Digitale Ausgabe – Transversalkommentar

Transversalkommentar 21

Visionen

Isotherme Linien und Klimatologie

In der 7700sten Nummer des Magazins Nature vom April 2018 erschien ein von 55 Wissenschaftlern unterzeichneter Fachartikel, demzufolge der Pflanzenreichtum auf den Berghöhen sich in letzten 50 Jahren um das Fünffache vergrößert hat. Die Studie stützt sich auf 698 Surveys von 302 Gipfeln in neun europäischen Gebirgsregionen, die bis auf das Jahr 1871 zurückgehen, um den Anstieg der jährlichen Durchschnittstemperaturen als Ursache der erhöhten Artenvielfalt auszumachen. Dies ist als Auswirkung der menschgemachten Klimaerwärmung anzusehen, deren Erkenntnis wiederum auf dem Überblick anderer Ökosysteme im Meer und an Land beruht und mittels abstrahierter Modelle des Temperaturwandels berechnet wird. Die Basis für diese Beobachtungen und den sich daraus ergebenden Wissenschaftszweig der Klimatologie wurde vor 200 Jahren von Alexander von Humboldt mit seinem Konzept der „isothermen Linien und der Wärmeverteilung auf dem Erdball“ gelegt: „Da die Phänomene der Geographie, der Pflanzen und im allgemeinen der Verteilung der organisierten Wesen von der Kenntnis der drei Koordinaten Längengrad, Breitengrad und Meereshöhe abhängt, habe ich mich seit mehreren Jahren mit der exakten Evaluierung der atmosphärischen Temperaturen beschäftigt“.1 In Europa konnte Humboldt dafür zunächst bloß auf die meteorologischen Aufzeichnungen des bayerischen Klosters Peißenberg und des Sankt-Gotthard-Hospizes auf 995 respektive 2075 Metern über dem Meeresspiegel zurückgreifen. Observationen in Quito (2909 m), in Huancavelica (3752 m) und an der Santa-Barbara-Mine (4422 m) in den Kordilleren – mit denen „die so lange nur auf die temperierten Zonen konzentrierte Wissenschaftskultur sich auch jenseits des Wendekreises erstreckte“ – samt eigenen Messungen auf bis zu 5880 Metern Meereshöhe erlaubten es Humboldt hingegen, eine große Zahl von Fixpunkten für Durchschnittstemperaturen zu definieren, „durch die ich meine isothermen Linien oder Linien gleicher Wärme legte“.2 Es war dies eine „leichte, aber lange und monotone Arbeit“, bei der nicht nur die reine Sonnenbestrahlung bestimmt wurde, sondern auch eine Reihe weiterer wesentlicher Faktoren: Luftdruck und Wind; die Nähe zum Wärmereservoir des Meeres oder zum Kältespeicher von Gletschern; Hanglage; chemische Bodenbeschaffenheit und Evaporation des Bodens; Schneedicke im Sommer und Winter. Das solare Klima war eines; das reelle Klima ergab sich jedoch erst, wenn man auch die unterschiedlichen lokalen Einflüsse einberechnete, „um die jährliche Wärme zu kennen, die jeder Punkt auf der Erde erhält, und das, was für die Landwirtschaft und das Wohlbefinden der Bewohner wichtig ist“.3 Im Zuge dessen arbeitete Humboldt auch ein modernes Wissenschaftsverständnis heraus, das seine Perspektiven, Ausgangsfragen und Mittel reflektiert, um sich der eigenen systematischen Verzerrungen und Voreingenommenheiten – heute Bias genannt – bewusst zu bleiben. „Man muß sich davor hüten, das zu eliminieren, was man finden will: man darf jene Einflüsse, von denen die wichtigsten Phänomene – beispielsweise die Verteilung und die mehr oder minder rapide Entwicklung des organischen Lebens – elementar abhängen, nicht als fremde und störende Umstände bezeichnen und damit verwechseln.“4

