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Alexander von Humboldt: „Die Lebenskraft oder der rhodische Genius“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1795-Die_Lebenskraft_oder-4-neu> [abgerufen am 29.03.2024].

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https://humboldt.unibe.ch/text/1795-Die_Lebenskraft_oder-4-neu
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Titel Die Lebenskraft oder der rhodische Genius
Jahr 1854
Ort Berlin
Nachweis
in: Gustav Michaelis, Die Vereinfachungen der deutschen Rechtschreibung vom Standpunkte der Stolzeschen Stenographie beleuchtet, Berlin: Franz Duncker 1854, S. 151–156.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur; Auszeichnung: Sperrung; Besonderes: griechische Buchstaben, Kleinschreibung von Substantiven.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: I.37
Dateiname: 1795-Die_Lebenskraft_oder-4-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 6
Zeichenanzahl: 9931

Weitere Fassungen
Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung (Tübingen, 1795, Deutsch)
Жизненная сила, или генiй родосский. (Сочиненiе Б. Александра Гумбольдта) [Žiznennaja sila, ili genij rodosskij. (Sočinenie B. Aleksandra Gumbolʹdta)] (Moskau, 1829, Russisch)
Alex. v. Humboldt, die Lebenskraft etc. (Zeitz; Leipzig, 1835, Deutsch)
Die Lebenskraft oder der rhodische Genius (Berlin, 1854, Deutsch)
Жизненная сила или родосскiй генiй. (Статья Ал. Гумбольдта.) [Žiznennaja sila ili rodosskij genij. (Statʹja Al. Gumbolʹdta.)] (Moskau, 1856, Russisch)
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Alexander von Humboldt, geb. 1769. Die Lebenskraft oder der rhodiſche Genius.

Die Syracuſer hatten ire poikile wie die Athener. Vorſtel-lungen von göttern und heroen, griechiſche und italiſche kunſtwerkebekleideten die bunten hallen des porticus. Unabläſſig ſah mandas volk dahin ſtrömen: den jungen krieger, um ſich an den tatender anherrn, den künſtler, um ſich an dem pinſel großer meiſterzu weiden. Unter den zalloſen gemälden, welche der emſige fleißder Syracuſer aus dem mutterlande geſammelt hatte, war nureins, das ſeit einem vollen jarhunderte die aufmerkſamkeit allervorübergehenden auf ſich zog. Wenn es dem olympiſchen Jupi-ter, dem ſtädtegründer Cecrops, dem heldenmut des Harmodius |152| und Ariſtogiton an bewunderern felte; ſo ſtand um jenes bilddas volk in dichten rotten gedrängt. Woher diſe vorliebe für das-ſelbe? War es ein gerettetes werk des Apelles, oder ſtammte esaus der malerſchule des Callimachus her? Nein, anmut und grazieſtralten zwar aus dem bilde hervor, aber an verſchmelzung derfarben, an charakter und ſtyl des ganzen durfte es ſich mit vilenandern in der poikile nicht meſſen. Das volk ſtaunt an und bewundert, was es nicht verſteht,und diſe art des volks begreift vile klaſſen unter ſich. Seit einemjarhundert war das bild aufgeſtellt, und unerachtet Syracus inſeinen engen mauern mer kunſtgenie umfaſſte als das ganze übrigemerumfloſſene Sicilien, ſo blib der ſinn deſſelben doch immer un-enträtſelt. Man wuſſte nicht einmal beſtimmt, in welchem tempeldasſelbe ehemals geſtanden habe. Denn es ward von einem ge-ſtrandeten ſchiffe gerettet; und nur die waren, welche diſes fürte,ließen anden, daß es von Rhodus kam. An dem vorgrunde des gemäldes ſah man jünglinge undmädchen in eine dichte gruppe zuſammengedrängt. Sie waren onegewand, wolgebildet, aber nicht von dem ſchlanken wuchſe, denman in den ſtatuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert.Der ſtärkere gliderbau, welcher ſpuren mühevoller anſtrengungentrug, der menſchliche ausdruck irer ſenſucht und ires kummers,alles ſchin ſie des himmliſchen oder götteränlichen zu entkleidenund an ire irdiſche heimat zu feſſeln. Ir har war mit laub undfeldblumen einfach geſchmückt. Verlangend ſtreckten ſie die