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Alexander von Humboldt: „Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1795-Die_Lebenskraft_oder-1> [abgerufen am 01.05.2024].

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Permalink:
https://humboldt.unibe.ch/text/1795-Die_Lebenskraft_oder-1
Die Versionsgeschichte zu diesem Text finden Sie auf github.
Titel Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung
Jahr 1795
Ort Tübingen
Nachweis
in: Die Horen 1:5 (1795), S. 90–96.
Postumer Nachdruck
„Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Von Alexander von Humboldt. Bei der Wiederkehr seines 150. Geburtstags besprochen von A. Hansen.“, in: Naturwissenschaftliche Wochenschrift 34 (1919), S. 526–537.

Alexander von Humboldt, Das große Lesebuch, herausgegeben von Oliver Lubrich, Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 9–14.
Entsprechungen in Buchwerken
Alexander Humboldt, Ansichten der Natur, Zweite verbesserte und vermehrte Ausgabe, Stuttgart und Tübingen: Cotta 1826, Bd. 2, S. 187–200.

Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur, Dritte verbesserte und vermehrte Ausgabe, Stuttgart und Tübingen: Cotta 1849, Bd. 2, S. 299–314.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Auszeichnung: Sperrung; Fußnoten mit Asterisken; Schmuck: Initialen; Besonderes: griechische Buchstaben.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: I.37
Dateiname: 1795-Die_Lebenskraft_oder-1
Statistiken
Seitenanzahl: 7
Zeichenanzahl: 10298
Bilddigitalisate

Weitere Fassungen
Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung (Tübingen, 1795, Deutsch)
Жизненная сила, или генiй родосский. (Сочиненiе Б. Александра Гумбольдта) [Žiznennaja sila, ili genij rodosskij. (Sočinenie B. Aleksandra Gumbolʹdta)] (Moskau, 1829, Russisch)
Alex. v. Humboldt, die Lebenskraft etc. (Zeitz; Leipzig, 1835, Deutsch)
Die Lebenskraft oder der rhodische Genius (Berlin, 1854, Deutsch)
Жизненная сила или родосскiй генiй. (Статья Ал. Гумбольдта.) [Žiznennaja sila ili rodosskij genij. (Statʹja Al. Gumbolʹdta.)] (Moskau, 1856, Russisch)
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Die Lebenskraftoderder Rhodiſche Genius.Eine Erzaͤhlung.

Die Syrakuſer hatten ihren Poikile wie die Athener.Vorſtellungen von Goͤttern und Heroen, griechiſche und italiſche Kunſtwerke bekleideten die bunten Hallen desPortikus. Unablaͤßig ſah man das Volk dahin ſtroͤmen,den jungen Krieger, um ſich an den Thaten der Ahnherrn,den Kuͤnſtler, um ſich an dem Pinſel groſſer Meiſterzu weiden. Unter den zahlloſen Gemaͤhlden, welche deremſige Fleiß der Syrakuſer aus dem Mutterlande geſam-melt, war nur eines, das ſeit einem vollen Jahrhundertedie Aufmerkſamkeit aller Voruͤbergehenden auf ſich zog.Wenn es dem Olympiſchen Jupiter, dem Staͤdtegruͤnder Cekrops, dem Heldenmuth des Harmedius und Ariſtogi-ton an Bewunderern fehlte, ſo ſtand doch um jenes Bilddas Volk in dichten Rotten gedraͤngt. Woher dieſe Vor-liebe fuͤr daſſelbe? War es ein gerettetes Werk des Apel-les, oder ſtammte es aus der Mahlerſchule des Kallima-chus * her? Nein, Anmuth und Grazie ſtrahlten zwaraus dem Bilde hervor, aber an Verſchmelzung der Far-
* Cacizotechnos. Plin. XXXIV. 19. n. 35.
|91| ben, an Charakter und Styl des Ganzen durfte es ſich mitvielen andern im Poikile nicht meſſen.
