Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 6

Erfindungen und Instrumente

Nach Humboldts Amerikareise musste sein Publikum zehn Jahre lang warten, bis der weithin berühmte Autor 1814 endlich eine chronologische Reisebeschreibung veröffentlichte – und dabei handelte es sich dann lediglich um den ersten Band der erst 1831 zum Abschluss gebrachten Relation historique, deren Bericht nur das erste Drittel des Reiseverlaufs abdeckte. Manche Leser, die diesen Band in der Erwartung auf einen spannend erzählten Reisebericht aufschlugen, mögen dann verblüfft innegehalten haben, als sie gleich im ersten Kapitel den Fließtext über den Fortgang der Expedition durch einen recht trockenen Einschub unterbrochen fanden: Liste des instrumens de physique et d’astronomie. Die folgenden mehr als drei Seiten geben ausführliche Beschreibungen von Geräten, viele mit den Namen ihrer Hersteller versehen: Chronometer, von Berthoud; Teleskop, von Dollond; Sextant, von Ramsden; magnetischer Neigungskompass, von Le Noir nach Bordas Prinzipien gebaut – und es folgen noch etwa 40 weitere, die insgesamt als die besten Messgeräte Europas aufgeführt werden.1 Humboldt stellt hier die breite Palette seiner Instrumente vor, und man ahnt, dass es sich gleichsam um Figuren handelt, die im weiteren Verlauf seiner Geschichte eine wesentliche Rolle spielen werden. Das reiche Spektrum der Schriften in der Berner Ausgabe erlaubt aber eine noch viel ausführlichere und differenziertere Darstellung von Humboldts Umgang mit Instrumenten in seinem Projekt einer „Vermessung der Welt“ entlang seiner biographischen Stationen, als sie sich aus der Relation historique ergibt. Kombiniert mit Fallstudien zu bestimmten Messverfahren, kann die Entwicklung von Humboldts Einsatz von Instrumenten unter einigen zentralen Fragestellungen nachvollzogen werden: Wozu benutzt Humboldt Instrumente? Welche Funktionen waren für seinen Einsatz von Instrumenten wichtig? Wie wurden seine Ergebnisse einerseits erfolgreich für nutzbringende, praktische Anwendungen eingesetzt? Und wie führten sie anderseits zu Fortschritten in der theoriegeleiteten Forschung?
Abb. 1: Einige der Instrumente, die Humboldt auf seiner Amerikareise mit sich führte (und in der Einleitung zur Relation historique vorstellte) [Bildnachweis]
Zu Beginn seiner Karriere waren es Humboldts Erfahrungen als Bergbaubeamter, die ihn dazu motivierten, verschiedene Gase in den ihm anvertrauten Minen zu analysieren und Schutzgeräte gegen deren schädliche Wirkungen zu erfinden. Während der Amerikareise bestimmten dann vier übergeordnete Projekte seinen Einsatz von Messinstrumenten: Erstens waren dies seine Bemühungen, die Bestandteile der Luft unter verschiedenen Bedingungen mit Eudiometern zu bestimmen, wobei diese Versuche zum Teil spekulativen Charakter trugen und sich als wenig ergiebig erwiesen. Der zweite Komplex seiner Untersuchungen umfasste eher traditionell angelegte Temperatur- und Höhenmessungen, die aber durch ihre hohe Systematik und enorme Quantität eine innovative, bahnbrechende Theoriebildung ermöglichten. Insbesondere die vertikale Einteilung der Klimazonen und neue Methoden der Datenvisualisierung wie zum Beispiel die kartographische Darstellung globaler Temperaturen durch Isothermenlinien haben sich als wichtige Anstöße für das ökologische Denken erwiesen. Drittens ist Humboldts ständiges Bemühen um präzise Standortbestimmungen zu nennen. An den ungezählten Messungen, die er zu diesem Zweck vornahm, lässt sich sowohl der konkrete Umgang mit den Instrumenten als auch die Praxis der Aufzeichnung und späteren Auswertung von Ergebnissen nachvollziehen. Das vierte übergeordnete Projekt, das ständige instrumentelle Messungen erforderte, bestand in der Erforschung des Erdmagnetismus, die Humboldt auch noch Jahrzehnte nach der Amerikareise beschäftigte. Hier flossen zwar auch spekulative Elemente mit ein, jedoch regte gerade dieses Forschungsprojekt in besonderem Maße Humboldts große Initiativen zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen Forschern (hier besonders Carl Friedrich Gauß), zur Organisation wissenschaftlicher Institute und zum Aufbau eines globalen Netzes von Messstationen an, die zu den Errungenschaften der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts gehören.

Bergbau und Sicherheitstechnik

Humboldts Wissen über Instrumente entwickelte sich zunächst aus seinem breiten Interesse für Technik und Erfindungen in den 1790er Jahren während seines Studiums und seiner Arbeit für das preußische Bergdepartement. In Göttingen besuchte er Vorlesungen von Johann Beckmann,2 der „Technologie“ als das universitäre Fach begründete, das als Teil der „Cameralwissenschaft“ zur Vorbereitung auf den Staatsdienst unterrichtet wurde. In seiner einflussreichen Anleitung zur Technologie (1777) hebt Beckmann das Reisen als Schlüsselaktivität für den Wissenserwerb hervor. Er gibt Instruktionen an Reisende, wobei er die kulturellen Ziele des Reisens mit mildem Spott behandelt, an Effizienz und Nützlichkeit orientierte Zielsetzungen dagegen ausdrücklich würdigt. Außerdem kommt in Beckmanns Schrift ein ausgeprägter Nationalstolz auf den technologischen Fortschritt in Deutschland zum Ausdruck.3 Humboldt schrieb eine Rezension über die Beschreibung einer Spinnmaschine für Beckmanns Journal4 und besuchte ihn 1805 nach seiner Amerikareise.5 Nach seiner Studienzeit an der Bergakademie in Freiberg (Sachsen) war Humboldt fast fünf Jahre lang, bis Ende 1796, für den preußischen Staat in der Bergwerksverwaltung tätig. Während dieser Zeit arbeitete er mit etlichen Personen zusammen, die neue Techniken in Deutschland einführten. Er hatte direkten Kontakt zu hochrangigen Beamten wie zu Karl vom und zum Stein, der für seinen gescheiterten Versuch der Industriespionage bei einem Besuch der Dampfmaschinen-Produktionsstätten in England bekannt war, und zu Friedrich von Reden, der eine Dampfmaschine aus England importierte und in Oberschlesien in Betrieb setzte. Während dieser Zeit reiste Humboldt auch durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien, um sich mit Bergbauverwaltung und -technologie vertraut zu machen, wobei er einige der innovativsten Anwendungen der Technologie im Europa seiner Zeit kennenlernte. Humboldt führte zu dieser Zeit auch Laborexperimente zur Chemie der Gase durch und beschäftigte sich mit den Gefahren und Ursachen von „matten Wettern“ und schlechter Belüftung in Bergwerken. Neben der Verwendung von Instrumenten zur Messung von Gasen motivierte ihn die Verbesserung der Sicherheit für die Arbeiter: „Mein eifrigster Wunsch war daher nicht, die Mischung der matten oder bösen Grubenwetter zu kennen, sondern Mittel zu erfinden, durch welche der Nachtheil für das Leben der Menschen, und den Betrieb der Gruben gemindert würde; es kränkte mich oft, wenn ich bedachte, wie riesenmäßig die Fortschritte sind, welche Physik und Chemie in neuern Zeiten gemacht, und wie gering der Einfluß dieser Fortschritte auf die bürgerlichen Gewerbe gewesen sind.“6 Dies führte ihn dazu, eine verbesserte Grubenlampe, – „Lebensluftlampe“ genannt – und eine Atemmaske zu erfinden, die für Notfälle beim Auftreten giftiger Gase mit einem tragbaren Luft-Tank ausgerüstet war. Als nachgedruckten Brief in einer Fachzeitschrift veröffentlichte Humboldt sowohl eine lebhafte Beschreibung der Unfälle, die mit Hilfe dieser Erfindungen verhindert werden konnten, als auch seine Berechnungen und Versuche, die er bei der Entwicklung dieser Geräte unternommen hatte, – eine wichtige Dokumentation seines Einsatzes für „die Erhaltung menschlicher Gesundheit und das Wohl des Bergbaus“7 im Sinne der neueren technologischen Kameralistik dieser Zeit. Nach Abschluss seiner Tätigkeit als preußischer Bergbeamter beginnt für Humboldt eine intensive Zeit der Vorbereitung auf seine Überseereise, wobei er den ehrgeizigen Plan entwirft, eine Sammlung von Messinstrumenten mitzunehmen, um Daten von Naturerscheinungen zu sammeln. Von 1797 bis zum Beginn seiner Amerikareise im Jahr 1799, während dieser Reise bis zu seiner Rückkehr nach Europa 1804 und noch während weiterer Reisen in Europa bis mindestens 1807 beschäftigt er sich ein Jahrzehnt lang fast täglich mit Messinstrumenten, dem Sammeln von Daten und dem Auswerten von Ergebnissen. Spätestens seit Hanno Beck 1959 in seiner Biographie betonte, dass „Humboldt in idealer Weise die Gestalt des Forschungsreisenden“8 verkörperte, entstanden eine Reihe von Studien, die dokumentieren, inwiefern Humboldts Instrumente zur Verwirklichung seiner Forschungsziele beigetragen haben. Zwei aktuelle Arbeiten seien hier hervorgehoben. Bei Friedrich L. Brand9 stehen das sorgfältige Aufspüren und Auflisten aller Instrumente, die Humboldt besessen und benutzt hat, sowie eine historische Einordnung von deren technischem Entwicklungsstand und Informationen zu den Instrumentenmechanikern im Vordergrund. Bei Werner Richter und Manfred Engshuber10 werden Humboldts wissenschaftliche Ziele und Experimente nach heutigem Wissensstand analysiert, um festzustellen, inwiefern seine Instrumente für diese Problemkomplexe geeignet waren und ob sie die erforderliche Präzision aufwiesen, um schlüssige Werte liefern zu können.