armegegen einander aus; aber ir ernſtes trübes auge war nach einemgenius gerichtet, der, von lichtem ſchimmer umgeben, in irer mitteſchwebte. Ein ſchmetterling ſaß auf ſeiner ſchulter, und in derrechten hielt er eine lodernde fackel empor. Sein gliderbau warkindlich rund, ſein blick himmliſch lebhaft. Gebieteriſch ſah er aufdie jünglinge und mädchen zu ſeinen füßen herab. Mer charak-teriſtiſches war an dem gemälde nicht zu unterſcheiden. Nur amfuße glaubten einige noch die buchſtaben ζ und ς zu bemerken,woraus man (denn die antiquarier waren damals nicht minderkün als jetzt) den namen eines künſtlers Zenodorus, alſo gleich- |153| namig mit dem ſpäteren coloßgießer, ſer unglücklich zuſam-menſetzte. Dem rhodiſchen genius, ſo nannte man das rätſelhafte bild,felte es indeß nicht an auslegern in Syracus. Kunſtkenner, be-ſonders die jüngſten, wenn ſie von einer flüchtigen reiſe nach Ko-rinth oder Athen zurückkamen, hätten geglaubt alle anſprüche auftalent verläugnen zu müſſen, wenn ſie nicht ſogleich mit einerneuen erklärung hervorgetreten wären. Einige hielten den geniusfür den ausdruck geiſtiger liebe, die den genuß ſinnlicher freudenverbietet; andere glaubten, er ſolle die herſchaft der vernunft überdie begirden andeuten. Die weiſeren ſchwigen, andeten etwas er-habeneres, und ergötzten ſich in der poikile an der einfachen com-poſition der gruppe. So blib die ſache immer unentſchiden. Das bild ward mitmannigfachen zuſätzen copirt und nach Griechenland geſandt, onedaß man auch nur über ſeinen urſprung je einige aufklärung er-hielt. Als einſt mit dem frühaufgang der Plejaden die ſchifffartins ägäiſche mer wider eröffnet ward, kamen ſchiffe aus Rhodus in den hafen von Syracus. Sie enthielten einen ſchatz von ſta-tuen, altären, candelabern und gemälden, welche die kunſtliebe derDionyſe in Griechenland hatte ſammeln laſſen. Unter den ge-mälden war eins, das man augenblicklich für ein gegenſtück zum rhodiſchen genius erkannte. Es war von gleicher größe und zeigteein änliches colorit, nur waren die farben beſſer erhalten. Dergenius ſtand ebenfalls in der mitte, aber one ſchmetterling, mitgeſenktem haupte, die erloſchene fackel zur erde gekert. Der kreisder jünglinge und mädchen ſtürzte in mannigfachen umarmungengleichſam über im zuſammen; ir blick war nicht mer trübe undgehorchend, ſondern kündigte den zuſtand wilder entfeſſelung, diebefridigung lang genärter ſenſucht an. Schon ſuchten die ſyracuſiſchen altertumsforſcher ire vorigenerklärungen vom rhodiſchen genius umzumodeln, damit ſie auchauf diſes kunſtwerk paſſten: als der tyrann befehl gab es in dashaus des Epicharmus zu tragen. Diſer philoſoph, aus der ſchuledes Pythagoras, wonte in dem entlegenen teile von Syracus, |154| den man Tyche nannte. Er beſuchte ſelten den hof der Dionyſe:nicht, als hätten nicht ausgezeichnete männer aus allen griechi-ſchen pflanzſtädten ſich um in verſammelt, ſondern weil ſolchefürſtennähe auch den geiſtreichſten männern von irem geiſte undirer freiheit raubt. Er beſchäftigte ſich unabläſſig mit der naturder dinge und iren kräften, mit der entſtehung von pflanzen undtieren, mit den harmoniſchen geſetzen, nach denen weltkörper imgroßen, und ſchneflocken und hagelkörner im kleinen ſich kugel-förmig ballen. Da er überaus bejart war, ſo ließ er ſich täglichin die poikile und von da nach Naſos an den hafen füren, woim im weiten mere, wie er ſagte, ſein auge ein bild des unbe-grenzten, unendlichen gab, nach dem der geiſt vergebens ſtrebt.Er ward von dem nideren volke und doch auch von dem tyrannengeert. Diſem wich er aus, wie er jenem freudig und oft hülf-reich entgegenkam. Epicharmus lag jetzt entkräftet auf ſeinem ruhebette, als derbefehl des Dionyſius im das neue kunſtwerk ſandte. Man hatteſorge getragen im eine treue copie des rhodiſchen genius mit zuüberbringen, und der