Die Lebenskraft oder der Rhodiſche Genius. Eine Erzaͤhlung. Die Syrakuſer hatten ihren Poikile wie die Athener. Vorſtellungen von Goͤttern und Heroen, griechiſche und italiſche Kunſtwerke bekleideten die bunten Hallen des Portikus. Unablaͤßig ſah man das Volk dahin ſtroͤmen, den jungen Krieger, um ſich an den Thaten der Ahnherrn, den Kuͤnſtler, um ſich an dem Pinſel groſſer Meiſter zu weiden. Unter den zahlloſen Gemaͤhlden, welche der emſige Fleiß der Syrakuſer aus dem Mutterlande geſammelt, war nur eines, das ſeit einem vollen Jahrhunderte die Aufmerkſamkeit aller Voruͤbergehenden auf ſich zog. Wenn es dem Olympiſchen Jupiter, dem Staͤdtegruͤnder Cekrops, dem Heldenmuth des Harmedius und Ariſtogiton an Bewunderern fehlte, ſo ſtand doch um jenes Bild das Volk in dichten Rotten gedraͤngt. Woher dieſe Vorliebe fuͤr daſſelbe? War es ein gerettetes Werk des Apelles, oder ſtammte es aus der Mahlerſchule des Kallimachus her? Nein, Anmuth und Grazie ſtrahlten zwar aus dem Bilde hervor, aber an Verſchmelzung der Farben, an Charakter und Styl des Ganzen durfte es ſich mit vielen andern im Poikile nicht meſſen. Cacizotechnos. Plin. XXXIV. 19. n. 35. Das Volk ſtaunt an und bewundert, was es nicht kennt und dieſe Art des Volks begreift viel unter ſich. Seit einem Jahrhundert war das Bild aufgeſtellt und ohnerachtet Syrakus in ſeinen engen Mauren mehr Kunſtgenie umfaßte, als das ganze uͤbrige meerumfloſſene Sizilien — ſo blieb der Sinn deſſelben doch immer unentraͤthſelt. Man wußte nicht einmal beſtimmt, in welchem Tempel daſſelbe ehemals geſtanden habe. Denn es ward von einem geſtrandeten Schiffe gerettet, und nur die Waaren, welche dieſes fuͤhrten, lieſſen ahnen, daß es von Rhodus kam. An dem Vorgrunde des Gemaͤhldes ſah man Juͤnglinge und Maͤdchen in eine dichte Gruppe zuſammengedraͤngt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber nicht von dem ſchlanken Wuchſe, den man in den Statuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der ſtaͤrkere Gliederbau, welcher Spuren muͤhevoller Anſtrengung trug, der menſchliche Ausdruck ihrer Sehnſucht und ihres Kummers, alles ſchien ſie des Himmliſchen oder Goͤtteraͤhnlichen zu entkleiden, und an ihre irrdiſche Heimath zu feſſeln. Ihr Haar war mit Laub und Feldblumen einfach geſchmuͤckt. Verlangend ſtreckten ſie die Arme gegen einander aus, aber ihr ernſtes truͤbes Auge war nach einem Genius gerichtet, der von lichtem Schimmer umgeben, in ihrer Mitte ſchwebte. Ein Schmetterling ſaß auf ſeiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine lodernde Fackel empor. Sein Gliederbau war kindlich, rund, ſein Blick himmliſch lebhaft. Gebieteriſch ſah er auf die Juͤnglinge und Maͤdchen zu ſeinen Fuͤſſen herab. Mehr charakteriſtiſches war an dem Gemaͤhlde nicht zu unterſcheiden. Nur am Fuſſe glaubten einige noch die Buchſtaben ζ und ω zu bemerken, woraus man (denn die Antiquarier waren damals nicht minder kuͤhn, als jetzt) den Namen eines Kuͤnſtlers Zenodorus, alſo gleichnamig mit dem ſpaͤtern Koloß-Gieſſer, ſehr ungluͤcklich zuſammen ſetzte. Dem Rhodiſchen Genius, ſo nannte man das raͤthſelhafte Bild, fehlte es indeß nicht an Auslegern in Syrakus. Kunſtkenner, beſonders die juͤngſten, wenn ſie von einer fluͤchtigen Reiſe nach Corinth oder Athen zuruͤkkamen, haͤtten geglaubt, alle Anſpruͤche auf Genie verlaͤugnen zu muͤſſen, wenn ſie nicht ſogleich mit einer neuen Erklaͤrung hervorgetreten waͤren. Einige