Experimente zur Zusammensetzung der Luft

Wenn man der Frage nachgeht, welche Rolle die gewonnenen Messdaten für Humboldts Entdeckungen und Theoriebildung spielten, so erhält man Hinweise aus einer beeindruckenden Darstellung, die zeigt, wie er seine Messungen einordnete. Es handelt sich um die Auflistung der Datenkategorien in den sechzehn Spalten auf beiden Seiten des Chimborazo-Bildes auf dem „Tableau physique des Andes et Pays voisins“ (1805). Die in sehr kleinem Schriftgrad gedruckten Spalten sind oft unbeachtet geblieben, ihre Bedeutung wird aber schon im Titel der deutschen Fassung herausgestellt: „Naturgemälde der Anden, gegründet auf Beobachtungen und Messungen“ (1807).
Abb. 2: „Naturgemälde der Anden, gegründet auf Beobachtungen und Messungen“ (1807) [Bildnachweis]
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 3 und 4: Ausschnitte aus dem „Naturgemälde der Anden“ (1807) [Bildnachweis]
Mit der Spalte „Chemische Natur des Luftkreises“ setzt Humboldt seine Untersuchungen der Luftqualität in Bergwerken mit ambitionierten Zielen fort, nachdem er schon seit Jahren Erfahrungen mit dem Eudiometer gesammelt hatte. Anhand chemischer oder elektrischer Reaktionen kann ein Eudiometer den Anteil eines Gases am Gasgemisch einer Probe messen. Typische Ergebnisse bezogen sich zum Beispiel auf den Anteil des Sauerstoffs in der Umgebungsluft. Mit vollem Einsatz sammelt und vergleicht Humboldt „Seeluft“ mit „Landluft“ oder die Luft im Krater von Vulkanen mit der Luft auf deren Gipfeln, wie hier auf dem knapp 4800 Meter hohen Vulkan Pichincha: „j’ai recueilli de l’air pour en faire l’analyse“.11 Er untersucht die Bestandteile der „respiration des poissons“ und der Atmung der Krokodile: „Nous avons eu quarante à cinquante jeunes crocodiles, sur la respiration desquels j’ai fait des expériences très-curieuses. […] J'ai fait ces experiences avec des crocodiles de 7 a 8 pouces de long. Malgré cette petitesse, ils sont capables de couper le doigt (avec leurs dents) […]“12 Das mühsame Sammeln von Luftproben und die großen Schwierigkeiten bei den chemischen und elektrischen Versuchen während der Amerikareise haben bei Humboldt offensichtlich das Bedürfnis entstehen lassen, im Nachhinein noch mit genauer kontrollierten Experimenten Fehler in seinen Messergebnissen zu beseitigen. Kurz nach seiner Ankunft 1804 in Paris wird die gemeinsame Wohnung, die Humboldt sich mit Gay-Lussac teilt, zu einem Eudiometrielabor. Nach intensiver Zusammenarbeit können sie in ihrem kurz darauf folgenden Bericht13 für das Institut National einerseits zum ersten Mal beweisen, dass Wasser genau aus einem Verhältnis von zwei Teilen Wasserstoff zu einem Teil Sauerstoff besteht, wobei sie bereits zeigen können, dass dies durch die molekulare Struktur bedingt ist. Andererseits blieben aber die aufwändig gesammelten Luftproben von den Gipfeln der Anden bis hin zur Umgebungsluft auf der Seine ebenso wie Luft vor und nach einer Vorstellung in der Pariser Oper ohne interessante Ergebnisse. Die entsprechende Spalte auf dem „Tableau“ informiert deshalb auch nur recht kurz über die „Chemie des Luftkreises“: „Die Sauerstoffmenge scheint in der obern Luftregion eben so groß als in der Ebene zu seyn“. Auch konnte das damalige Eudiometer nicht, wie erhofft, Funktionen der Krankheitsprophylaxe übernehmen und „les maladies qui sont particulières aux lacs et aux marais, ou à certains pays. Dans quelques circonstances elles seront produites par des émanations qui échappent à tous nos moyens eudiométriques, et qui agissent d’une manière particulière sur notre corps.“14 Die Fehlerraten bei den Untersuchungen waren sehr groß, und letztlich stellte sich schon damals heraus, dass brauchbare Ergebnisse von sehr feinen Werten, wie Humboldt sie bei seinen Kohlenstoffdioxid-Messungen erhalten hatte, nicht zu erwarten waren.15 Nach so vielen Jahren des Sammelns und Auswertens auf der Suche nach unmittelbar verwendbaren Resultaten und der Enttäuschung darüber, dass die gesammelten Luftproben vielleicht nicht sehr unterschiedlich und aussagekräftig waren, erkannte Humboldt aber mit einem tiefgehenden Blick die historische Signifikanz dieser Arbeit: „Wenn Physiker und Chemiker jetzt auch über die Qualität der Bestandtheile der Atmosphäre einstimmig sind, so sind sie es doch noch nicht über ihre Quantität. […] Zwar für die meisten chemischen Erscheinungen wäre die strengste Kenntniß der absoluten Menge ihrer Bestandtheile nicht nöthig, indessen ist doch diese Kenntniß eben so interessant an sich selbst, als wichtig für die Geschichte der Erde. Wenn alle geologische Thatsachen darin zusammen kommen, daß die Erde nicht mehr sey, was sie ehedem war, daß die Gewässer sehr hohe Gebirge überströmten, und daß der Norden Thiere ernährte, die jetzt nur noch den Tropen eigen sind: so zeigen eben diese Veränderungen, wie nützlich es für die künftigen Jahrhunderte seyn würde, den heutigen Zustand der Erde genau zu bestimmen; und sollten auch die großen Catastrophen, die sie erlitt, nicht wieder eintreten, so könnte sie langsame Modificationen erleiden, unmerkbar dem Menschen, fände er nicht unbestreitbare Beweise davon in den Annalen der Wissenschaft. Es wäre demnach von der höchsten Wichtigkeit, alle große Naturerscheinungen, die man als veränderlich annehmen könnte, unzweifelbar festzusetzen, z. B. die Intensität der magnetischen Kräfte, die Höhe des Barometers auf der Meeresfläche, die des Meeres selbst, die mittle Temperatur eines jeden Clima[s], und das Verhältniß der Bestandtheile der Atmosphäre.“16 Als ein Pionier der Eudiometrie hat Humboldt intensiv die „Bestandtheile der Atmosphäre“ untersucht, darunter auch Spurengase wie Kohlenstoffdioxid, wohlwissend, dass es ein Produkt von Tierrespiration, pflanzlichem Stoffaustausch und Verbrennungsprozessen ist. Seine Amerikareise hatte auch Beweise für das damals neue Konzept der ‚Tiefenzeit‘ geliefert, demzufolge die Geologie und die Lebensformen entscheidenden Veränderungen über lange Erdepochen hinweg unterworfen sind. Obwohl er enttäuscht war, dass aktuelle Anwendungen seiner Messungen in vielen Fällen nicht möglich waren, erkannte Humboldt bereits 1805 die Bedeutung langfristiger Veränderungen des Klimas, die Wechselwirkungen von Lebensweisen und Umwelt sowie die Aufgabe der Wissenschaft, physikalische und chemische Grundlagen für die Bearbeitung dieser großen Forschungsfragen zu schaffen.