philoſoph ließ beide nebeneinander vor ſich ſtellen.Sein blick war lange auf ſie geheftet, dann rief er ſeine ſchülerzuſammen und hub mit gerürter ſtimme an: „Reißt den vorhang von dem fenſter hinweg, daß ich michnoch einmal weide an dem anblick der reichbelebten lebendigenerde! Sechzig jare lang habe ich über die inneren tribräder dernatur, über den unterſchid der ſtoffe geſonnen, und erſt heuteläſſt der rhodiſche genius mich klarer ſehen, was ich ſonſt nurandete. Wenn der unterſchid der geſchlechter lebendige weſenwoltätig und fruchtbar an einander kettet, ſo wird in der anor-ganiſchen natur der rohe ſtoff von gleichen triben bewegt. Schonim dunklen chaos häufte ſich die materie und mid ſich, je nach-dem freundſchaft oder feindſchaft ſie anzog oder abſtieß. Dashimmliſche feuer folgt den metallen, der magnet dem eiſen;das geribene electrum bewegt leichte ſtoffe; erde miſcht ſich zurerde; das kochſalz gerinnt aus dem mere zuſammen, und dieſaure feuchte der stypteria wie das wollige harſalz trichitis lie- |155| ben den ton von Melos. Alles eilt in der unbelebten natur ſichzu dem ſeinen zu geſellen. Kein irdiſcher ſtoff (wer wagt es daslicht diſen beizuzälen?) iſt daher irgendwo in einfachheit und rei-nem, jungfräulichem zuſtande zu finden. Alles ſtrebt von ſeinementſtehen an zu neuen verbindungen; und nur die ſcheidende kunſtdes menſchen kann ungepart darſtellen, was Ir vergebens im in-nern der erde und in dem beweglichen waſſer- oder luftoceaneſucht. In der toten anorganiſchen materie iſt träge ruhe, ſolange die bande der verwandtſchaft nicht gelöſt werden, ſo langeein dritter ſtoff nicht eindringt um ſich den vorigen beizugeſellen.Aber auch auf diſe ſtörung folgt dann wider unfruchtbare ruhe. Anders iſt die miſchung derſelben ſtoffe im tier- und pflan-zenkörper. Hier tritt die lebenskraft gebieteriſch in ire rechteein; ſie kümmert ſich nicht um die demokritiſche freundſchaft undfeindſchaft der atome; ſie vereinigt ſtoffe, die in der unbelebtennatur ſich ewig fliehen, und trennt, was in diſer ſich unaufhalt-ſam ſucht. Tretet näher um mich her, meine ſchüler, und erkennet im rhodiſchen genius, in dem ausdruck ſeiner jugendlichen ſtärke, imſchmetterling auf ſeiner ſchulter, im herſcherblick ſeines auges dasſymbol der lebenskraft, wie ſie jeden keim der organiſchenſchöpfung beſelt. Die irdiſchen elemente, zu ſeinen füßen, ſtre-ben gleichſam irer eigenen begirde zu folgen und ſich mit einan-der zu miſchen. Befehlend droht inen der genius mit aufgehobener,hochlodernder fackel, und zwingt ſie, irer alten rechte uneingedenk,ſeinem geſetze zu folgen. Betrachtet nun das neue kunſtwerk, welches der tyrann mirzur auslegung geſandt; richtet eure augen vom bilde des lebensab auf das bild des todes. Aufwärts entſchwebt iſt der ſchmet-terling, ausgelodert die umgekerte fackel, geſenkt das haupt desjünglings. Der geiſt iſt in andere ſphären entwichen, die lebens-kraft erſtorben. Nun reichen ſich jünglinge und mädchen fröhlichdie hände. Nun treten die irdiſchen ſtoffe in ire rechte ein.Der feſſeln entbunden, folgen ſie wild, nach langer entberung,iren geſelligen triben; der tag des todes wird inen ein bräut- |156| licher tag. — So ging die tote materie, von lebenskraft beſelt,durch eine zalloſe reihe von geſchlechtern, und derſelbe ſtoff um-hüllte villeicht den göttlichen geiſt des Pythagoras, in welchemvormals ein dürftiger wurm in augenblicklichem genuſſe ſich ſei-nes daſeins erfreute. Geh Polykles! und ſage dem tyrannen, was du gehört haſt!Und ir, meine lieben, Euryphamos, Lyſis und Skopas, tretetnäher und näher zu mir! Ich füle, daß die ſchwache lebenskraftauch in mir den irdiſchen ſtoff nicht lange mer beherſchen wird.Er fordert ſeine freiheit wider. Fürt mich noch einmal in diepoikile und von da ans offene geſtade. Bald werdet ir meineaſche ſammeln!“