hielten den Genius fuͤr den Ausdruck geiſtiger Liebe, die den Genuß ſinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er ſolle die Herrſchaft der Vernunft uͤber die Begierden andeuten. Die Weiſeren ſchwiegen, ahneten etwas Erhabenes, und ergoͤzten ſich im Poikile an der einfachen Kompoſition der Gruppe. So blieb die Sache immer unentſchieden. Das Bild ward mit mannigfachen Zuſaͤtzen copirt, in Reliefs geformt und nach Griechenland geſandt, ohne daß man auch nur uͤber ſeinen Urſprung je einige Aufklaͤrung erhielt. Als einſt mit dem fruͤhen Aufgange der Plejaden die Schiffahrt ins Aegaͤiſche Meer wieder eroͤfnet ward, kamen Schiffe aus Rhodus im Hafen von Syrakus an. Sie enthielten einen Schatz von Statuen, Altaͤren, Candelabern und Gemaͤhlden, welche die Kunſtliebe der Dionyſe in Griechenland hatte ſammeln laſſen. Unter den Gemaͤhlden war eines, das man augenblicklich fuͤr ein Gegenſtuͤck zum Rhodiſchen Genius erkannte. Es war von gleicher Groͤße, und zeigte ein aͤhnliches Kolorit; nur waren die Farben beſſer erhalten. Der Genius ſtand ebenfalls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit geſenktem Haupte, die erloſchene Fackel zur Erde gekehrt, der Kreis der Juͤnglinge und Maͤdchen ſtuͤrzte in mannigfachen Umarmungen, gleichſam uͤber ihm zuſammen. Ihr Blick war nicht mehr truͤbe und gehorchend, ſondern kuͤndigte den Zuſtand wilder Entfeſſelung, die Befriedigung lang genaͤhrter Sehnſucht an. Schon ſuchten die Syrakuſiſchen Alterthumsforſcher ihre vorige Erklaͤrungen vom Rhodiſchen Genius umzumodeln, damit ſie auch auf dieſes Kunſtwerk paßten, als der Tyrann Befehl gab, es in das Haus des Epicharmus zu tragen. Dieſer Philoſoph aus der Schule des Pythagoras, wohnte in dem entlegenen Theile von Syrakus, den man Tycha nannte. Er beſuchte ſelten den Hof der Dionyſe, nicht, als haͤtten nicht geiſtreiche Maͤnner aus allen griechiſchen Pflanzſtaͤdten ſich um ſie verſammlet, ſondern weil ſolche Fuͤrſtennaͤhe auch den geiſtreichſten Maͤnnern von ihrem Geiſte raubt. Er beſchaͤftigte ſich unablaͤßig mit der Natur der Dinge, und ihren Kraͤften, mit der Entſtehung von Pflanzen und Thieren, mit den harmoniſchen Geſetzen, nach denen Weltkoͤrper im Großen und Schneeflocken und Hagelkoͤrner im Kleinen ſich kugelfoͤrmig ballen. Da er uͤberaus bejahrt war, ſo ließ er ſich taͤglich in dem Poikile und von da nach Naſos an den Hafen fuͤhren, wo ihm ſein Auge, wie er ſagte, ein Bild des Unbegrenzten, Unendlichen gab, nach dem ſein Geiſt vergebens ſtrebte. Er ward von dem niedern Volke und doch auch von dem Tyrannen geehrt. Dieſem wich er aus, wie er jenem freudig entgegen kam. Epicharmus lag entkraͤftet auf ſeinem Ruhebette, als der Befehl des Dionyſius ihm das neue Kunſtwerk ſandte. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des Rhodiſchen Genius mit zu uͤberbringen, und der Philoſoph ließ beyde neben einander vor ſich ſtellen. Sein Blick war lange auf ihnen geheftet, dann rief er ſeine Schuͤler zuſammen und hub mit geruͤhrter Stimme an: „Reißt den Vorhang vor dem Fenſter hinweg, daß ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbelebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich uͤber die innern Triebraͤder der Natur, uͤber den Unterſchied der Stoffe geſonnen und erſt heute laͤßt der Rhodiſche Genius mich klarer ſehen, was ich ſonſt nur ahnete. Wenn der Unterſchied der Geſchlechter lebendige Weſen wohlthaͤtig und fruchtbar