Alexander von Humboldt über die deutſche Ueberſetzung von Arago’s ſämmtlichen Werken. Ich habe die Einleitung, welche ich zu Arago’s ſämmtlichen Werken auf das Anſuchen ſeiner Familie geſchrieben, mit dem Wunſche geſchloſſen, daß mein Name oft neben ſeinem, mir theuren Namen genannt werde. Mehrere Jahre ſind ſeitdem verfloſſen; aber da mir im hohen Alter, nach einem vielbewegten, arbeitſamen Leben, die nicht zu erwartende Freude geworden iſt, von der ausgezeichneten vaterländiſchen Ueberſetzung dieſer Werke noch 6 Bände erſcheinen zu ſehen: ſo glaube ich, meinen Grundſätzen treu, eine letzte Pflicht der Freundſchaft zu erfüllen, indem ich durch dieſe Zeilen das Intereſſe meiner Zeitgenoſſen für ein ſo wichtiges und vielverſprechendes Unternehmen zu beleben ſuche. Gleich nach dem Tode Arago’s, des glücklichen und geiſtreichen Entdeckers der chromatiſchen Polariſation, neuer Interferenz-Erſcheinungen bei Verrückung der farbigen Streifen, und des Rotations-Magnetismus, wurden in England und Deutſchland vollſtändige Ueberſetzungen ſeiner Werke unternommen. An die Spitze dieſer Arbeiten ſtellten ſich mir befreundete Gelehrte: in London Colonel Sabine und Admiral Smyth; in Leipzig zwei Profeſſoren der Phyſik und Aſtronomie, Hankel und d’Arreſt. Den letzteren ſind bei der Vielartigkeit der rein wiſſenſchaftlichen und literariſch-biographiſchen Gegenſtände, welche die bändereiche Ausgabe umfaßt, Prof. Dr. Fechner, der Privatdocent Dr. Scheibner, und Dr. Dippe, Oberlehrer am Gymnaſium zu Schwerin, beigetreten. Die Arbeit iſt, wie man es bei der aufopfernden Sorgfalt und der Sachkenntniß ſolcher Männer erwarten konnte, und ſo weit die Kürze der Zeit (da die deutſche Ausgabe mit der, in ſehr kleinen Zwiſchenräumen erſcheinenden, franzöſiſchen Ausgabe möglichſt gleichen Schritt halten ſollte) es verſtattet hat, mit dem muſterhafteſten Fleiße ausgeführt und mit Anmerkungen bereichert worden, die oft zugleich als Berichtigungen zu betrachten ſind. Der Anmerkungen iſt mit Recht ſchon darum nur eine mäßige Zahl dargeboten, weil da, wo ſo viele Materien in mehrmals von dem Verfaſſer unvollendet gelaſſenen Aufſätzen berührt werden, eigentliche Ergänzung und Vervollſtändigung des Ganzen nicht zu verſuchen war. Die Originalität des Vortrags und der Geiſt der Behandlung mußten erhalten werden. Was der Hingeſchiedene hinterlaſſen, trägt den Charakter der Zeit, in der er es niedergeſchrieben oder zum letzten Male, bei ſeiner ſo unglücklich ſchnell zunehmenden Augenſchwäche zu revidiren unternommen hatte. Alles auf den gegenwärtigen Standpunkt unſeres erweiterten Wiſſens zurückzuführen, lag außerhalb der Grenzen der Anforderungen, welche man mit Billigkeit machen konnte. Dagegen ſind zahlreiche kleine Ungenauigkeiten des franzöſiſchen Textes ſtillſchweigend, ohne derſelben in eigenen Anmerkungen zu erwähnen, verbeſſert; und um völlig ſicher zu gehen, ſind, wo es irgend möglich war, die Quellen, aus denen der Verfaſſer geſchöpft hat, nachgeſchlagen worden. Die Abbildungen wurden ungeändert nach den Originalen wiederholt. Vergl. z. B. die wichtigen Anmerkungen in der „populären Aſtronomie Bd. XII. S. 162—169 zum 14. Buche und S. 419—430 zum 17. Buche, zur Conſtitution der Sonne und der Cometen; in dem phyſikaliſchen Theile Bd. II. S. 577, Bd. III. S. 504—509, Bd. IV. S. 