Internationale Beobachtungsstationen und Nationalpolitik

Humboldts Pionierleistung wurde von der Regierung der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, „die ein lebhaftes Interesse am Fortschritt der Besiedlung und an einer Ausweitung des gemischten Anbaus von Nutzpflanzen hat“, nachgeahmt, „indem an sehr vielen Punkten […] verglichene meteorologische Instrumente verteilt und die jährlichen Ergebnisse, zu wenigen Zahlen zusammengefaßt, von einem zentralen Komitee veröffentlicht werden“.5 Ein solches „klug kombiniertes Beobachtungssystem, das über einen langen Zeitraum hinweg betrieben wird und örtlichen Wissenschaftlern anvertraut ist“, galt es wunschgemäß auch überall in Russland einzurichten.6 „Glücklicherweise leben wir nicht mehr in einer Zeit, in der die Physiker der Meinung waren, das Klima eines Ortes zu kennen, wenn sie lediglich die extremen Temperaturen kannten, die das Thermometer im Winter und im Sommer erreicht. Eine einheitliche Methode, die sich überall auf die gleiche Wahl der Stunden gründet und die das neuerdings erworbene Wissen über die wirklichen Tages-, Monats- und Jahresmittel einbezieht, wird die alten, fehlerhaften Methoden ersetzen. Durch diese Arbeit werden in mehreren Provinzen des Reiches Vorurteile über die richtige Wahl der Bepflanzung verschwinden, etwa über die Möglichkeit, Wein anzubauen, Maulbeerbäume, Obstpflanzen, Kastanien und Eichen.“7 Dies mündete zehn Jahre nach seiner Russlandexpedition und seinem Aufruf an die Petersburger Akademie in den Appell an die damals wichtigste Wissenschaftsinstitution, die Londoner Royal Society, welche sodann magnetische und meteorologische Stationen in den Tropen wie in den gemäßigten Zonen der südlichen Hemisphäre errichtete.8 Dem schloss sich Humboldts Aufruf an Ross’ Südpol-Expedition von 1839 an, im Verlauf seiner Erkundung der Antarktis auch meteorologische und magnetische Messungen vorzunehmen, kontinentale Verschiebungen und geologische Bedingungen festzustellen, ozeanische Temperaturen zu verzeichnen, nach marinen Pflanzen Ausschau zu halten und das Meerwasser zu filtern, um jenes mikrobielle Leben zu identifizieren, das Humboldts Kollege und Weggefährte Christian Gottfried Ehrenberg – der Entdecker des Bakteriums – in den Fokus einer weiteren neuen Wissenschaftsdisziplin, der Mikrobiologie, gestellt hatte.9 Die von der kaiserlich-königlichen Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik zwischen 1904 und 1919 herausgegebenen Bände zur Klimatographie von Österreich stellten mit ihren Karten und Daten die breiteste bis dahin erschienene Studie in dem von Humboldt begründeten Forschungsfeld dar – und waren zugleich Beleg dafür, welche politischen Auswirkungen dieses hatte und in Zukunft auch wieder haben könnte. Das Kaisertum Österreich hatte in einer Reihe von Kriegen bis 1867 große Gebietsverluste erlitten. Die verbliebenen, von verschiedenen Ethnienbevölkerten Länder, die sich von den Alpen bis in Steppengebiete hinein erstreckten, versuchte man dann in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu einem Reich zu konsolidieren. Während sich in diesem