aneinander kettet, ſo wird in der unorganiſchen Natur der rohe Stoff von gleichen Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos haͤufte ſich die Materie und mied ſich, je nachdem Freundſchaft oder Feindſchaft ſie anzog oder abſtieß. Das himmliſche Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Eiſen; das geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde miſcht ſich zur Erde; das Kochſalz gerinnt aus dem Meere zuſammen und die Saͤure der Stuͤptaͤrie ſtrebt, ſich mit dem Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur ſich zu dem ſeinen zu geſellen. Kein irrdiſcher Stoff (wer wagt es, das Licht dieſen beyzuzaͤhlen?) iſt daher irgendwo in Einfachheit und reinem, jungfraͤulichen Zuſtande zu finden. Alles eilt von ſeinem Entſtehen an zu neuen Verbindungen und nur die ſcheidende Kunſt des Menſchen kann ungepaart darſtellen was Ihr vergebens im Inneren der Erde und in dem beweglichen Waſſer- und Luft-Oceane ſuchtet. In der todten unorganiſchen Materie iſt traͤge Ruhe, ſo lange die Bande der Verwandtſchaften nicht geloͤſt werden, ſo lange ein dritter Stoff nicht eindringt, um ſich den vorigen beizugeſellen. Aber auch auf dieſe Stoͤrung folgt wieder unfruchtbare Ruhe.” Alaun. — Schwefelſaͤure, den Alten bekannt. „Anders iſt die Miſchung derſelben Stoffe im Thier- und Pflanzenkoͤrper. Hier tritt die Lebenskraft gebieteriſch in ihre Rechte ein; ſie kuͤmmert ſich nicht um die demokritiſche Freundſchaft und Feindſchaft der Atome; ſie vereinigt Stoffe, die in der unbelebten Natur ſich ewig fliehen, und trennt, was in dieſer ſich unaufhaltſam ſucht.” „Tretet naͤher um mich her, meine Schuͤler, und erkennet im Rhodiſchen Genius, in dem Ausdruck ſeiner jugendlichen Staͤrke, im Schmetterling auf ſeiner Schulter, im Herrſcherblick ſeines Auges, das Symbol der Lebenskraft, wie ſie jeden Keim der organiſchen Schoͤpfung beſeelt. Die irrdiſchen Elemente, zu ſeinen Fuͤßen, ſtreben gleichſam, ihrer eigenen Begierde zu folgen, und ſich mit einander zu miſchen. Befehlend droht ihnen der Genius mit aufgehabener, hochlodernder Fackel, und zwingt ſie, ihrer alten Rechte uneingedenk, ſeinem Geſetze zu folgen.” „Betrachtet nun das neue Kunſtwerk, welches der Tyrann mir zur Auslegung geſandt; richtet Eure Augen vom Bilde des Lebens ab, auf das Bild des Todes. Aufwaͤrts weggeflohen iſt der Schmetterling, ausgelodert die umgekehrte Fackel, geſenkt das Haupt des Juͤnglings. Der Geiſt iſt in andre Sphaͤren entwichen, die Lebenskraft erſtorben. Nun reichen ſich Juͤnglinge und Maͤdchen froͤlich die Haͤnde. Nun treten die irrdiſchen Stoffe in ihre Rechte ein. Der Feſſeln entbunden folgen ſie wild, nach langer Entbehrung, ihrem geſelligen Triebe, und der Tag des Todes wird ihnen ein braͤutlicher Tag. — So gieng die todte Materie von Lebenskraft beſeelt, durch eine zahlloſe Reihe von Geſchlechtern, und derſelbe Stoff umhuͤllte vielleicht den goͤttlichen Geiſt des Pythagoras, in dem vormals ein duͤrftiger Wurm im augenblicklichen Genuſſe ſich ſeines Daſeyns freute!” „Geh Polykles und ſage dem Tyrannen, was du gehoͤrt haſt. Und Ihr, meine Lieben, Phradman und Skopas und Timokles tretet naͤher und naͤher zu mir. Ich fuͤhle, daß die ſchwache Lebenskraft auch in mir den irrdiſchen Stoff nicht lange mehr zaͤhmen wird. Auch er fordert ſeine Freyheit wieder. Fuͤhrt mich noch einmal in den Poikile, und von da ans offene Geſtade. Bald werdet ihr meine Aſche ſammlen!”