Die Messung des „Luftkreises“

Zusätzlich zu dem Bemühen, durch die chemische Analyse von Luftproben nützliche Resultate für Wissenschaft und Gesundheitswesen zu erhalten, sammelte Humboldt sorgfältig meteorologische Standardwerte des „Luftkreises“, wie er die untere Erdatmosphäre in seinen Schriften nennt. Es ist sinnvoll, diese Messungen von Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck zusammen zu betrachten, um Humboldts Zielsetzung, die von ihm benutzten Instrumente sowie seine kreativen Kombinationen und Visualisierungen dieser Messergebnisse zu untersuchen, deren Ergebnisse zum Naturverständnis und zu theoretischen Fortschritten beitragen sollten. Im „Tableau physique“ zum Beispiel werden die Messungen in den Spalten „Luftwärme nach Höhe der Schichten“, „Abnahme der Feuchtigkeit“ und „Druck der Luft in Barometerhöhen“ mit dem Ziel verglichen, die atmosphärischen Bedingungen verschiedener Höhenlagen und deren Auswirkungen auf die jeweilige Flora zu erklären. Im Unterschied etwa zu Entfernungs- oder Volumenmessungen waren Temperaturen vor der Erfindung eines zusammengesetzten, komplexen Messinstruments nicht quantifizierbar. Erst mit der Einführung einer geeigneten Flüssigkeit wie Quecksilber, mit wachsender Erfahrung in der Glasröhrenherstellung und in der Kalibrierung wurden Technik und Anwendung des Thermometers hinreichend unkompliziert und waren nur noch erschwert durch die Verwendung der unterschiedlichen Skalen Fahrenheit (1714), Réaumur (1730) und der neuerlich eingeführten hundertteiligen Skala (1742, 1948 nach Celsius benannt).17 Humboldt war nicht nur an einer möglichst großen Anzahl präziser Messungen in wenig erforschten Gebieten bemüht, er zeigte auch großes Interesse an der Beschaffenheit der gemessenen Zustände und Materialien im Zusammenhang mit deren natürlicher Umgebung. Aus Messungen der Umgebungsluft ergeben sich jeweils wissenschaftliche Fragestellungen, wenn sie zum Beispiel in Gruben „in einer Tiefe von 340 Toisen“18 durchgeführt werden, in „den hohen Luftschichten“ auf Bergspitzen, am „Meeresufer“, an der „Oberfläche des Oceans“ oder auch an einem „Strom kalter Gewässer, […] welcher an der Küste von Chili und Peru hinfließt“,19 heute bekannt als der Humboldtstrom. Eine Aufstellung von Temperaturwerten zur Erklärung der Durchschnittstemperaturen verschiedener Regionen und des Temperaturabfalls mit zunehmender Höhe erschien 1806,20 aber Humboldts bedeutendste Innovation in dieser Hinsicht stellt seine globale Datensynthese mit der Einführung isothermer Linien dar, die 1817 unter dem Titel „Des lignes isothermes et de la distribution de la chaleur sur le globe“ erschien.21 Seine Messungen der Luftfeuchtigkeit unternahm Humboldt mit den damals typischen Hygrometern, in denen feuchtigkeitsempfindliche Stoffe wie Menschenhaar, Elfen- oder Fischbein einen Zeiger bewegten.22 Später, während seiner Russlandreise im Jahr 1829, freut sich Humboldt über „[d]ie große Einfachheit und die Genauigkeit des psychrometrischen Apparats“,23 eines damals neu entwickelten Gerätes, das den Taupunkt bestimmt und dessen grundlegende Verfahren bis heute angewendet werden. Abgesehen von der üblichen Beschreibung meteorologischer Zustände wie der Luftfeuchtigkeit beschäftigte sich Humboldt auch mit deren Auswirkung auf die Pflanzen, zum Beispiel wenn die „mittlere Feuchtigkeit“ in größeren Höhen abnimmt. Diesbezügliche Messungen berücksichtigte er auch bei seinen Kalkulationen und Spekulationen über die Lichtbrechung in der Erdatmosphäre: „die Hygrometrie spielt dabey eine große Rolle, und ich glaube, daß die große Feuchtigkeit dieses Erdstriches die Strahlenbrechung vermindere.“24 Von den gebräuchlichen meteorologischen Instrumenten war das Barometer das wichtigste Messgerät für Humboldts Forschungen. Kurz nach seiner Ankunft in Südamerika hatte er sogar eine neue Entdeckung gemacht: „Eine andere sehr merkwürdige und wunderbare Erscheinung, welche ich gleich den zweyten Tag nach meiner Ankunft beobachtet habe, sind die atmosphärischen Ebben und Fluthen. […] Der Barometer ist in immerwährender Bewegung. Das Quecksilber sinkt von 9 Uhr des Morgens bis 4 Uhr Nachmittags“.25 Die Erforschung der tatsächlichen Gründe dieser Erscheinung und ihres genauen Zusammenspiels dauerte bis ins 20. Jahrhundert an. Insgesamt galt Humboldts Interesse aber weniger den damals schon verbreiteten Beobachtungen von Luftdruckveränderungen auf ein und derselben Höhenlage, die zusammen mit großräumiger kartographischer Erfassung im späteren 19. Jahrhundert ein Standardwerkzeug für die Wettervorhersage wurden. Vielmehr bestand der Hauptzweck von Humboldts Barometer – einem empfindlichen Glasrohr von fast einem Meter Länge, das in einem Gehäuse aus Glas und Holz lagerte und häufig separat von einem besonders zuverlässigen Träger transportiert wurde – darin, schnelle und ortsveränderliche Messungen zur Bestimmung der Höhenlage zu ermöglichen. Das Prinzip war einfach, auch wenn die Berücksichtigung von Temperaturschwankungen und andere Korrekturanpassungen die endgültigen Messergebnisse von komplizierten Berechnungen abhängig machten:26 Auf Höhe des Meeresspiegels sind das Volumen und damit auch das Gewicht der darüber befindlichen Luftsäule größer als in höheren Lagen, wo das Barometer folglich geringere Druckwerte anzeigt.
Abb. 5: Das empfindliche Barometer und der speziell dafür verantwortliche Träger. Screenshot aus Rainer Simon, Die Besteigung des Chimborazo (DDR/BRD 1989) [Bildnachweis]
Vor Humboldt hat kein anderer Naturforscher eine solche Vielfalt von Topographien bereist und so viele Pflanzen und andere Proben mit dem Ziel gesammelt, jeder von ihnen ihre spezifischen Orts- und Höhenangaben zuzuweisen (heute: Geotagging). Während er fast täglich die Ergebnisse barometrischer Höhenmessungen sammelte, ergaben sich komplexe Querverbindungen zu anderen instrumentellen Messungen, die er in den Spalten des „Tableau physique“ darstellte. Humboldts weithin bekannte Theorie der Zonierung von Klima und Pflanzenökologie nach der Höhenlage und der Temperatur basiert auf exakten Messungen mit dem Barometer. Die Spalten über „Cultur des Bodens“ und über „Thiere geordnet nach der Höhe ihres Wohnorts“ zeigen weitere naheliegende Einflüsse der Höhenlage auf die Umwelt. So wie barometrische Messungen es Humboldt ermöglichten, Theorien über ökologische Zonen nach der Höhe zu entwickeln, war er auch in anderer Hinsicht bemüht, gesammelte Daten für eine übergeordnete Theoriebildung zu nutzen. Mit seinem Interesse für die „Horizontale Strahlenbrechung“ oder einer Krümmung des Lichtstrahls, die in der ersten Spalte des „Tableau physique“ aufgeführt ist, stieß Humboldt auf ähnlich große Schwierigkeiten wie mit der Chemie des Luftkreises. Humboldt war zuerst ganz hoffnungsvoll über die Theorie der Strahlenbrechung – „Le géomètre n’aura donc à considérer dans la Théorie des Réfractions, que le baromètre, le thermomètre et l’hygromètre.“27 –, auch die verwandte Luftspiegelung erklären zu können: „Im trügerischen Lichtspiele, daß die strahlende Wärme erregt, sieht man bald den Fuß dieser Palmen frei in der Luft schweben, bald ihr umgekehrtes Bild in den wogenartig zitternden Luftschichten wiederholt.“28 Nach einer Fülle von Spekulationen kommt er aber zu dem Schluss: „Je me flatte que retournant un jour dans la zône torride, et muni d’instrumens plus parfaits, je pourrai, avec quelques succès, étudier les petites modifications qu’éprouve l’inflexion du rayon lumineux dans son passage par l’air atmosphérique.“29 Aus heutiger Sicht sind Humboldts Schwierigkeiten leicht erklärbar: Eine genaue Berechnung der atmosphärischen oder auch der astronomischen Refraktion wird durch viele Elemente beeinflusst, deren physikalische Eigenschaften zu seiner Zeit noch nicht genau bekannt waren. Zur Kategorie der spekulativ gesammelten Messdaten, die in Humboldts Forschungsprogramm weniger Anwendung fanden, gehören die Spalten für „Electrische Erscheinungen“ und „Luftbläue in Graden des Kyanometers“.30 Nach Friedrich L. Brand hatte Humboldt zwei Arten von Elekrometern, mit denen er elektrische Spannung in der Luft messen konnte, worüber sich aber in seinen Schriften nur vage Aussagen finden. Fast poetisch wirken andererseits die Farbenmessungen des Himmels mit dem Cyanometer, das aus einer einfachen Bündelung von blau gefärbten Streifen mit genau abgestuften Schattierungen bestand, die in einem Kreis ausgefächert wurden, um die Himmelfarbe zu quantifizieren. Obwohl Humboldt damit häufig Daten sammelte, ist es heute nur ein Kuriosum seiner Zeit, und er selbst machte fast nur sehr allgemeine Aussagen wie in den „Beobachtungen über das Gesetz der Wärmeabnahme“: „Andere Beweise könnte man von den cyanometrischen Erscheinungen hernehmen. Die Schwärze der Himmelsbläue, welche auf der hohen Andeskette 46° beträgt, während ich sie an den Ufern der Südsee kaum 24° schätzte, zeugt für die ungehinderte Leichtigkeit, mit der die Sonnenstrahlen durch die obern Luftregionen hindurch gehen.“31 In spöttischen Versen bringt der englische Dichter Lord Byron im vierten Canto seines Don Juan (1821) das Cyanometer im Salon zum Einsatz, indem er es für die Vermessung einer im Kreis der „Blaustrümpfe“ (bluestockings) bekannten Dame verwendet: Humboldt […] Invented, by some name I have forgot, As well as the sublime discovery’s date, An airy instrument, with which he sought To ascertain the atmospheric state, By measuring “the intensity of blue:” Oh, Lady Daphne! let me measure you! 32
Abb. 6: Vermessung der Himmelsbläue mit einem Cyanometer. Screenshot aus Rainer Simon, Die Besteigung des Chimborazo (DDR/BRD 1989) [Bildnachweis]
Die Beispiele der Luftanalysen und Höhenmessungen zeigen, wie Humboldts Programm zum Einsatz von Instrumenten mit einem praktischen Zweck begann (Luft/Gesundheit und Höhenunterschiede/Pflanzenkunde sowie Verbesserungen der Landwirtschaft), sich dann aber zu einer komplexen Theoriebildung weiterentwickelte, obwohl dabei einige Forschungsfragen, wie bei seinen Luftuntersuchungen, ungelöst blieben.