Zeitalter des Nationalismus staatliche Identitäten um einzelne Sprachen herausbildeten, war dies für das österreichische Vielvölkerreich und seine mindestens elf Sprachen nicht möglich. Als ideologischen Überbau verfiel man deshalb auf die Klimatologie, die Meteorologie und die atmosphärische Zirkulation als symbolisches Organisationsmodell Österreich-Ungarns. Universitäten, Institute, Museen, Herbarien, Beobachtungstationen, Verlage und Ämter wurden angewiesen, mithilfe von Humboldts Forschungsprogramm den wissenschaftlichen Beweis für die ‚Natürlichkeit‘ der Donaumonarchie zu erbringen. Damit legte sich der Fokus auf die gegenseitigen Abhängigkeiten der Länder mit ihren äußerst unterschiedlichen Topographien, Hydrographien und Vegetationen. So wie der Wind aus den österreichischen Bergen Regen über die ungarischen Ebenen brachte und der in den Alpen schmelzende Schnee die Länder entlang der Donau mit Wasser versorgte, sollte für jede Region gezeigt werden, dass ihr jeweils spezifisches Klima den angrenzenden Gebieten von Nutzen war. Die dabei erzielten Erkenntnisse wurden von der Gesellschaft dann assimiliert. Wirtschaftswissenschaftler wie Emanuel Herrmann bedienten sich der Klimatographie als Modell für die räumliche Analyse der Reichsökonomie. Dieses Konzept wurde von politischen Kräften wie den Sozialdemokraten unter Karl Renner weiterentwickelt, die argumentierten, dass eine solche Diversität erst die nötige Einheitlichkeit und Autonomie erzielte und der Handel durch den Austausch von Überschussgütern der einzelnen Regionen stetig anwachsen konnte. Implizit und explizit dienten klimatische Wechselwirkungen so als soziales und ökonomisches Fundament für den österreichischen Vielvölkerstaat.10 Die Politik beförderte dabei eine Wissenschaft, die deskriptiv, dynamisch und auf Wechselwirkungen ausgerichtet war. Diese Forschungen wiederum legten die Basis für die moderne Klimatologie, die sich nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie auch 1918 in Deutschland, Russland, Großbritannien und Nordamerika etablierte. Wobei erst jetzt wieder vorauszusehen ist, dass angesichts des Klimawandels und der Globalisierung solche Modelle von Interdependenzen erneut in den Vordergrund rücken werden. Jede Wetterkarte weist nunmehr Humboldts Isothermen als Isobaren, gefühlte und reelle Temperaturen aus, auf jeder Karte sind inzwischen magnetische Abweichungen eingetragen, und jeder Schulatlas präsentiert geologische wie klimatische Übersichten einzelner Regionen. Die Berechnungen zur gegenwärtigen Klimaerwärmung wären ohne Humboldts Grundlagenforschung ebensowenig denkbar wie viele naturwissenschaftliche Fächer der Universitäten, für die Humboldts Studien eine erste empirische Basis geschaffen haben. Nur mit der Verwirklichung seines interdisziplinären Ansatzes haben die Akademien nach wie vor Schwierigkeiten: Über ein solches Netzwerk von wissenschaftlichen Kontakten, wie es Humboldt damals mittels seiner Korrespondenzen knüpfte, verfügt heute kaum noch ein einzelner Forscher, und fachübergreifende Projekte werden nach wie vor weit weniger gefördert als fachinterne.