Das Volk ſtaunt an und bewundert, was es nichtkennt und dieſe Art des Volks begreift viel unter ſich.Seit einem Jahrhundert war das Bild aufgeſtellt und ohn-erachtet Syrakus in ſeinen engen Mauren mehr Kunſt-genie umfaßte, als das ganze uͤbrige meerumfloſſene Si-zilien — ſo blieb der Sinn deſſelben doch immer unent-raͤthſelt. Man wußte nicht einmal beſtimmt, in welchemTempel daſſelbe ehemals geſtanden habe. Denn es wardvon einem geſtrandeten Schiffe gerettet, und nur dieWaaren, welche dieſes fuͤhrten, lieſſen ahnen, daß esvon Rhodus kam. An dem Vorgrunde des Gemaͤhldes ſah man Juͤng-linge und Maͤdchen in eine dichte Gruppe zuſammenge-draͤngt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, abernicht von dem ſchlanken Wuchſe, den man in den Sta-tuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der ſtaͤr-kere Gliederbau, welcher Spuren muͤhevoller Anſtrengungtrug, der menſchliche Ausdruck ihrer Sehnſucht und ihresKummers, alles ſchien ſie des Himmliſchen oder Goͤtter-aͤhnlichen zu entkleiden, und an ihre irrdiſche Heimathzu feſſeln. Ihr Haar war mit Laub und Feldblumeneinfach geſchmuͤckt. Verlangend ſtreckten ſie die Armegegen einander aus, aber ihr ernſtes truͤbes Auge warnach einem Genius gerichtet, der von lichtem Schimmerumgeben, in ihrer Mitte ſchwebte. Ein Schmetterlingſaß auf ſeiner Schulter, und in der Rechten hielt er einelodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich,rund, ſein Blick himmliſch lebhaft. Gebieteriſch ſah er |92| auf die Juͤnglinge und Maͤdchen zu ſeinen Fuͤſſen herab.Mehr charakteriſtiſches war an dem Gemaͤhlde nicht zuunterſcheiden. Nur am Fuſſe glaubten einige noch dieBuchſtaben ζ und ω zu bemerken, woraus man (denn dieAntiquarier waren damals nicht minder kuͤhn, als jetzt)den Namen eines Kuͤnſtlers Zenodorus, alſo gleichnamigmit dem ſpaͤtern Koloß-Gieſſer, ſehr ungluͤcklich zuſam-men ſetzte. Dem Rhodiſchen Genius, ſo nannte man das raͤthſel-hafte Bild, fehlte es indeß nicht an Auslegern in Syra-kus. Kunſtkenner, beſonders die juͤngſten, wenn ſie voneiner fluͤchtigen Reiſe nach Corinth oder Athen zuruͤkka-men, haͤtten geglaubt, alle Anſpruͤche auf Genie ver-laͤugnen zu muͤſſen, wenn ſie nicht ſogleich mit einer neuenErklaͤrung hervorgetreten waͤren. Einige hielten den Ge-nius fuͤr den Ausdruck geiſtiger Liebe, die den Genußſinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er ſolle dieHerrſchaft der Vernunft uͤber die Begierden andeuten. DieWeiſeren ſchwiegen, ahneten etwas Erhabenes, und er-goͤzten ſich im Poikile an der einfachen Kompoſition derGruppe. So blieb die Sache immer unentſchieden. Das Bildward mit mannigfachen Zuſaͤtzen copirt, in Reliefs geformtund nach Griechenland geſandt, ohne daß man auch nuruͤber ſeinen Urſprung je einige Aufklaͤrung erhielt. Alseinſt mit dem fruͤhen Aufgange der Plejaden die Schif-fahrt ins Aegaͤiſche Meer wieder eroͤfnet ward, kamenSchiffe aus Rhodus im Hafen von Syrakus an. Sieenthielten einen Schatz von Statuen, Altaͤren, Candela-bern und Gemaͤhlden, welche die Kunſtliebe der Dionyſe |93| in Griechenland hatte ſammeln laſſen. Unter den Ge-maͤhlden war eines, das man augenblicklich fuͤr ein Ge-genſtuͤck zum