Ortsbestimmung

Die Ortsbestimmung ist bei weitem die häufigste Funktion für die Benutzung von Instrumenten, die in Humboldts Reiseaufzeichnungen vorkommt.33 Diese Aktivität hatte natürlich eine wissenschaftliche Bedeutung für die fortlaufende Sammlung von Proben und Beobachtungen; aber Humboldt betonte auch häufig ihre praktische Dimension zur Verbesserung der Kartographie, der Navigationssicherheit und des allgemeinen Nutzens für die Öffentlichkeit. Außerdem scheint Humboldt die komplexen Herausforderungen, die das Handwerk der Ortsbestimmung mit sich bringt, schlicht zu genießen, da er dieser Tätigkeit unzählige Stunden seiner Arbeit widmete. Die Technik der Ortsbestimmung machte sprunghafte Fortschritte gegen Ende des 18. Jahrhunderts, mit besser kalibrierten Instrumenten und einer exakteren mathematischen Auswertung von Messdaten. Humboldt erwähnt zwei Methoden, die er und Bonpland auf der Reise im Orinokogebiet (und anderswo) verwendeten – während „une navigation pénible de près de 500 lieues nautiques, exécutée dans des canots, et levant la carte du pays à l’aide des montres de longitude, des satellites et distances lunaires.“34 Die erste hier erwähnte Methode („Längen-Uhren“) war die berühmte Neuentwicklung transportabler präziser Chronometer, mit deren Hilfe die Differenz der Erdrotation zeitlich bestimmt und somit die Längenentfernung von einem bekannten Ort berechnet werden kann. Die Festlegung der Breitengrade erfolgte seit der Antike durch Winkelmessung der Sonne oder der Sterne über dem Horizont: „Die Breite von Cumana habe ich durch viele Sonnen-Beobachtungen und durch die beyden Sterne β und γ im Drachen mit dem Bird’schen Quadranten und Ramsden’schen Spiegel-Sextanten bestimmt“.35 So konnte durch sorgfältige Beobachtungen relativ schnell ein genauer geographischer Standort ermittelt werden. Die zweite Methode („Trabanten-, Stern- und Mondsentfernungen“) basierte ebenfalls auf Unterschieden in der Zeitmessung, stützte sich jedoch auf eine weitaus kompliziertere Methode, um astronomische Ereignisse zu berücksichtigen. Sie gelang am besten mit einem guten Fernrohr, wie zum Beispiel einem aus der Dollond-Werkstatt in London, um dann die Zeitangaben mit den kalkulierten Zeiten in Europa zu vergleichen. Hier beschreibt Humboldt eine typische Vermessung aus Cumaná: „Den 7 Novbr. habe ich eine gute Beobachtung einer Verfinsterung des II Jupiters-Trabanten gehabt. Ich sah den Eintritt mit dem 95mahl vergrößerenden Dollond um 11 U 41′ 18,″5 wahre Zeit“.36 Diese Messungen setzten eine kalendarische Auflistung dieser astronomischen Ereignisse voraus, vor allem günstige Wetterbedingungen zum genauen Zeitpunkt der geplanten Sichtung und die vergleichende Konsultation von Standardwerken mit Tabellen der Zeitkalkulationen in anderen Weltteilen.37 Ein drittes und sehr oft von Humboldt verwendetes Verfahren der Höhen- und Entfernungsvermessung beruhte auf Triangulationsmethoden, wie sie mit optischen Instrumenten zur Landvermessung ausgeführt werden. Nach Festlegung der Länge einer Seite eines Dreiecks können nach Messung zweier Winkel die anderen Seiten festgelegt werden. Dafür führte Humboldt über ein Dutzend Theodoliten und Sextanten mit sich: kleinere Instrumente, die leicht zu tragen waren, und auch präzisere Versionen, deren Aufbau aufwändiger war.38 In Humboldts Reisemanuskripten entdeckt man auf Hunderten von Seiten die geometrischen Spuren dieser Arbeit. Dort sind kleine Dreiecke und Winkellinien zur Hilfe der Kalkulation der Messwerte von Flussbreiten, Berghöhen, Sternhöhen und der Kraterdurchmesser von Vulkanen eingezeichnet.39
Abb. 7: Vermessung des Chimborazogipfels mit einem Theodolit. Screenshot aus Rainer Simon, Die Besteigung des Chimborazo (DDR/BRD 1989) [Bildnachweis]
Abb. 8: Triangulationsmessungen in Humboldts Amerikanischen Reisetagebüchern [Bildnachweis]
Humboldts Tagebuchaufzeichnungen über die Triangulation des Chimborazogipfels und die Diskussion dieser Kalkulationen in der Einleitung des Recueil d’observations astronomiques verdeutlichen die Schritte der Übernahme von Feldnotizen in publizierte Werke. Im Manuskript sind Lageskizzen, das Ablesen der Instrumente und Arbeitsgänge festgehalten, die fast zehn Jahre später in Druckform aufgenommen werden: „l’angle oblique“ für die beiden Winkelmessungen sowie „1702,5“ Meter Länge der Basis AB des Dreieckes und weiter unten ein „mesuré de seconde fois“ sind deutlich zu sehen. In Europa wird durch die „résolution du triangle“ „la distance de la cime de Chimborazo“ berechnet und eine Korrektur aufgrund des „[e]ffet de la réfraction terrestre“ berücksichtigt.40 Neben lokalen Details und wissenschaftlichen Berechnungen waren für Humboldt immer historische Befunde wichtig. Ein Unterschied von ungefähr 200 Metern (100 Toisen) mit den Triangulationmessungen von „la Condamine et Don Jorge Juan“ von der Expedition zur Breitengradmessung (1735–1745) galt es noch zu erklären. Es wurde zuerst kalkuliert, wie groß der Fehlerbereich bei Länge- oder Winkelmessungen sein müsste, um einen Unterschied von 100 Toisen zu ergeben: „[p]our expliquer une différence de 100 toises de hauteur“.41 Zur Unwahrscheinlichkeit, dass er solche groben Fehler hätte begehen können, lässt Humboldt bescheiden wissen, dass er „aucune cause d’erreur dans ma mesure du Chimborazo“ entdecken könne. Die Chimborazo-Vermessung gibt somit Einblicke in die tägliche Praxis von Humboldts Instrumenten-Gebrauch. Das Ablesen der Werte wird durch beste Berechnungsmethoden und Vergleiche mit Ergebnissen anderer Wissenschaftler erweitert, und eine Festlegung der möglichen Größe der Fehlerwahrscheinlichkeit dient zur abschließenden Verifizierung. Die nahezu obsessive Wichtigkeit, die Humboldt Instrumentenmessungen beimaß, wird auch in der Chronologie seiner Buchveröffentlichungen sichtbar. Eine frühe Publikation nach seinen Reisen in Amerika bestand aus zwei Bänden, die hauptsächlich Längen- und Breitengrade von Humboldts Reisestationen enthielten. Ein Teil ihres Titels allein genügt, um ihre enge utilitaristische Zielsetzung deutlich zu machen: d’observations astronomiques, d’opérations trigonométriques, et de mesures barométriques […] importans pour les navigateurs et pour les géographes.42 Von 1805 an versuchte Humboldt sogar wiederholt, seinen Verleger Johann Friedrich Cotta zu einer deutschen Ausgabe zu überreden.43 Cotta ermutigte Humboldt stattdessen, das Manuskript für die Ansichten der Natur einzureichen, die dann auch ein breites Publikum fanden und zum vielleicht populärsten Werk seines Verfassers wurden. Dass ein trockenes Zahlenwerk Priorität über narrative Reiseberichte hatte, ist ein Indiz dafür, wie sehr Humboldt zu dieser Zeit mit seinen Publikationen auf einen engeren Kreis von Experten für den Gebrauch naturwissenschaftlicher Instrumente zielte.