Der Panamakanal und die globalisierte Welt

Abstrakte Analyse und praktische Anwendbarkeit stellten bei Humboldt stets komplementäre Seiten seines jeweiligen Forschungsgegenstandes dar. Das zeigt sich nicht nur bei den meteorologischen Messungen und ihrer Relevanz für die Landwirtschaft, sondern auch bei seinen Studien für einen noch zu erbauenden Panamakanal. Die Idee zu solch einem Landdurchstich hatte bereits der Konquistador Hernán Cortés (1485–1547), doch war es erst Humboldt, der sich dafür ebenso intensiv einsetzte, wie er dazu erhobene Daten präsentierte. „In mehreren meiner Schriften habe ich zu entwickeln gesucht, daß bevor man auf irgendeinen Punkt zu der Eröffnung eines Kanals zwischen der Südsee und dem atlantischen Ozean schreitet, die ganze Zahl der Landengen aufgenommen, nivelliert und physikalisch untersucht werden müsste.“11 Folglich sortiert und kompiliert er die bekannten Messungen, nimmt am Ort eigene Triangulationen vor und propagiert einen konkreten Verlauf des Kanals als „Verbindung, welche die Transportkosten in einem nicht zu berechnenden Maaße vermindern, durch ihr Dasein jenen fruchtbaren Erdstrich bereichern und einen ausgedehnten Handel befördern wird. Durch einen schnellen und lebhaften Umlauf der Waren und der Produkte können beide Halbkugeln mit einander verbunden werden, und den einheimischen Erzeugnissen unserer Küstenländer wird sich an beiden Meeren ein, für den größten Teil der Nation und für die angrenzenden Staaten vorteilhafter Ausweg eröffnen“.12 Dabei schließt er sich der mexikanischen Einschätzung an, dass Mittelamerika „an Industrie, innerem Verkehr und Bevölkerung mehr zunimmt, als man gemeinhin in Europa glaubt, wo man nur mit dem transitorischen Sinken der Bergwerks-Aktien und mit der momentanen Finanz-Verwirrung einiger amerikanischer Regierungen beschäftigt ist“.13 In diesem Zusammenhang betont Humboldt nicht nur die heute gerade wieder kontrovers diskutierte Bedeutung eines Welthandels mit freiem Warenverkehr, sondern kritisiert auch die Ausbeutung der Neuen Welt, die sich „drei Völker europäischer Herkunft gleichsam geteilt haben“: die Angelsachsen „als das eine und das mächtigste von germanischer Abstammung“ sowie die Portugiesen und die Spanier. „Der Arbeitsbedarf, der Vorzug, welchen die Kulturen des Zuckerrohrs, des Indigo und der Baumwolle erhielten, die Habsucht, welche öfters den Gewerbsfleiß begleitet und ihn herabwürdigt, haben daselbst jenen schändlichen Negerhandel eingeführt, der für beide Halbkugeln gleich verderblich geworden ist.“14 Die politischen Auswirkungen dieser Kolonialisierung sieht er auch anderweitig als beträchtlich an. „Die Verwilderung und Versunkenheit der [indigenen] Völker ist eine Folge erlittener Bedrückung, sei es nun, daß einheimischer Despotismus oder ein fremder Eroberer dieselbe ausübt: der Despotismus ist allzeit von fortschreitender Verarmung und Abnahme des öffentlichen Wohlstandes begleitet.“ Da die Bevölkerungen in Nord-, Mittel- und Südamerika jedoch schnell wachsen, so Humboldts treffende Vorausschau, „läßt sich annehmen, daß keine anderthalb Jahrhunderte verfließen werden, bevor die amerikanische Bevölkerung die von Europa erreicht hat. Dieser edle Wetteifer in Gesittung, Kunstfleiß und Handelsverkehr wird aber, weit entfernt (wie vielfältig prophezeit worden ist), die Verarmung des alten Festlandes zum Vorteil des neuen herbeizuführen, vielmehr den Verbrauchsbedarf, die Masse der produktiven Arbeit und die Tätigkeit des Tauschverkehrs steigern.“15 Was er unter dieser Gesittung verstand, setzen wir heute als gegeben voraus: die Intensivierung und Liberalisierung der Kommunikation, Personenfreizügigkeit, zivilisatorischen Fortschritt durch den freien Güterverkehr, einen weltweiten Kulturtransfer, die Emanzipation von Minderheiten und die Berufung auf allgemeine Menschenrechte. Über die Folgen der damit beginnenden Globalisierung war Humboldt sich im Klaren: „Freilich muß nach großen Umwälzungen der menschlichen Gesellschaften das Staatsvermögen, welches ein Gemeingut der Gesittung ist, zwischen den Völkerschaften beider Halbkugeln sich ungleich verteilt finden; allein nach und nach stellt das Gleichgewicht sich her, und es wäre ein verderbliches, ich möchte beinahe sagen gottloses Vorurteil, im zunehmenden Wohlstand irgend einer anderen Gegend unseres Planeten den Untergang oder das Verderben des alten Europa erblicken zu wollen“.16 Damit stellt er sich in diesem Artikel im Morgenblatt für gebildete Stände bereits 1826 gegen den augenblicklich drohenden globalen Handelskrieg mit seinen Strafzöllen und gegen Abschottungsbestrebungen vor Migrationsbewegungen. Die Zahlen haben Humboldt mittlerweile recht gegeben. Die damals beginnende Globalisierung verschaffte einem breiten Teil der Weltbevölkerung eine größere Warenvielfalt zu niedrigeren Preisen; sie hat Hunderten Millionen von verstädterten Landarbeitern erlaubt, bessere Stellen zu höheren Löhnen zu finden, und ihnen zuvor verschlossene Leistungen vor allem in den Bereichen Gesundheit und Bildung zugänglich gemacht. Laut dem Internationalen Währungsfonds hat sich der Prozentsatz jenes Bevölkerungsanteils in den Entwicklungsländern, der in extremer Armut leben muss (mit weniger als einem Dollar pro Tag), allein zwischen 1980 und 2007 um die Hälfte reduziert.17 „Der Handelsverkehr strebt dasjenige zu vereinbaren, was eine eifersüchtige Staatskunst lange getrennt hielt. Und mehr noch: es liegt in der Natur der Gesittung, dass sie vorwärts schreitet, ohne darum zu erlöschen, wo sie zuerst entstanden war. Ihre fortschreitende Bewegung von Ost nach West, von Asien nach Europa, beweist nichts gegen diese Behauptung. Eine helle Lichtflamme behält ihren Glanz, auch wenn sie einen größeren Raum erleuchtet.“18