457. Wenn ein talentvoller und arbeitſamer Gelehrter in dem langen Zeitraume ſeines Erfindens und Schaffens den Mitlebenden nur bekannt geworden iſt durch vereinzelte, in akademiſchen Sammlungen und Journalen zerſtreute Abhandlungen, durch Gedächtnißreden und öffentliche Vorleſungen, die immer unvollkommen ſtenographirt werden; ſo hat auch das ſchon Erſchienene den Reiz der Neuheit, wenn es zum erſten Male ſinnig an einander gereiht und nach ſtrenger Gleichartigkeit geordnet dargeboten wird. Ein großer Theil der Arbeiten meines Freundes, entſtanden während unſers langen Zuſammenlebens, ſteht in dem hier bezeichneten Verhältniß zu dem Publikum. Dieſe Arbeiten treten jetzt erſt in einen weiteren Lebenskreis, dem Lobe wie dem bitteren Tadel, der nicht immer ganz wiſſenſchaftliche Motive hat, frei ausgeſetzt. Die Ausgabe von Arago’s geſammelten Werken bietet dazu des nie vorher Gedruckten eine weit größere Maſſe dar, als ſelbſt die ihm nahe Stehenden hoffen durften. In den bis jetzt erſchienenen ſechs Bänden ſteht das ſchon einmal Gedruckte zu dem Neuen der Seitenzahl nach in dem Verhältniß wie 1 zu 2½. Neu ſind unter den Gedächtnißreden und Biographien die von Fresnel, Ampère, Poiſſon, Gay- Luſſac, Malus, Laplace und Abel: denen mehrere kleine, freilich oft ſehr unvollſtändig gebliebene Notizen über ältere Aſtronomen, bis zu Tycho, Copernicus und Regiomontanus hinauf, zugefügt wurden. Neu ſind die Abhandlungen über den Electro-Magnetismus, Abweichung und Neigung der Magnetnadel, wechſelnde Intenſität der magnetiſchen Erdkraft, Erſcheinungen des Rotations-Magnetismus, und die des Polarlichts, im 4ten Bande. Die hier mitgetheilten Arbeiten haben außer dem, was ſie ſelbſt ans Licht gefördert haben, den Vorzug, großentheils in der wichtigen Epoche niedergeſchrieben zu ſein, wo durch Thomas Young, Malus, Arago und Fresnel die optiſchen Wiſſenſchaften; durch Oerſted, Ampère, Arago, Davy und Gay-Luſſac der Electro-Magnetismus; durch Fourier, Melloni und Poiſſon die Theorie der Wärme eine erneuerte Geſtalt erhielten. Für eine etwas ältere Epoche ſind Arago’s Biographien von Watt, Volta, William Herſchel und Carnot, dem Erfinder des berühmten Lehrſatzes vom Kraftverluſte, überaus beachtungswerth. Sie werden gewiß lange wichtig für diejenigen bleiben, die ſich mit der Geſchichte der phyſikaliſchen und aſtronomiſchen Wiſſenſchaften beſchäftigen. Was einigen dieſer Schilderungen noch eine beſondere Art des Reizes giebt, iſt der Umſtand, daß da, wo ein Theil der eben genannten Gelehrten durch die Wärme ihrer Gefühle oder durch den Drang der Begebenheiten getrieben, als Staatsmänner aufgetreten ſind, Arago’s Gedächtnißreden lebensvolle geſchichtliche Bilder von dem aufſtellen, was die Menſchheit gehofft, theilweiſe errungen und wieder verſcherzt hat. Arago’s populäre Aſtronomie, deren freier, anmüthig belebter Vortrag lange ein Gegenſtand der Bewunderung geweſen iſt, verdient mehr als irgend eine andere ſeiner Arbeiten aus einem zweifachen Geſichtspunkte betrachtet zu werden. Es gebührt ihr ein vorzügliches Lob zuerſt durch das Meiſterhafte der Methode (den Scharfſinn der Gedankenverbindung), welche von den einfachſten geometriſchen und optiſchen Vorbegriffen anhebt und zu der Möglichkeit des Begreifens wiſſenſchaftlicher Methoden leitet; dann