Digitale Ausgabe – Übersetzung

Brief von Friedrich Humboldt an den Bürger Fourcroy

Erst kürzlich, Bürger, habe ich die Bemerkungen zu meiner Abhandlung über den chemischen Prozeß des Lebens gelesen, die Sie dem Bürger Van Mons übermittelt haben. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie sehr ich die Aufmerksamkeit zu schätzen weiß, die Sie so freundlich meinen Arbeiten widmen. Seit langem bewundere ich die große Zahl an Entdeckungen, welche die Chemie Ihnen zu verdanken hat. Mit Begeisterung nehme ich alles auf, was aus Ihrer Feder stammt. Mögen Sie danach beurteilen, Bürger, wie sehr es mir am Herzen liegt, den Verdacht zu tilgen, den ich bei Ihnen geweckt habe und den ich nicht zu verdienen glaube. Wenn ich das Chaos der hypothetischen Systeme betrachte, mit denen man die Physiologie in England, in Italien verunstaltet hat, und sogar in meinem Vaterland, das so reich an hochgelehrten Naturforschern ist, so darf ich mich nicht wundern, daß allein der Ausdruck procédé chimique de vitalité [chemischer Prozeß des Lebens] bei Ihnen die Vorstellung geweckt hat, ich würde es wagen, die großen Phänomene der organischen Materie so zu erklären, wie man die Zerlegung der neutralen Salze oder der Metalloxyde erklärt. Der Brief, den ich an den Bürger Van Mons gerichtet habe, stellte Tatsachen dar, von denen ich glaubte, sie seien in Frankreich unbekannt. Er hatte kein anderes Ziel als das, Ihnen Versuche mitzuteilen, die mir für die Heilkunde von großem Interesse zu sein scheinen und die seit zwei Jahren erfolgreich von meinen Freunden wiederholt werden, während unsere Zeitschriften berichteten, sie seien in Paris ohne Erfolg durchgeführt worden. Ich legte sehr konkret dar, daß ich weit davon entfernt bin, ein stoffliches Prinzip der Reizbarkeit anzunehmen. Ich glaube vielmehr, die Phänomene der organischen Materie beruhen auf dem reziproken Gleichgewicht aller Elemente, aus denen die Faser zusammengesetzt ist. Überall, wo ich es wagte, die Tatsachen zu erklären, tat ich es, ohne mir Gewißheit anzumaßen, und verlieh dabei meinen Zweifeln Ausdruck. Ich verstehe indes sehr gut, daß jener Brief nicht geeignet war, Ihnen zu beweisen, mit welcher Umsicht ich meine Untersuchungen ausgeführt zu haben glaube. Der erste Band meines physiologischen Werkes ist erschienen.1 Der Druck des zweiten wird bald beendet sein. Dieses Werk ist nicht die Arbeit einiger Monate; es hat mich seit vier Jahren beschäftigt; ich habe darin die Fakten sorgfältig von den theoretischen Überlegungen getrennt, die ich hier und da angestellt habe. Ich meinte, bei dieser Einteilung könnten meine Versuche noch in einer Zeit, da der Fortschritt des menschlichen Wissens die Gestalt unserer Systeme vollkommen verändert haben wird, mit Interesse gelesen werden. Ich habe darin oft von der Zerlegung einiger Substanzen gesprochen, die bis jetzt für einfache Substanzen gehalten wurden. Doch dies habe ich nur im Sinne einer noch zu machenden Entdeckung erwähnt und habe niemals irgendein anderes Axiom vertreten als jene, die Sie selbst in Ihrer vorzüglichen Philosophie chimique verkündet haben. Dieses Werk, Bürger, von dem sich mehrere Exemplare in Paris befinden, soll mich vor Ihnen rechtfertigen. Ich selbst würde mich beeilen, Ihnen Auszüge daraus zu senden, wenn meine wenige freie Zeit es mir erlaubte. Da ich jedoch ein weites Feld zu bestellen habe, muß ich mich darauf beschränken, letzte Hand an Arbeiten zu legen, die ich schon seit langer Zeit vorangetrieben habe und die Sie selbst vielleicht mit Wohlwollen aufnehmen würden. Meine frühesten Forschungen in meiner Jugend galten dem Studium der Botanik und der Geologie. Ich habe mich stets mit der Betrachtung der Natur selbst befaßt. Alle Personen, unter deren Augen ich arbeite, wissen, daß ich unablässig mit chemischen Experimenten beschäftigt bin. Kürzlich habe ich Versuche mit Grubenluft angestellt, welche eine verhängnisvolle Wirkung auf meine Gesundheit hätten haben können. Dies ist bestimmt nicht die Lebensweise eines Mannes, der sich nur darin gefällt, die Zahl glänzender Hypothesen zu vergrößern. Sie, Bürger, sind so ehrenhaft, mich nicht für meine offenen Worte zu tadeln: Wir beide gehen verschiedene Wege. Sie analysieren die Materie, in der das Lebensprinzip erloschen ist; ich befasse mich mit derselben Materie, wenn sie den höchsten Grad an Reizbarkeit besitzt. Ich zweifle nicht daran, daß wir beide zum selben Ziel gelangen werden. Ich warte mit größter Ungeduld auf das Erscheinen Ihrer Chemie der Tierwelt. Ich befürchte nicht, bis dahin zu schnell voranzugehen und die Chemie durch die Medizin in Frage zu stellen. Vielmehr bin ich sicher (und mehrere berühmte Ärzte waren so freundlich, mich darin zu bestärken), daß meine Versuche an den Nerven dem Fortschritt der Heilkunde von Nutzen sein werden. Dieselben Gründe, die Sie veranlassen, Schweigen zu bewahren, zwingen mich zu sprechen: Sie haben den großen Plan entworfen, ein System zu konstruieren; Sie warten, bis das ganze Material dafür beisammen ist. Ich beschränke mich darauf, einige Phänomene zu beschreiben, die ich bei meinen Versuchen an der organischen Materie beobachtet habe. Ich füge einige Vermutungen über den Prozeß des Lebens hinzu in der Hoffnung, daß eben diese Vermutungen eines Tages zu bedeutenderen Entdeckungen führen werden, als es die meinen sind. In dieser Hinsicht sind es dieselben Motive, die Sie bestimmen, anders zu handeln. Ich werde mich stets überaus glücklich schätzen, wenn meine bescheidenen Versuche dazu dienen können, die Fundamente des großen Gebäudes zu festigen, das Sie für die Nachwelt vorbereiten.