Einsatz für Menschenrechte

Die Fackel der Aufklärung, die Humboldt in seiner Zeit hochhielt, richtete sich gegen jedweden chauvinistischen Nationalismus, indem er sein fundamentales Bekenntnis zu den Menschenrechten ebenso offen zum Ausdruck brachte, wie er sich für den sozialen Fortschritt einsetzte. Ungleichheiten sah er nicht als ererbt, sondern vielmehr als Produkt geschichtlicher Umstände an, die veränderbar sind. Ähnlich wie bei den Isothermen musste aber auch hier den lokalen Rahmenbedingungen Rechnung getragen werden. So vermerkte er bereits als Dreiunddreißigjähriger während seiner Südamerikareise in seinem Journal: „Man sagt, dass die Indios müßig und faul sind. Jeder Mensch ist es, der die Frucht seiner Arbeit nicht genießt. […] Die Sklaverei und, was schlimmer ist als Sklaverei, dieser Geist der Bevormundung, in die ein falsches Mitleid den Indio gebracht hat und der jeder Art von Unterdrückung die Tür geöffnet hat, haben den Indio abgestumpft. Die Indios sind wie die Juden anzusehen, die Verfolgung und Fanatismus aus einer ehemals kriegerischen und fleißigen Nation in eine käufliche, kraftlose und müßige verwandelt haben“.19 Der fortschrittlichen Gesetzgebung der Nordstaaten der USA hat Humboldt bereits früh seine Anerkennung gezollt und die Hoffnung ausgedrückt, „die Verbesserung in der Lage der Schwarzen“ möge sich bald auf die Antillen, Guyana und Brasilien übertragen. „Um nach und nach die Fesseln der Sklaverei lockern zu können, bedarf es der strengsten Aufrechterhaltung der gegen den Sklavenhandel erlassenen Gesetze, der über die Zuwiderhandelnden verhängten, entehrenden Strafen, der Errichtung gemischter Gerichtshöfe und des mit gerechter Gegenseitigkeit geübten Nachsuchungsrechtes.“20 Als Verfechter der unabdingbaren Menschenwürde oft genug angefeindet, war er stolz darauf, lange nach Frankreich nun durch seine Bemühungen auch in Deutschland „zu Stande gebracht zu haben, was mir am meisten am Herzen lag: das von mir lang geforderte Negergesetz“.21 Humboldt ist es zu verdanken, dass 1857 in Preußen ein Gesetz verabschiedet wurde, das bestimmte: „Sklaven werden von dem Augenblicke an, wo sie Preußisches Gebiet betreten, frei. Das Eigentumsrecht des Herrn ist von diesem Zeitpunkt an erloschen“.22 Denselben Einsatz bewies er auch den deutschen Juden gegenüber, als er 1842 gegen die Pläne einer Wiederbelebung der alten Ständeordnung, welche Juden aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen trachtete, seine Stimme erhob: „So halte ich die beabsichtigten Neuerungen nach meiner innigsten Überzeugung für höchst aufregend, mit allen Grundsätzen der Staatsklugheit streitend, zu den bösartigsten Interpretationen der Motive veranlassend, Rechte raubend.“ Er nahm damit im historischen Rückblick auch die antisemitischen Gräuel der Zukunft vorweg: „Die Geschichte finsterer Jahrhunderte lehrt, zu welchen Abwegen solche Deutungen den Mut geben“.23 Und er setzte sich mehrfach mit Erfolg dafür ein, dass Juden unter Beibehaltung ihres religiösen Glaubens in akademische Positionen gelangten. Was jetzt als politisch korrektes, wenngleich jüngst wieder unter Druck geratenes Bekenntnis zu einem vorbehaltlosen Humanismus erscheint, ist um so bemerkenswerter, als es Humboldt oft gegen den damals vorherrschenden Zeitgeist aussprach und dabei statt Karrieredünkel moralisches Rückgrat bewies. Sein Einsatz für Minoritäten war dabei wohl auch durch eine Außenseiterposition motiviert, wie sie sich aufgrund seiner verdeckt ausgelebten Homosexualität ergab.