Erdmagnetismus

Auch bei seiner Beschäftigung mit dem Erdmagnetismus zeigt sich Humboldts Arbeitsweise, zunächst mit großer Sorgfalt Daten zu sammeln, um dann im Anschluss die wissenschaftliche Bedeutung und die Möglichkeiten praktischer Anwendungen zu erkunden. Das Messen der magnetischen Kräfte war mühsam – Friedrich L. Brand liefert Einzelheiten darüber, wie aufwändig der „Inklinationskompaß“ war, den Humboldt mitführte. Dieser enthielt u. a. „eine[n] horizontal geteilten Kreis von 0,5 m Durchmesser“ für Inklinationmessungen. Des öfteren musste ein schützendes Zelt aufgebaut werden, damit „die magnetischen Schwingungen“ ungestört vom Wetter zur Ermittlung der Intensität gemessen werden konnten. Alle Nadeln mussten „sorgfältig in Ölpapier verwahrt“ werden.44 Wie Humboldt berichtet, stellte er „plus de trois cents observations sur l’inclinaison de l’aimant, et sur l’intensité des forces magnétiques“ an, und lieferte so, nach seinen eigenen Worten, „pour la première fois, une suite de faits exacts sur la variation des forces magnétiques dans la partie boréale du globe, et dans quelques points de sa partie australe.“45 Als Humboldt von Norden nach Süden reiste, gelangte er durch viele Messungen zur grundsätzlichen Entdeckung, dass die magnetische Intensität abnimmt. Ferner konnte er feststellen, wo sich der magnetische Äquator in diesem Weltteil befand. Ein erster Gedanke für die Anwendung dieser Entdeckung betraf die Navigation, besonders den Schiffsverkehr an der nebligen Westküste von Südamerika, wo astronomische Positionsbestimmungen oft wochenlang nicht möglich waren. Während der Fahrt nach Acapulco schrieb Humboldt: „j’ai achevé de me confirmer dans l’idée que la boussole d’inclinaison de Borda ne peut pas seulement suppléer à la latitude, mais même dans certains parages (où les cercles de déclinaison suivent les méridiens) à la longitude sur mer.“46 Abgesehen von dieser Basis-Funktion löste der Erdmagnetismus bei Humboldt eine Vision aus, die auf ein globales Netzwerk von Stationen mit Messinstrumenten vorausweist, mit denen ein vergleichendes Gesamtbild der Naturerscheinungen ermittelt werden könnte: „S’il existoit à la cime de l’Etna, du Pic de Ténériffe ou de Pichincha, des observatoires dans lesquels on fît des expériences diurnes sur la température de l’air, sur son humidité et sa tension électrique, sur les réfractions horizontales, sur les variations horaires de la déclinaison magnétique, expériences comparables à d’autres qu’à la même époque on feroit dans les plaines voisines, l’ensemble de ces travaux importans répandroit un grand jour sur la connoissance physique du globe et de l’atmosphère qui l’enveloppe.“47 Obwohl eine solch breite Auswahl von Instrumenten nicht zum Einsatz gekommen ist, erlebte Humboldt in den nächsten Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte auf dem Gebiet der Magnetismusforschung. Richtungsweisend waren hier die Arbeiten von Carl Friedrich Gauß, der zu seiner Intensitas vis magneticae terrestris ad mensuram absolutam revocata (1832–1837) maßgeblich von Humboldts erdmagnetischen Messergebnissen angeregt wurde.48 Die neuen Theorien zum Erdmagnetismus trugen wesentlich dazu bei, Humboldt zu seinen Initiativen für die Aufstellung von weit entfernten „magnetische[n] Observatorien“ und die Gründung von internationalen „magnetischen Vereinen“ zu motivieren.49 Humboldts Beschäftigung mit Magnetismus kann somit beispielhaft für eine Reihe von Entwicklungen in der Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert angesehen werden. Die Verbreitung von neuem theoretischem Wissen sowie die Erfindung und Verbesserungen von Instrumenten ermöglichten auch privaten Expeditionen wie jener von Humboldt eine bedeutende Ansammlung von Daten. Der öffentliche Austausch durch Journale und neue Formen akademischer Tagungen förderte die kollaborative wissenschaftliche Arbeit. Um größere Projekte durchzuführen, wurden Organisationen ins Leben gerufen, die eine internationale Forschung jahrzehntelang vorantreiben konnten. Die wissenschaftliche Tätigkeit wurde von Individuen und kleineren Gruppen auf fachbezogene und global ausgerichtete Institutionen übertragen.
Abb. 9: Tafel VIII aus Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber, Atlas des Erdmagnetismus (1840) [Bildnachweis]