Rhodiſchen Genius erkannte. Es war vongleicher Groͤße, und zeigte ein aͤhnliches Kolorit; nurwaren die Farben beſſer erhalten. Der Genius ſtand eben-falls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit geſenk-tem Haupte, die erloſchene Fackel zur Erde gekehrt, derKreis der Juͤnglinge und Maͤdchen ſtuͤrzte in mannigfa-chen Umarmungen, gleichſam uͤber ihm zuſammen. IhrBlick war nicht mehr truͤbe und gehorchend, ſondern kuͤn-digte den Zuſtand wilder Entfeſſelung, die Befriedigunglang genaͤhrter Sehnſucht an. Schon ſuchten die Syrakuſiſchen Alterthumsforſcherihre vorige Erklaͤrungen vom Rhodiſchen Genius umzu-modeln, damit ſie auch auf dieſes Kunſtwerk paßten, alsder Tyrann Befehl gab, es in das Haus des Epicharmus zu tragen. Dieſer Philoſoph aus der Schule des Pytha-goras, wohnte in dem entlegenen Theile von Syrakus,den man Tycha nannte. Er beſuchte ſelten den Hof derDionyſe, nicht, als haͤtten nicht geiſtreiche Maͤnner ausallen griechiſchen Pflanzſtaͤdten ſich um ſie verſammlet, ſon-dern weil ſolche Fuͤrſtennaͤhe auch den geiſtreichſten Maͤn-nern von ihrem Geiſte raubt. Er beſchaͤftigte ſich unab-laͤßig mit der Natur der Dinge, und ihren Kraͤften, mitder Entſtehung von Pflanzen und Thieren, mit den har-moniſchen Geſetzen, nach denen Weltkoͤrper im Großenund Schneeflocken und Hagelkoͤrner im Kleinen ſich kugel-foͤrmig ballen. Da er uͤberaus bejahrt war, ſo ließ erſich taͤglich in dem Poikile und von da nach Naſos an denHafen fuͤhren, wo ihm ſein Auge, wie er ſagte, ein Bilddes Unbegrenzten, Unendlichen gab, nach dem ſein Geiſt |94| vergebens ſtrebte. Er ward von dem niedern Volke unddoch auch von dem Tyrannen geehrt. Dieſem wich er aus,wie er jenem freudig entgegen kam. Epicharmus lag entkraͤftet auf ſeinem Ruhebette, alsder Befehl des Dionyſius ihm das neue Kunſtwerk ſand-te. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des Rhodiſchen Genius mit zu uͤberbringen, und der Philo-ſoph ließ beyde neben einander vor ſich ſtellen. Sein Blickwar lange auf ihnen geheftet, dann rief er ſeine Schuͤlerzuſammen und hub mit geruͤhrter Stimme an: „Reißt den Vorhang vor dem Fenſter hinweg, daß„ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbe-„lebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich„uͤber die innern Triebraͤder der Natur, uͤber den Unter-„ſchied der Stoffe geſonnen und erſt heute laͤßt der Rho-„diſche Genius mich klarer ſehen, was ich ſonſt nur ahne-„te. Wenn der Unterſchied der Geſchlechter lebendige We-„ſen wohlthaͤtig und fruchtbar aneinander kettet, ſo wird„in der unorganiſchen Natur der rohe Stoff von gleichen„Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos haͤufte ſich„die Materie und mied ſich, je nachdem Freundſchaft„oder Feindſchaft ſie anzog oder abſtieß. Das himmliſche„Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Eiſen; das„geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde miſcht„ſich zur Erde; das Kochſalz gerinnt aus dem Meere zu-„ſammen und die Saͤure der Stuͤptaͤrie * ſtrebt, ſich mit dem„Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur„ſich zu dem ſeinen zu geſellen. Kein irrdiſcher Stoff
* Alaun. — Schwefelſaͤure, den Alten bekannt.