Von Panoramen zum Bewusstsein der Klimaveränderungen

Jedem provinziellen und spießigen Denken stellte er den kosmopolitischen Blick auf die Welt entgegen, nicht als bloßer Weltreisender auf einer Grand Tour, sondern als wacher Beobachter, dem es um das Zusammenwirken und Ineinandergreifen der Natur und allen Lebens in ihr ging: als „denkende Betrachtung der Einheit in der Vielheit“. Um „den Begriff eines Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklanges […] und der Gesamtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten“,24 förderte er die damals modernsten Mittel: Museen, Lichtbilder sowie Dio- und Panoramen als Weiterentwicklung der Landschaftsmalerei. Für Humboldt standen sie im Dienst einer Didaktik, die sich der Neugier bediente, um ein höheres Ziel als rein abstraktes Wissen zu erreichen: Verstandesbildung. Um den engen Horizont seiner Biedermeierzeit zu erweitern, setzte er auf den „magischen Effekt“ von Rundgemälden, weil der Beschauer dort, „wie in einen magischen Kreis gebannt und aller störenden Realität entzogen, sich von der fremden Natur selbst umgeben wähnt“.25 Was sich heute Immersionserlebnis nennt und von 3D-Kino und Dokumentarfilmen fortgeführt wird, hat seine Eindrücklichkeit nicht verloren. So realisierte beispielsweise der Berliner Künstler Yadegar Asisi, ganz im Geiste Humboldts, sein Riesenrundbild „Amazonien“ als 360-Grad-Panorama für einen alten Gasometer in Leipzig und dann im Erlebnis-Zoo Hannover. Als hyperrealistischer Kunstraum konzipiert, der ein komplexes Ökosystem samt Geräuschkulisse und Sonnenaufgang verdichtet vorstellt, soll es beeindruckende und berührende Einblicke in die Natur des bedrohten Regenwaldes bieten.
Abb. 1: Panorama „Amazonien“ von Yadegar Asisi (Ausschnitt) mit zentralen Besucherplattformen und Gästen [Bildnachweis]
Diese Vielfalt ist mittlerweile durch den Klimawandel ebenso gefährdet wie durch den Raubbau an der Natur, welchen Humboldt wiederholt anprangerte. So erkannte er, dass der Aral-See „außerordentlich im Schrumpfen begriffen“ war,26 machte als Ursache dafür die Kanalanlagen einer allzu intensiven, der Klimazone nicht angepassten Landwirtschaft aus und schrieb die großflächige Entwaldung des Urals der mangelnden Effizienz des dortigen Bergbaus zu.27 Mit diesen Beobachtungen legte Humboldt den Grundstein für eine erst lange nach ihm beginnende moderne Klimatologie, um eine Theorie der menschgemachten Erderwärmung „infolge der Fortschritte der menschlichen Gesellschaften, wenn diese sehr zahlreich und tätig wurden“28 anzudenken: „Der Mensch erzeugt Veränderungen auf der Oberfläche der Kontinente, indem er Wälder abholzt, die Verteilung des Wassers verändert und in den Zentren der Industriekultur große Mengen von Dämpfen und Abgasen in die Atmosphäre bläst. Diese Veränderungen sind ohne Zweifel wichtiger, als man allgemein annimmt.“29 Auch mit diesen kritischen Einsichten war Humboldt seiner Zeit weit voraus. Doch weshalb?