Wissenschaftler und Instrumentenmacher

Humboldts Einsatz von wissenschaftlichen Instrumenten für innovative Messungen von Naturphänomenen ist gut dokumentiert. In vielen Beiträgen von Humboldt vor und nach seiner Amerikareise haben Messinstrumente aber auch eine Funktion im sozialen Diskurs. Zwei Episoden der Interaktionen mit Instrumentenmachern zeigen seine persönliche Entwicklung: von spezifischeren Erfahrungen der Kooperation und des Konflikts mit dieser Berufsgruppe zu allgemeineren Aussagen, in denen Humboldt seine eigene stetig zunehmende Reputation in der wissenschaftlichen Forschung am Beispiel seiner Expertise mit naturwissenschaftlichen Instrumenten hervorhebt. Bei dem merkwürdigen Fall eines Plagiatsvorwurfs, in dem Humboldt des geistigen Diebstahls an der Erfindung eines Messgeräts beschuldigt wurde, erweist sich, dass sein Selbstkonzept zur Zeit der Amerikareise erheblich auch durch die Gruppennormen von Instrumentenherstellern beeinflusst wurde. Im Jahr 1797 hatte Humboldt in Jena ein einfaches Instrument zur Messung des Kohlensäuregehalts bei chemischen und atmosphärischen Versuchen nach einem eigenen Entwurf anfertigen lassen. Ein Instrumentenbauer namens Friedrich Wilhelm Voigt erklärte dann aber in einer 1800 veröffentlichten Bekanntmachung, er selbst sei der erste Hersteller des Instruments, und damit auch dessen Erfinder: Humboldt habe ihm seine Konstruktion gestohlen. Nachdem Humboldt mehrere Jahre lang herausragende Berichte über seine Entdeckungen in Amerika veröffentlicht und auf höchstem Niveau mit Gelehrten korrespondiert hatte, erhielt er 1803 in Mexiko Kenntnis von Voigts anklagendem Artikel. Von der anderen Seite des Atlantiks schrieb er unverzüglich eine ausführliche Gegendarstellung zu seiner Verteidigung. Offenbar hatte Humboldt den Eindruck, dass sein Ruf als Wissenschaftler durch diese trivialen Anschuldigungen gefährdet sei, und nahm die Angelegenheit sehr ernst. Um sich mit allem Nachdruck zu verteidigen, listete er sogar noch eine Reihe seiner früheren Erfindungen auf: „so ist es freylich sehr natürlich, daß er es, nach Erscheinung meiner Schrift, für vortheilhaft hielt, mich eines Plagiats zu beschuldigen. Noch mehr! Ich erinnere mich, auf Gesuch mehrerer Gelehrten in Jena im herzoglichen Schlosse einige von mir erfundene Instrumente (die Rettungslampe, das Senkbarometer, die Absorbtionsröhren …) vorgezeigt und erklärt zu haben. Dieß geschah wenige Wochen, nachdem mir Herr Voigt diese Röhren verfertigt hatte, und in Gegenwart mehrerer seiner Freunde. Wie würde ich mir unter solchen Umständen ein solches Verfahren erlaubt haben, wenn mir der Gedanke in den Sinn gekommen wäre, daß jene kleine Erfindung Hn. Voigt zugehöre!“50 Eine Erklärung für den außergewöhnlich scharfen Tonfall des Artikels liegt in dem sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Status der beiden Kontrahenten. Der Instrumentenmacher Voigt hatte für die Zeitgenossen nicht den gleichen Rang wie Humboldts Korrespondenten vom Institut National in Paris. Die Empörung über eine Person, die nicht zur wissenschaftlichen Elite gehört, erreichte einen in der Rückschau schon fast skurril anmutenden Höhepunkt in dem kurzen Kommentar („Zusatz“) der Zeitschriftenherausgeber: „[Wir] haben aber gleich damals den vortrefflichen Hrn. v. Humboldt, der sich bey seinen Talenten und Kenntnissen nicht fremden literarischen Eigenthums anzumaßen bedarf, dessen, was Hr. V. vorgab, nicht nur selbst für ganz unfähig gehalten, sondern auch, daß das ganze gelehrte Publikum nicht anders davon denken werde, vorausgesetzt.“51 Nicht einmal Voigts Tod („de[r] unlängst verstorbn[e] Instrumentenmacher“) konnte die Herausgeber davon abhalten, die Reihen der Scientific Community noch einmal zu schließen, Humboldts Verdienste zu loben und ein Gruppenverdikt im Namen des „ganze[n] gelehrte[n] Publikum[s]“ gegen Voigt auszusprechen. Insgesamt gibt der Vorgang ein seltenes Beispiel dafür ab, dass der ansonsten eher zurückhaltende und diplomatische Humboldt sich unter Umständen in einen sehr polemischen Kontrahenten verwandeln konnte. Zugleich wird dabei ersichtlich, dass sein Selbstverständnis in nicht geringem Maß auch über die Erfindung und die Anwendung wissenschaftlicher Instrumente definiert war. Drei Jahre später in Berlin unterstützt Humboldt in einer Zeitungsanzeige ein Mitglied der Familie Mendelssohn großzügig als einen Geistesverwandten im naturwissenschaftlichen Fortschritt: „Unter den mannichfaltigen Ursachen, welche im nördlichen Deutschland den Fortschritten des ausübenden Theils mathematischer Wissenschaften entgegen stehen, ist eine der größten die Schwierigkeit, sich genaue astronomische und geometrische Instrumente zu verschaffen. Ich schmeichle mir in dieser Hinsicht, den praktischen Arbeitern in diesen u. angränzenden Feldern einen nicht unangenehmen Dienst zu erweisen, wenn ich denselben anzeige, dass sich ein vortrefflicher Künstler, der in London und Paris sich unter vorzüglichen Meistern gebildet, Herr Nathan Mendelssohn (Sohn des berühmten Moses Mendelssohn) in Berlin niedergelassen hat. Seine Arbeiten bedürfen meiner Empfehlung nicht […].“52 Im Gegensatz zu Humboldts herablassenden Bemerkungen in der Streitschrift von 1803 gegen den Instrumentenmacher Voigt war ihm der junge Nathan Mendelsohn im Jahre 1806 hochwillkommen. Er galt Humboldt als einer jener „Künstler“, die – als Handwerker, Ingenieure und Erfinder zugleich – die technischen Voraussetzungen dafür schufen, dass die Naturwissenschaften in Europa auf die Grundlage präzise ermittelter Messergebnisse gestellt werden konnten. Seine engagierte Beschäftigung mit der Herstellung von Instrumenten in der Zeit kurz nach seiner Amerikareise bestimmt auch hier sein Wissenschaftsverständnis und sein Selbstverständnis als Forscher.

