb. 1].
  • „Points culminants et hauteurs moyennes des chaines principales de l‘Europe, de l‘Amérique et d’Asie“, in: Annales des Sciences Naturelles – Atlas, T. 4–6 (1825), planche 15 o.S [= Abb. 2].
  • „Karte von Amerika aus dem Jahre 1500 entworfen von Juan de la Cosa“, in: Friedrich Wilhelm Ghillany, Geschichte des Seefahrers Ritter Martin Behaim, Nürnberg: Bauer und Raspe 1853 [= Abb. 5].
  • „Bergketten und Vulcane von Inner-Asien (Kesselförmige Senkung des Bodens im Westen). Erster Entwurf“ (1830) [= Abb. 4].
  • Chaines De Montagnes Et Volcans de L'Asie Centrale : selon les observations astronomiques et les mesures hypsomètriques les plus récentes”, in: Asie Centrale (1843).

Wissenschaftlicher Nachlass

  • Wissenschaftlicher Nachlass Alexander von Humboldts, Handschriftenabteilung der Biblioteka Jagiellońska, Krakau, Signatur: BJK, HA, Nachlass Alexander von Humboldt 8, 1. und 2. Teil, nicht foliiert.
  • Manuskript des „Essay de Pasigraphie“, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Humboldt-Nachlass, Signatur Großer Kasten 5, Nr. 88.
Seit kurzem liegt der Nachlass online vollständig digitalisiert vor unter: humboldt.staatsbibliothek-berlin.de (03.05.2021).

Forschungsliteratur

  • Francesca Azara, „Die Neu-Spanien-Karten von Alexander von Humboldt und Zebulon Montgomery Pike“, in: Cartographica Helvetica 47 (2013), S. 3–10.
  • Hanno Beck, Alexander von Humboldt und Mexiko. Beiträge zu einem geographischen Erlebnis, Bad Godesberg: Inter Nationes 1966.
  • Hanno Beck, „Alexander von Humboldts Beitrag zur Kartographie”, in: Wolfgang-Hagen Hein (Hrsg.), Alexander von Humboldt. Leben und Werk, Frankfurt/Main: Weisbecker 1985, S. 239–248.
  • Hanno Beck, „Alexander von Humboldt als größter Geograph der Neuzeit“, in: Herbert Kessler (Hrsg.), Die Dioskuren. Probleme in Leben und Werk der Brüder Humboldt, Mannheim: Humboldt-Gesellschaft 1986, S. 126–182.
  • Hanno Beck, „Alexander v. Humboldt. Kartograph der Neuen Welt“, in: Detlef Haberland (Hrsg.), Die Dioskuren. Annäherungen an Leben und Werk der Brüder Humboldt im Jahr der 200. Wiederkehr des Beginns der amerikanischen Forschungsreise Alexander von Humboldts, Mannheim: Humboldt-Gesellschaft 2000, S. 45–68.
  • Axel Borsdorf, „Alexander von Humboldts Amerikanische Reise und ihre Bedeutung für die Geographie“, in: Walther L. Bernecker und Ottmar Ette (Hrsg.), Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu Alexander von Humboldt, Frankfurt/Main: Vervuert 2001, S. 137–155.
  • Susan Faye Cannon, Science in Culture: The Early Victorian Period, New York, NY: Science History Publications 1978.
  • Gerhard Engelmann, „Alexander von Humboldts kartographische Leistung“, Sonderdruck aus: Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Geographischen Instituts der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Neue Folge 27/28, Leipzig: Bibliographisches Institut 1970.
  • Gerhard Engelmann, Heinrich Berghaus. Der Kartograph von Potsdam, Halle: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina 1977.
  • Anne Marie Claire Godlewska, „Von der Vision der Aufklärung zur modernen Wissenschaft? Humboldts visuelles Denken“,in: Walther L. Bernecker und Ottmar Ette (Hrsg.), Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu Alexander von Humboldt, Frankfurt/Main: Vervuert 2001, S. 157–194.
  • Oliver Lubrich, „Humboldts Bilder: Naturwissenschaft, Anthropologie, Kunst“, in: Alexander von Humboldt, Das graphische Gesamtwerk, hrsg. von Oliver Lubrich unter Mitarbeit von Sarah Bärtschi, Darmstadt: Lambert Schneider 2014, S. 7–28, hier: S. 24–26 („Karten“).
  • Juan Ortega y Medina, „Estudio Preliminar“, in: Alejandro de Humboldt, Ensayo político sobre el reino de la Nueva España, übersetzt von Vicente González Arnao, hrsg. von Juan A. Ortega y Medina, Mexico: Porrúa 1966, S. VII–LIII.
  • Ernst Neef, „Über das Weiterwirken der Ideen Alexander von Humboldts in der Geographie“, in: Georg Uschmann (Hrsg.), Alexander von Humboldt 1769–1859. Gedenkfeier der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina am 14. September 1969 in Halle, Leipzig: Bibliographisches Institut 1971, S. 17–29.
  • Ulrich Päßler, „Steppenlandschaft in Bewegung. Geomorphologische Kartographie bei Alexander von Engelmann Humboldt und Carl Zimmermann“, in: Ottmar Ette und Julian Drews (Hrsg.), Landschaften und Kartographien der Humboldt'schen Wissenschaft, Hildesheim: Olms 2017, S. 307–324.
  • Richard W. Slatta und Jane Lucas De Grummond, Simón Bolívar’s Quest for Glory, College Station, TX: A&M University Press 1998.
  • Robert Sherwood, The Cartography of Alexander von Humboldt. Images of the Enlightenment in America, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2008.
  • Herbert Wilhelmy, „Humboldts südamerikanische Reise und ihre Bedeutung für die Geographie“, in: Herbert Kessler (Hrsg.), Die Dioskuren. Probleme in Leben und Werk der Brüder Humboldt, Mannheim: Humboldt-Gesellschaft 1986, S. 183–198.
  • Lothar Zögner, „Alexander von Humboldt und die Kartografie“, in: Alexander von Humboldt: Netzwerke des Wissens, Katalog zur Ausstellung von Frank Holl, Berlin: Haus der Kulturen der Welt, S. 134.