In der Zeit und ihr voraus

In der Provinz Europas als Patenkind des preußischen Kronprinzen aufgewachsen, von Hauslehrern jedoch nach den Prinzipien der Aufklärung in einem breiten Wissensspektrum privat unterrichtet, seinem Betätigungsdrang dann in einem weitgehend unpolitischen Amt – dem Bergbau – nachgehend und sich schnell Meriten erwerbend, war sein Status zwar elitär, in diesem Machtkreis zugleich aber auch peripher. Humboldt verkörperte gleichsam die Position seines Staates, der sich seiner politischen und intellektuellen Randlage bewusst war und es in seinem Aufholbedarf den Kulturzentren Paris und London gleichzutun suchte. Diplomatisch geschult und geschickt im Umgang mit Machthabern und einflussreichen Persönlichkeiten, als ehemaliger Beamter und später als Kammerherr am Hof mit dem Titel ‚Exzellenz‘ angesprochen, brachten seine amerikanischen und russischen Forschungsreisen jedesmal auch seinem König das erwünschte Renommee ein. Damit war Humboldt einerseits den Rivalitäten der französischen und englischen Wissenschaftler untereinander weitgehend enthoben und konnte andererseits gleichsam konkurrenzlos Neuland betreten und als Privatgelehrter studieren, ohne sich in akademischen Querelen aufreiben zu müssen. In dieser Sonderstellung, die weniger eine Gratwanderung denn das Ausmessen eines Freiraums unter besten Voraussetzungen war (selbst wenn er das mütterliche Erbe durch seine Expeditionen aufbrauchte), konnte er sein breit erworbenes Wissen dann auf alle denkbaren Felder anwenden. Das gilt auch für seine Reiseberichte, die dank ihrer unvoreingenommenen und empathischen Beobachtungen als ethnologisch aufmerksame Zeugnisse noch längst nicht so geschätzt werden wie seine wissenschaftlichen Schriften. Dabei kam sein praktisch veranlagtes und neugieriges Naturell ebenso zum Tragen wie der Umstand, dass der Forschungsstand der beginnenden wissenschaftlichen Disziplinen noch von einem Einzelnen überblickbar war, ob in Physik und Chemie, Geologie, Geographie und Astronomie, Biologie und Zoologie, Archäologie oder Ethnologie. Humboldts Leistung bestand darin, diese Disziplinen in wechselnden Feldstudien auf jeweils andere konkrete Forschungsgegenstände anzuwenden, übergreifend querzudenken, sie gegeneinander mit der ihm attestierten ‚Vergleichswut‘ zu überprüfen und einer Synthese zuzuführen. In seinen Schriften nie schulmeisterlich belehrend, in weltweiter wissenschaftlicher Korrespondenz mit führenden Köpfen der einzelnen Fächer, deren Leistungen anerkennend und das selbsttätig erworbene Wissen im Austausch mit ihnen immer wieder korrigierend, sah er sich in einem Verein mit Menschen, wo „jede Entfernung, welche Verschiedenheit der Religion und bürgerlicher Verfassung erzeugen könnten, aufgehoben ist“ und der „Wetteifer geistiger Bestrebungen die schönsten Blüten der Humanität, Wissenschaft und Kunst“ hervorbringt. „Nur in solchen engeren Kreisen, nur unter Männern, welche Gleichheit der Studien zueinander hinzieht, sind mündliche Diskussionen möglich. Ohne diese Art der Erörterung, ohne Ansicht der gesammelten, oft schwer zu bestimmenden, und darum streitigen Naturkörper, würde der freymüthige Verkehr Wahrheit suchender Männer eines belebenden Princips beraubt.“30 Mit diesem dialektischen Verständnis von Forschung, in dem Erkenntnisse nicht der statischen Lehre einzelner, sondern demokratischen Auseinandersetzungen unterworfen sind – heute als Peer Review bezeichnet –, nahm er Dynamiken des modernen Wissenschaftsbetriebs vorweg und wurde selbst zu dessen hervorragendem Exempel. Sein undogmatisches und humanistisches Denken, verbunden mit der Fähigkeit, scheinbar unterschiedliche wissenschaftliche Blickwinkel an einem spezifischen Gegenstand zu schneiden, hob Humboldt aus seiner Epoche hervor und ließ ihn zu Einsichten gelangen, die noch heute Gültigkeit haben. Im Geist seiner Zeit sah er zwar „den Menschen die Reihe höherer Organisationen vollenden“, doch zugleich „durch irdische Bande an den Typus niederer Gebilde gekettet“.31 