Instrumente und Reputation

In seinen Briefen und Beiträgen aus Amerika verfolgt Humboldt eine doppelte Strategie, um seine eigenen Kompetenzen scheinbar bescheiden hervorzuheben. Einerseits verlangt er, dass seine Ergebnisse akzeptiert oder doch zumindest bedacht werden, andererseits verteilt er Lob und Schmeicheleien an anerkannte Spezialisten. Mit der ihm eigenen Diplomatie verhandelt Humboldt hier zwischen Amateuren und Experten des Instrumentengebrauchs: „Nehmen Sie das, was ich Ihnen schicke, gütig auf, und haben Sie besonders Nachsicht mit meinen astronomischen Arbeiten. Bedenken Sie, daß dies nur ein Nebenzweck meiner Reise ist, daß ich ein Anfänger in der Astronomie bin, und erst seit zwey Jahren mit Instrumenten umzugehen gelernt habe […]. Freylich hätte ich mir, um etwas großes in der Astronomie und Geographie auszurichten, unsern Freund Burckhardt zum Reisegefährten gewünscht, allein da hätte er auch mit bessern und größern Instrumenten, wie die meinigen, versehen werden müssen.“53 In einer ganz ähnlichen Passage tritt Humboldt zunächst mit großer Bescheidenheit auf, um dann aber andererseits seinen „Eifer“ und seine tägliche Übung im Umgang mit Instrumenten zu betonen: „vous savez que je ne suis pas très-savant en mathématiques, et que l’astronomie n’est pas le but de mon voyage; cependant avec du zele et de l’application, et en maniant journellement les mêmes instrumens, on parvient à faire quelque chose et à le faire moins mal.“54 In der folgenden Passage zeigt sich eine Tendenz, das Gewöhnliche zum Symbolischen zu erheben. Wiederum mit gemischtem Selbstlob beginnend, wird das Thema der Instrumente jetzt mit einem Versprechen der Treue zu den hohen Standards der Wissenschaft aufgeladen, die genaue Aufzeichnungen, präzise Beobachtungen von Details und exakte Kalibrierungsstandards vorschreiben. Anschließend wird der Ton melodramatisch. Humboldt stellt heraus, dass diese Messungen wichtiger als sein eigenes Leben seien: sie bestehen fort, selbst wenn er persönlich zugrunde geht; seine Identität wird in seinen Journal-Aufzeichnungen bewahrt: „J’ai donc mieux aimé faire peu d’observations, mais avec toute l’exactitude dont je suis capable, que beaucoup de médiocres. J’ai consigné dans mes manuscrits jusqu’aux plus petits détails de mes observations; les hauteurs correspondantes, les rectifications des instrumens, afin que dans le cas assez probable où je périrois dans cette expédition, ceux qui les calculeront puissent juger du degré de confiance que chaque résultat doit comporter.“55 In einem weiteren Beispiel von Selbstdarstellung zeigt sich kurioserweise, dass Humboldt Instrumente benutzt, um zu zeigen, dass er die Leistungen berühmter Forschungsreisender übertroffen hat, ohne dadurch aber ihren Ruhm und ihr Ansehen in Frage zu stellen. Diese eigenwillige Art, sein eigenes Renommee zu fördern, tritt fast jedes Mal auf, wenn Humboldt einen Berg besteigt und darüber berichtet, wie sich an drei Beispielen zeigen lässt: „Je suis parvenu deux fois, le 26 et le 28 de mai 1802, au bord du cratère du Pichincha, montagne qui domine la ville de Quito. Jusqu’ici personne, que l’on sache, si ce n’est la Condamine, ne l’avoit jamais vu; et la Condamine lui-même n’y étoit arrivé qu’apres cinq ou six jours de recherches inutiles et sans instrumens, et n’y avoit pu rester que douze à quinze minutes, à cause du froid excessif qu’il y faisoit. J’ai réussi à y porter mes instrumens; j’ai pris les mesures qu’il étoit intéressant de connoître […].“56 „A notre voyage au volcan d’Antisana, le temps nous favorisa si bien, que nous montâmes jusqu’à la hauteur de 2773 toises. Le baromètre baissa, dans cette région élevée, jusqu’à 14 pouces 7 lignes, et le peu de densité de l’air nous fit jeter le sang par les lèvres, les gencives et les yeux même; nous sentions une foiblesse extrême, et un de ceux qui nous accompagnoit dans cette course s’évanouit. Aussi avoit-on cru impossible jusqu’ici de s’élever plus haut que jusqu’à la cime nommée le Corazon, à laquelle la Condamine étoit parvenu, qui est de 2470 toises.“57 „J’ai envoyé à l’institut national […] une collection de produits volcaniques de la province de Quito, sur-tout du Chimborazo, sur lequel, le 25 juin 1802, nous avons porté des instrumens à 3015 toises de hauteur (4 à 500 toises plus haut que la Condamine au Corazon) voyant baisser le mercure à 13 p. 11,2 lign.; le froid n’étoit que 1°,3 R.r […].“58 Derartige rhetorische Wendungen werden im Laufe der Jahre in verschiedenen Formen wiederholt. Ein Eintrag in den Reisetagebüchern aus dem Jahr 1802 beschreibt die Besteigung des Chimborazo wie folgt: „[J]’analysai l’air près à 2773 t[oises] de hauteur, je portai le cyanomètre, la boussole d’inclinaison à des hauteurs, à lesquelles jamais instrument n’a été porté […].59 In einem Brief an Thomas Jefferson vom 24. Mai 1804 heißt es wiederum: „Nous fîmes pendant un an nos opérations dans les Andes de Quito, portant des Instrumens au Chimborazo à 3036 toises de hauteur donc 500 t[oises] plus haut que jamais homme est parvenu avant nous.“60 Und noch im Jahr 1837 lässt das Ablesen der Instrumente die Expeditionen als einen Wettbewerb erscheinen: „La Condamine und Bouguer […] rühmen […] sich das Barometer auf 15 Zoll 10 Linien gesehen zu haben. Sie sagen, dies sey ‚ein tieferer Stand als je ein Mensch bisher habe beobachten können‘. An dem oben beschriebenen Punkte des Chimborazo war der Luftdruck um fast zwei Zoll geringer, geringer auch, als da, wo sechzehn Jahre später, 1818, sich Capitain Gerard am höchsten im Himalaya-Gebirge, auf dem Tarhigang erhoben hat.“61 Den geringsten Barometerdruck (die höchste Höhe) zu überstehen, reicht jedoch nicht aus: „In einer Taucherglocke bin ich in England einem Luftdruck von 45 Zoll fast eine Stunde lang ausgesetzt gewesen.“62 Hier scheint es, dass Humboldt eine neue Art von Höchstleistung im Vergleich zu seinen Konkurrenten hervorheben will: Wenn er schon nicht mehr höher als andere gestiegen ist, so ist er nun doch wenigstens der einzige Mensch auf der Welt, der die größte Variationsbreite an hydrostatischem Druck – zwischen geringem Luftdruck auf den Bergen und stark erhöhtem Druck unter Wasser – gewagt und überstanden hat.63 Humboldt beeinflusst kontinuierlich die öffentliche Berichterstattung über einige seiner wichtigsten wissenschaftlichen Leistungen, indem er die Rolle der eigentlichen Akteure auf seine Instrumente und deren Messergebnisse überträgt. Diese rhetorische Strategie inszeniert ein kompliziertes Gleichgewicht, das die eigene Person im Namen eines übergeordneten Prinzips aufwertet und dabei zugleich eine sehr nachdrückliche Eigenwerbung betreibt, ohne aber egoistisch zu wirken.64 In vielen Textstellen der Berner Ausgabe wird sichtbar, dass Humboldt bemüht war, gute Beziehungen in der Gemeinschaft der mit ihm korrespondierenden Wissenschaftler aufrechtzuerhalten. In der folgenden Passage verwendet Humboldt große Sorgfalt darauf, sowohl den Namen „Borda“ als auch das „Bureau des Longitudes“ zu erwähnen und damit den Erwartungen der dortigen Kollegen gerecht zu werden. Gleichzeitig hebt er aber auch durchaus penetrant hervor, dass er selbst es ist, der hier die überlegenen, ja einzigartigen Messungen leisten kann: „Das Instrument, dessen ich mich bediene, ist der Inclinations-Compaß, den Borda angegeben und Le Noir für das Bureau des Longitudes in Paris ausgeführt hat. Das Bureau hat die Gefälligkeit gehabt, es mir bey meiner Abreise von Paris abzutreten. Der Azimuthal-Zirkel hat 0,5 Mètre im Durchmesser, die Nadel 0,3 Mètre Länge. Borda betrachtete dieß Instrument als das erste, das uns sichere Inclinationen angeben würde, da alle übrige, die uns so viele irrige Zahlen geliefert haben, nie in die wahre Ebene des magnetischen Meridians gestellt werden konnten.“65 Hier liegt ein weiteres typisches Beispiel dafür vor, dass es Humboldt offensichtlich darum geht, einerseits Leistungen herauszustellen und Details zu benennen, welche die Experten beeindrucken werden, andererseits aber auch persönliche Beschränkungen aufzuzeigen, um die Kollegen nicht zu pikieren bzw. sich nicht in eine allzu offensichtliche Rivalität zu ihnen zu begeben: „Je viens de finir un voyage infiniment intéressant […], j’ai eu deux ou trois mules chargées d’instrumens […] vous savez que mon but principal est la physique du monde, la composition du globe, l’analyse de l’air, la physiologie des animaux et des plantes […]. Les instrumens astronomiques que je possède sont un quart de cercle de Bird, des sectans de Ramsdem et de Troughton, des lunettes, des micromètres ... Je devrois avoir fait plus: mais vous savez que l’astronomie pour laquelle MM. Zach et Kohler m’ont inspiré tant de goût, est un peu éloignée de mon but principal, et qu’à 10° de latitude on ne travaille pas comme à 49.“66 Wie gelingt es Humboldt dabei, die ferne (und exotisch klingende) Geographie „[d]es montagnes du Toumiriquiri“ und die fremde Kultur der „Indiens Chaymas“ ins Spiel zu bringen, während er sich zugleich an die Standards der europäischen Scientific Community halten möchte? Er berichtet seinen Kollegen, dass der Zustand der Instrumente bei ihrem Einsatz auf der anderen Seite des Atlantiks derselbe sei wie in Paris, wobei er gemeinsame Erinnerungen an vertraute Orte aufruft (allerdings mit zwei Ortsreferenzen in Paris, „rue du Colombier“, „hôtel Boston“, die in Richtung Amerika weisen): „qu’aucun de mes instrumens, même les plus délicats (tels que les baromètres, thermomètres, hygromètres, boussoles d’inclinaison de Borda) ne se sont dérangés, et qu’au fond des missions des Indiens Chaymas, dans les montagnes du Toumiriquiri, j’ai eu mon laboratoire monté comme si je me trouvois rue du Colombier, hôtel Boston.“67 So können sich Diskussionen über Instrumente auch als ein Mittel zur Aufrechterhaltung sozialer und fachlicher Beziehungen erweisen, indem eine Berufsgruppe eine Selbstvergewisserung über ihre wissenschaftlichen Interessen aushandelt: etwa durch den Austausch von Instrumentenlisten oder durch die Diskussion von Merkmalen und die Bewertung von Instrumentenherstellern. In den zitierten Passagen wird auch sichtbar, dass das Instrument in Humboldts Schriften als ein Symbol für Wissenschaftlichkeit schlechthin fungiert und damit eine hohe Priorität im Gruppenwertsystem der europäischen Wissenschaftler zugewiesen bekommt. Immer wieder zeigt sich dabei Humboldts Strategie, seine Position innerhalb dieser Gemeinschaft der Instrumentenexperten subtil aufzuwerten.