aber auch durch das, was ſie von reichlich eingeſtreuten neuen und feinen optiſchen Erklärungen, von Anſichten aus der erweiterten phyſikaliſchen Aſtronomie oder von hiſtoriſchen Reſultaten enthält. Mein vieljähriger Aufenthalt auf der Pariſer Sternwarte hat mich zu der Ueberzeugung geführt, wie populäre aſtronomiſche Vorträge anziehende Mittel werden können, Liebe zur Klarheit der Begriffe, d. i. den Anfang einer Erhöhung der Intelligenz, bis in die ärmeren arbeitenden, und deshalb um ſo beachtungswertheren Schichten des Volkslebens dringen zu laſſen. Was der 4te Band von Arago’s Werken darbietet unter den Ueberſchriften: Gewitter, Electro-Magnetismus und Nordlicht, iſt in England vom Oberſt Sabine in einem eigenen Bande, der den Titel: Meteorological Essays führt, 1855, alſo ein Jahr nach der Herausgabe deſſelben Bandes der deutſchen Ueberſetzung, erſchienen. Mein Freund Sabine ſagt ſehr übereinſtimmend mit dem Urtheil des Herrn Prof. Hankel: „The Essay appears to have been written for the most part anterior to the considerable advances which have recently been made in that branch of terrestrial physics. The failure of Mr. Arago’s health and sight has prevented him from revising the Essay on terrestrial Magnetism as fully as he appears to have done with some of the others.“ Oberſt Sabine hat in ſeinen verbeſſernden Zuſätzen (p. 320) daran erinnert, daß Arago’s Entdeckung des Rotations-Magnetismus ſogar von praktiſchem Nutzen für die Nautik geworden iſt, und daß auf Befehl der engliſchen Admiralität ſeit dem Jahre 1840 und in Folge der Verſuche des Capt. Edward Johnſon, in „accordance with Mr. Arago’s wise and sagacious remarks,“ auf Kriegsſchiffen Vorrichtungen zur Beruhigung der Magnetnadel getroffen werden. Sabine hat, aus dem großen Schatze der von ihm ſelbſt geſammelten und kritiſch bearbeiteten Declinations-Beobachtungen von Singapore ( lat. 1° 17′ N.), St. Helena ( lat. 15° 56′ S.) und am Vorgebirge der guten Hoffnung ( lat. 33° 56′ S.) ſchöpfend, vollſtändig die Vermuthung widerlegt (p. 336—340 und 346—348), als gebe es zwiſchen dem geographiſchen und magnetiſchen Aequator eine Region der Erde, in welcher (ehe der Uebergang des Nord-Endes der Nadel in denſelben Stunden zu einer entgegengeſetzten Richtung der Abweichung eintritt) gar keine ſtündliche Abweichung ſtattfinde. Auf St. Helena iſt der Gang des Endes der Nadel, das gegen den Nordpol weiſt, in den Monaten Mai bis September ganz entgegengeſetzt von dem Gange, welchen daſſelbe Ende in den analogen Stunden vom October bis Februar befolgt. Deutſche Ueberſetzung Bd. IV. Cap. 4 S. 383. Bd. IV. Cap. 9. S. 406. Zu den denkwürdigſten, wahrhaft kosmiſchen, den Erdmagnetismus genetiſch aufklärenden Reſultaten gehört unſtreitig die von Sabine im Monat März 1852 erkannte Abhängigkeit der von Lamont und Reſlhuber aufgefundenen zehnjährigen Periode magnetiſcher Declinations-Veränderungen von der durch den Hofrath Schwabe entdeckten zehnjährigen Periodicität der Frequenz der Sonnenflecken. Ich bin in den Stand geſetzt worden, in dem aſtronomiſchen Theile des Kosmos (Bd. III. S. 402) die vollſtändigſte Tabelle der Beobachtungen von Schwabe zu veröffentlichen. Es umfaßt dieſelbe die Epoche von 1826 bis 1850. Die Maxima, d. i. die größte Frequenz der Sonnenflecken ſind in den Jahren 1828, 