Diese ganzheitliche Schau, die auch bis ganz ‚unten‘ reichte, war das aufklärerisch Revolutionäre seines Ansatzes, der seine Schriften weiterhin relevant macht. Humboldt verkörpert damit par excellence die Wende von einem theologisch geprägten zu einem empirischen Denken, dem der Naturkörper auch weiterhin schwer bestimmbar und streitig bleibt. Er arbeitet das Wechselspiel der Naturgesetze heraus, jenseits dessen die Reduktion ihrer Kräfte auf eine einzige, gar göttliche Macht nicht mehr möglich war. „Die Physik beschränkt sich darauf, wie es ihr Name schon sagt, die Erscheinungen der natürlichen Welt mit den Eigenschaften der Materie zu erklären; das letzte Ziel der experimentellen Wissenschaften ist es doch zur Existenz der Gesetze zu gelangen und diese nach und nach zu verallgemeinern. Alles, was darüber hinausgeht, gehört nicht in das Gebiet der Physik der Welt und ist Teil einer Art gehobenerer Spekulationen.“32 Anders als viele seiner Kollegen verstieg Humboldt sich nie dazu, mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse metaphysische Prinzipien konstruieren oder bekräftigen zu wollen, „als Luftgebilde großer und allgemeiner Weltanschauungen“.33 Stattdessen blieb er der Konkretheit der Dinge verhaftet, denen er praktische und für jedermann einsichtige Dimensionen abgewann. Dafür enthielt er sich Aussagen über „Gesetze anderer geheimnisvollerer Art“ des „vielfach gestalteten, mit schaffender Geisteskraft begabten, spracherzeugenden Menschengeschlechts. Ein physisches Naturgemälde bezeichnet die Grenze, wo die Sphäre der Intelligenz beginnt und der ferne Blick sich senkt in eine andere Welt. Es bezeichnet die Grenze und überschreitet sie nicht“.34 Mit seiner Ablösung der Forschung vom transzendent Religiösen lässt sich Humboldt als Gründervater eines modernen Wissenschaftsverständnisses vorführen, das den objektiven Eigengesetzlichkeiten der Welt nachzuspüren vermag. So ist denn bei ihm nie davon die Rede, welche Art von rückbindender re-ligio das von ihm entworfene Weltbild ermöglicht: Der Begriff einer „Schöpfung“ ist allenfalls noch eine rhetorische Figur, ohne dass er neue Formen der Transzendenz für nötig erachtet hätte. Insofern ist seine Pionierleistung und das Erbe, das er damit hinterlassen hat, der Entwurf eines rein empirischen Panoramas, dessen Details und Hintergründe die folgenden Jahrhunderte entlang Humboldts Linien ausarbeiteten. Sein Materialismus hat heute jedoch eine philosophische Krisis zur Folge, indem er die Frage nach einer existenziellen Sinnstiftung aufwirft. Humboldts Rundgemälde vermag somit als Spiegel der Gegenwart zu dienen: indem es nun gilt, sich selbst zu erkennen. Seiner Zeit voraus zu sein, heißt nicht nur, das nunmehr Etablierte vorweggenommen, sondern darin auch das Ungelöste vor Augen gerückt und ein Rätsel formuliert zu haben, dessen Antwort greifbar scheint, ohne schon wirklich einsichtig geworden zu sein.

Abbildung

Abb. 1: „Panorama AMAZONIEN von Yadegar Asisi (Ausschnitt) mit zentralen Besucherplattformen und Gästen“, © asisi, photographiert von Christian Wyrwa, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der asisi F&E GmbH.

Bibliographie

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  • Manlio Graziano, What is a Border, Stanford, CA: Stanford University Press 2018.
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  • Alexander von Humboldt, Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen aus seinen Reisetagebüchern, hrsg. von Margot Faak, Berlin: Akademie ²2003.
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  • Eberhard Knobloch, Karin Reich und Elena Roussanova, Alexander von Humboldts Geniestreich. Hintergründe und Folgen seines Briefs an den Herzog von Sussex für die Erforschung des Erdmagnetismus, Heidelberg: Springer 2016.
  • Adolph Kohut, Alexander von Humboldt und das Judentum, Leipzig: Pardubitz 1871.
  • Romy Werther und Eberhard Knobloch (Hrsg.), Alexander von Humboldt – August Böckh. Briefwechsel, Berlin: Akademie 2011.