Kulturelle Vergleiche: Instrumente als Symbole

In Darstellungen kultureller Unterschiede werden oft implizite Hierarchien sichtbar, so auch in den Schriften. Zu Humboldts Zeit waren es die Kategorien der philosophischen Moral, der Religion, der Erziehung und des künstlerischen Schaffens, welche als die allgemein akzeptierten Kriterien für die Definition von Kultur galten und damit die Grundlagen für interkulturelle Vergleiche bildeten. In Humboldts Aufsätzen, Artikeln und Essays sehen wir aber, wie neue Kategorien, namentlich der Stand der Technik und der Umgang mit Messinstrumenten, zu Definitionskriterien von Kultur aufrücken. Die Entfaltung dieser neuen Kategorie einer Kulturdefinition, zunächst bei Vergleichen zwischen europäischen Nationen und dann auch bei Begegnungen mit den Kulturen Südamerikas, bildet in Humboldts Schriften ein ambivalentes Feld. So finden sich in der Berner Ausgabe zahlreiche Textstellen, in denen die Haltung von Angehörigen bestimmter Kulturen gegenüber Instrumenten als Kriterium dient, um nationale oder kulturelle Werte oder Stereotype aufzuzeigen. Die folgende Passage, die 1799, kurz vor Humboldts Abreise aus Spanien entstand, zeigt, dass er die politische Problematik bei der Verwendung von Instrumenten in den Kolonien erkennt. Sie könnte seiner Ansicht nach dazu führen, dass zu viele wirtschaftlich und damit kolonialpolitisch relevante Informationen in die Hände nationaler Konkurrenten gelangen. Aber der Text deutet auch an, dass die Spanier bezogen auf ihre amerikanischen Kolonien einfach zu wenig Wert auf Wissenschaft legen: „[I]ch habe – was Spanier selbst für unmöglich hielten – nicht nur Königl. Erlaubniß bekommen, mit allen meinen Instrumenten in den Spanischen Kolonieen einzudringen, sondern ich bin auch mit Kgl. Empfehlungen an alle Vizekönige und Guvernöre ausgerüstet.“68 Wenn Humboldt dann die spanischen Missionen am Orinoko besucht, gilt ihm das Fehlen von Instrumenten als Zeichen kultureller Rückständigkeit. Die symbolische Dynamik in diesem Text ist offensichtlich: „Instrumente“ geben hier Aufschluss über Humboldts Perspektive auf einen „finstern unbekannten“ Teil der Welt, in den „Licht“ gebracht werden soll, und über die Rolle, in der er sich selbst dabei sieht: „Ich habe an manchen Orten Instrumente gelassen und wir dürfen hoffen bald über diesen finstern unbekannten Theil der Welt, über den alle Charten erlogen sind, einiges Licht zu erhalten.“69
Abb. 10: Ausschnitt aus Friedrich Georg Weitsch, Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo (1806) [Bildnachweis]
Schließlich finden sich auch Szenen in Humboldts Schriften, in denen Europäer mit Ureinwohnern zusammentreffen, wobei dann Werkzeuge, Instrumente oder Technik schlechthin zu Symbolen kultureller Überlegenheit werden. Die folgende Textpassage zeigt einen unbeteiligten Beobachter, der die Szene mit Spott eröffnet und die Instrumente in den Mittelpunkt einer bizarren Umgebung stellt, um dann die Reaktionen der Einheimischen – und der Affen – mit denen des Briefschreibers und des lachenden Publikums in Paris zu kontrastieren. „Vous auriez ri en voyant parmi les indiens Ydapaminares (dans les bois du Casiquiare), mes instrumens montés sur des caisses ou des coffres, des carapasses de tortue nous servant de chaises; huit ou neuf singes que nous traînions avec nous, et qui avaient grande envie de manier aussi mes hygromètres, mes baromètres, mes électromètres.... Autour de tout cela, dix ou douze indiens étendus dans leur hamac, et puis des feux pour se garantir des tigres, qui ne sont pas moins féroces là qu’en Afrique.“70 Im Zentrum der Szene stehen die aus Paris nach Amerika mitgebrachten Instrumente; ihre genau aufgeführten Namen erinnern an ihre Funktionen, die aber den Unwissenden – bis zu den wildesten Tieren der Tropenwelt – unbekannt bleiben. Hier zeigt sich eine für Humboldt sehr untypische Überheblichkeit, die vielleicht nur mit seinem Selbstbild als Vorreiter der instrumentell gewonnenen Datensammlung und mit dem Ansinnen, seine eigene akademische Wertschätzung bei den Kollegen zu erhöhen, zu verstehen ist. So zieht sich durch viele Texte, in denen Humboldt seinen Umgang mit Instrumenten beschreibt, zwischen den Zeilen ein vertikal zur Sachdiskussion gelagerter Diskurs, in dem es dem Autor um die Aufwertung seines persönlichen Status und zugleich um einen taktvollen Ausgleich im Verhältnis zu seinen Kollegen in den wissenschaftlichen Institutionen geht. Die entsprechenden kommunikativen Praktiken und Strategien erstrecken sich auch auf Vergleiche zwischen Nationen und Kontinenten, wobei die Haltung gegenüber Instrumenten zum Kriterium für die Bewertung des jeweiligen kulturellen Niveaus avanciert.

Fazit

Insgesamt erlaubt die Analyse der Berner Schriften mit Blick auf „Erfindungen und Instrumente“ eine Kontextualisierung der persönlichen Interessen und Initiativen Humboldts mit den wissenschaftlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Sie gibt Einblicke in die kommunikativen und publizistischen Praktiken einer Zeit, in der eine enorme Popularisierung der Naturwissenschaften in Gang gesetzt wurde. Ausgehend von konkreten und dringlichen Problemen bei der praktischen Arbeit im Bergbau, entfaltete Humboldt eine Forschungstätigkeit, die ihn von Gruben in Sachsen und Franken bis in den Urwald an die Ufer des Orinoko, auf die Gipfel der Anden sowie schließlich in Pariser Institute und magnetische Observatorien von Berlin bis Sibirien führte. Die technische Grundlage für diese Unterfangen bildeten die damaligen Messgeräte, deren Beschaffung, Verbesserung oder Neuentwicklung und deren fachgerechter Einsatz ein wesentliches Element von Humboldts Arbeit bildeten. Einerseits stellt sich diese Arbeit als wesentlich praxisorientierte, kontinuierliche Abfolge experimenteller Projekte dar; andererseits aber wird stets auch das Bemühen um übergreifende Theoriebildung sichtbar, mit dem Humboldt mehrere bedeutende Erfolge erzielte, etwa in der Zonierung des Klimas und der Pflanzenökologie.

Abbildungen

Abb. 1: Einige der Instrumente, die Humboldt auf seiner Amerikareise mit sich führte (und in der Einleitung zur Relation historique vorstellte). © Cliparts online unter (03.05.2021), non-commercial license; Zusammenstellung der Cliparts enthalten in der Broschüre zum Berner Ausstellungsprojekt „Alexander von Humboldt – Botanik in Bewegung“, S. 11). Abb. 2: „Naturgemälde der Anden, gegründet auf Beobachtungen und Messungen, welche vom 10. Grade nördlicher bis zum 10. Grade südlicher Breite angestellt worden sind, in den Jahren 1799 bis 1803“, aus Ideen zu einer Geographie der Pflanzen (1807). © Foto public domain via Wikimedia Commons. Online unter commons.wikimedia.org (03.05.2021). Abb. 3–4: Ausschnitte aus dem „Naturgemälde der Anden“ (s. o. Abb. 1). Abb. 5: Das empfindliche Barometer und der speziell dafür verantwortliche Träger. Screenshot aus Rainer Simon, Die Besteigung des Chimborazo (DDR/BRD 1989). Abb. 6: Vermessung der Himmelsbläue mit einem Cyanometer. Screenshot aus Rainer Simon, Die Besteigung des Chimborazo (DDR/BRD 1989). Abb. 7: Vermessung des Chimborazogipfels mit einem Theodolit. Screenshot aus Rainer Simon, Die Besteigung des Chimborazo (DDR/BRD 1989). Abb. 8: Seite aus Humboldts Amerikanischen Reisetagebüchern mit Triangulationsmessungen Nachlass Alexander von Humboldt, Tagebücher der Amerikanischen Reise VIIbb et VIIc, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. S. [512]–517. Online unter resolver.staatsbibliothek-berlin.de (03.05.2021). Abb. 9: Tafel VIII [„Karte für die berechneten Werthe der westlichen Intensität Y“] aus Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber, Atlas des Erdmagnetismus: nach den Elementen der Theorie entworfen, Leipzig: Weidmann 1840. Abb. 10: Ausschnitt aus Friedrich Georg Weitsch, Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo, 1806, Öl auf Leinwand, 163 x 226 cm, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. © Foto public domain via Wikimedia Commons. Online unter upload.wikimedia.org (03.05.2021).

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