1837 und 1848 geſehen worden. Prof. d’Arreſt hat in ſeinen literariſchen Zuſätzen zu Arago’s populärer Aſtronomie , nach Schwabe’s Angaben in den „Aſtronomiſchen Nachrichten“, meine Tabelle bis Ende des Jahres 1854 vervollſtändigt. „Es iſt dabei,“ ſagt der Leipziger Aſtronom, „von ſehr großem Intereſſe, zu ſehen, wie die Zahlen-Ergebniſſe dieſer Tafel ſeit ihrem erſten Erſcheinen fortfahren die zehn- oder eilfjährige Periode einzuhalten, über deren wirkliches Vorhandenſein nun kaum noch der geringſte Zweifel geſtattet iſt.“ Der vierte Band von Arago’s Werken enthält zum erſten Male die Zahlen, welche als Mittel ſeiner ſtündlichen Declinations-Beobachtungen von 1820 bis 1835, aus einem Manuſcripte von 2076 Folio-Seiten entlehnt, dargeboten werden. Sabine entdeckt (p. 356) mit großem Wohlgefallen, daß auch hier in der frühen Periode von 1820 bis 1830, die Mittel ſinken von 9′ 5″ bis 8′ 9″ im Jahr 1823, und dann wieder ſteigen bis 13′ 43″ im Jahr 1830. Lamont hatte allerdings auch in einer viel älteren Gruppe Caſſini’ſcher Beobachtungen von 1784 bis 1788 Regelmäßigkeit der Periode und ein Maximum für 1786,5 erkannt; aber eine ununterbrochene Reihe der Beobachtungen, die von 1820 bis 1831 hinaufreicht, haben wir erſt durch die jetzige Veröffentlichung von Arago’s Arbeiten erhalten. Es iſt hier zu erinnern, daß der Director der Sternwarte zu Kremsmünſter, Herr Reſlhuber, auch in der täglichen Aenderung der Horizontal-Intenſität dieſelbe Lamont’ſche zehnjährige Periode erkannt hat. Sabine, der ſich durch die Beobachtungen von Toronto, Hobarton und St. Helena (wie Kreil) von dem regelmäßigen Einfluß des Mondes auf den Erdmagnetismus überzeugt hat ( Report of the British Association for the advancement of science 1853, p. XLV), ſchließt ſeine Noten zu dem 10. Capitel der Meteorological Essay’s by Francois Arago mit den Worten: „The full establishment of the existence of a direct connexion between affections of the sun’s disk and the magnetic influence which the sun exercises at the surface of the earth, is a step in cosmical knowledge of primary importance.“ Die Abhandlung von Sabine ( Philosophical Transactions for 1852 Part. I. p. 116—121) wurde zu Anfang des März der königl. Societät übergeben und Anfangs Mai 1852 verleſen. Der ſehr verdienſtvolle Director der Sternwarte zu Bern, Herr Rudolf Wolf, hat den Zuſammenhang der Frequenz der Sonnenflecken und der magnetiſchen Declinations-Periode, ohne von Sabine’s Arbeit Kenntniß gehabt zu haben, 4—5 Monate ſpäter in einer Sitzung der naturforſchenden Geſellſchaft am 31. Juli ebenfalls vorgetragen. Die Mittel der jährlichen Declination ſind aufgezählt nach Lamont in Poggendorff’s Annalen der Phyſik Bd. 84. 1851. S. 572—582, nach Reſlhuber Bd. 85. 1852. S. 179—184. Deutſche Ueberſetzung Bd. XII. S. 108 und 166. Da ich in dem erſten Bande der hier analyſirten Werke aus dem Franzöſiſchen mich ſelbſt in meine Mutterſprache übertragen finde, ſo iſt es mir eine angenehme Pflicht hier zu erklären, daß der literariſche Theil der Arbeit in Hinſicht auf Geſchmack, Ausbildung und Ungezwungenheit der Sprache überaus befriedigend iſt. Die Gedächtnißreden, und vor allen das lebensfriſche und anmuthige Fragment: Geſchichte meiner Jugend, ſind in dieſer Hinſicht eines beſonderen Lobes würdig. Berlin, 31. Dec. 1855.