|95| „(wer wagt es, das Licht dieſen beyzuzaͤhlen?) iſt daher„irgendwo in Einfachheit und reinem, jungfraͤulichen„Zuſtande zu finden. Alles eilt von ſeinem Entſtehen an„zu neuen Verbindungen und nur die ſcheidende Kunſt„des Menſchen kann ungepaart darſtellen was Ihr verge-„bens im Inneren der Erde und in dem beweglichen„Waſſer- und Luft-Oceane ſuchtet. In der todten un-„organiſchen Materie iſt traͤge Ruhe, ſo lange die Bande„der Verwandtſchaften nicht geloͤſt werden, ſo lange ein„dritter Stoff nicht eindringt, um ſich den vorigen bei-„zugeſellen. Aber auch auf dieſe Stoͤrung folgt wieder„unfruchtbare Ruhe.”
„Anders iſt die Miſchung derſelben Stoffe im Thier-„und Pflanzenkoͤrper. Hier tritt die Lebenskraft gebiete-„riſch in ihre Rechte ein; ſie kuͤmmert ſich nicht um die„demokritiſche Freundſchaft und Feindſchaft der Atome;„ſie vereinigt Stoffe, die in der unbelebten Natur ſich„ewig fliehen, und trennt, was in dieſer ſich unaufhalt-„ſam ſucht.” „Tretet naͤher um mich her, meine Schuͤler, und„erkennet im Rhodiſchen Genius, in dem Ausdruck ſei-„ner jugendlichen Staͤrke, im Schmetterling auf ſeiner„Schulter, im Herrſcherblick ſeines Auges, das Symbol„der Lebenskraft, wie ſie jeden Keim der organiſchen„Schoͤpfung beſeelt. Die irrdiſchen Elemente, zu ſeinen„Fuͤßen, ſtreben gleichſam, ihrer eigenen Begierde zu„folgen, und ſich mit einander zu miſchen. Befehlend„droht ihnen der Genius mit aufgehabener, hochlodern-„der Fackel, und zwingt ſie, ihrer alten Rechte uneinge-„denk, ſeinem Geſetze zu folgen.” |96| „Betrachtet nun das neue Kunſtwerk, welches der„Tyrann mir zur Auslegung geſandt; richtet Eure Au-„gen vom Bilde des Lebens ab, auf das Bild des Todes.„Aufwaͤrts weggeflohen iſt der Schmetterling, ausgelo-„dert die umgekehrte Fackel, geſenkt das Haupt des Juͤng-„lings. Der Geiſt iſt in andre Sphaͤren entwichen, die„Lebenskraft erſtorben. Nun reichen ſich Juͤnglinge und„Maͤdchen froͤlich die Haͤnde. Nun treten die irrdiſchen„Stoffe in ihre Rechte ein. Der Feſſeln entbunden fol-„gen ſie wild, nach langer Entbehrung, ihrem geſelligen„Triebe, und der Tag des Todes wird ihnen ein braͤut-„licher Tag. — So gieng die todte Materie von Lebens-„kraft beſeelt, durch eine zahlloſe Reihe von Geſchlechtern,„und derſelbe Stoff umhuͤllte vielleicht den goͤttlichen„Geiſt des Pythagoras, in dem vormals ein duͤrftiger„Wurm im augenblicklichen Genuſſe ſich ſeines Daſeyns„freute!” „Geh Polykles und ſage dem Tyrannen, was du ge-„hoͤrt haſt. Und Ihr, meine Lieben, Phradman undSkopas und Timokles tretet naͤher und naͤher zu mir.„Ich fuͤhle, daß die ſchwache Lebenskraft auch in mir„den irrdiſchen Stoff nicht lange mehr zaͤhmen wird. Auch„er fordert ſeine Freyheit wieder. Fuͤhrt mich noch einmal„in den Poikile, und von da ans offene Geſtade. Bald„werdet ihr meine Aſche ſammlen!”