Vorwort von Alexander v. Humboldt. Die Sonette meines Bruders, von ihm selbst nicht zur Veröffentlichung bestimmt, ja den nächsten Angehörigen bis zu seinem Tode (am 8 April 1835) unbekannt geblieben, sind, wie ich schon an einem anderen Orte gesagt, als ein Tagebuch zu betrachten, in dem ein edles, still bewegtes Seelenleben sich abspiegelt. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, gewährt ihre Sammlung ein eigenthümliches Interesse. Wenn sie einen Reichthum von Ideen offenbart über den erhabenen Einklang in den Kräften der Natur, wie über das ungleiche Wechselspiel in den Schicksalen der Menschheit; so bezeugt sie auch zugleich Ruhe und milde Stimmung des Gemüths am Ende einer Laufbahn in vielbewegter Zeit. Bei einem Staatsmanne, der nach langer und angestrengter Thätigkeit in einen engen Familienkreis zurücktritt, um dem Genuß der freien Natur, um großen, aber schmerzlichen Erinnerungen, um dem Studium des Alterthums und der Entwickelung der Sprachorganismen zu leben: sind eine solche Milde, ein solcher innerer Friede des Gemüths eine seltene, schön errungene Himmelsgabe zu nennen. In dieser Betrachtung ist wenigstens theilweise die Ursach des Beifalls bezeichnet, der in weiten Kreisen in und außerhalb Deutschlands den Briefen Wilhelms von Humboldt an eine Freundin so anhaltend geschenkt worden ist. Die kleinen poetischen Schöpfungen, welche hier zum ersten Male vereint erscheinen, nachdem sie vorher in 7 Bänden der gesammelten Werke zerstreut waren, enthalten gleichsam die Selbstbiographie, die Charakterschilderung des theuren Bruders, dessen Beispiel wesentlich auf meine geistigen Bestrebungen eingewirkt hat und den ich so viele Jahre zu überleben bestimmt bin. Die Sonette sind ausgewählt aus einer großen Zahl, da er nach dem Verluste seiner hochbegabten Gattin (26 März 1829) fast jeden Tag eines, bisweilen in später Nacht, aus dem Gedächtniß niederschreiben ließ. Jedes Hundert der Sonette wurde abgesondert und dann erst einer flüchtigen Correctur unterworfen. Die ganze Composition fällt in die letzten Lebensjahre, ohngefähr vom September 1831 bis Anfang März 1835, wo eine Krankheit Herrn Ferdinand Schulz (den jetzigen geheimen Registrator bei der Hauptverwaltung der Staatsschulden) von ihm trennte. Diesem Manne, der sein ganzes Vertrauen besaß, verdanken wir die Kenntniß des lange verborgenen Kästchens, in welchem die Sonette aufbewahrt wurden. Die anmuthigen Umgebungen des Landsitzes von Tegel (See und Wald); das Grabmonument: eine Granitsäule, welche die Statue der Spes von Thorwaldsen krönt; der Anblick des Meeres in drei auf einander folgenden Reisen nach dem Bade Norderney; haben jene Dichtungen hervorgerufen. In dem innersten empfänglichen Sinn des Menschen reflectirt lebendig und wahr sich die physische Welt. Wo die Freude an der Natur, wie es der Fall bei dem Hingeschiedenen war, mit dem Alter zunimmt, bietet unter jeglicher Zone der Blick auf die unbegrenzte Meeresfläche oder auf die ewigen Sterne des Himmelsgewölbes das ernste, erhabene Bild der Unendlichkeit dar. Aber Reichthum in der Welt der Gedanken wie in der Welt der Gefühle ist nur Stoff, nur das Material zu idealer dichterischer Gestaltung. In der Dichtung müssen, nach dem alten Ausspruche Schiller's "Stoff und Form, selbst die äußere, innigst zusammenhangen." Ein langer Aufenthalt in Rom, und vielleicht ein lebhaftes Interesse für gewisse Epochen des italiänischen Dichterlebens scheinen meinem Bruder eine besondere Vorliebe für eine kleine lyrische Form eingeflößt zu haben, welche dem Gedanken (soll der Wohlklang nicht aufgeopfert werden) enge Fesseln anlegt, die er aber mit bewußter Freiheit behandelte. Wenn nun der Dichter nach seiner realen Eigenheit und Individualität am lebhaftesten das Bedürfniß fühlte, alles was der Empfindung entquillt, mit Ideen zu verweben; wenn es ihm an Muße und augenblicklich auch an Neigung fehlte in das tiefe Geheimniß von dem Verhältniß des Rhythmus zu dem Gedanken einzudringen: so mußte allerdings eine mindere Sorgfalt, auf die Form gewandt, Störung des Eindrucks da verursachen, wo sich der dichterische Stoff in allzu reicher Fülle dargeboten hatte. Mit vielem Rechte zögernd, in einem mir so fremden Gebiete ein bestimmtes Urtheil auszusprechen, wage ich doch daran zu erinnern, daß die Störungen, deren ich Erwähnung that, wohl mehr bei Vereinzelung der Sonette als bei ihrer Aneinanderreihung gefühlt werden. Wer den Dichter lieb gewinnt in seiner edlen und reinen Dichternatur, gewöhnt sich allmälig an gewisse Sprachformen, die aus der Individualität des Charakters gleichsam organisch erwachsen. Unbefangen und bescheiden wird schon auf dem ersten Blatte dieses Büchleins das was wir hier als Sammlung und Auswahl darbieten, eine -- leicht geschlungene Liederkette In Tages-Eil geborener Sonette genannt. Wilhelms von Humboldt kritische Untersuchungen über den Versbau der Griechen; die Sorgfalt, die er auf seine metrischen Uebersetzungen des Agamemnon, des Chors der Eumeniden und der Pindarischen olympischen Oden verwandte: beweisen genugsam, daß er bei den zur Oeffentlichkeit bestimmten Dichtungen die Form keinesweges vernachlässigte. "Meine mühseligste, meine sauerste Arbeit in der Uebersetzung des Agamemnon," schrieb er an Wolf, "ist der Versbau." Die, in deutlichster Reinschrift hinterlassenen Sonette sind unverändert abgedruckt worden, wie es die Pietät gegen den Dichter erheischte. Schiller im Briefwechsel mit Göthe Theil 3. S. 327. Vergl. die Gesammelten Werke Bd. I. S. 267 bis 269 (Recension von Wolf's zweiter Ausgabe der Odyssee); Bd. II. S. 304 (über den rhythmischen Periodenbau bei Gelegenheit der Uebersetzung Pindarischer Oden); Bd. III. S. 19 -- 33 und S. 97 (über das Versmaaß in der Uebersetzung des Agamemnon, des Aeschylos und des Chors der Eumeniden); Bd. V. S. 8 und 91 -- 93 (Briefe an Wolf). Ich habe in dem Eingange zu diesem Vorworte zu entwickeln versucht, wie das lebhafte Interesse, welches die Briefe an eine Freundin, und die Sonette bisher selbst da erweckt haben, wo sie sehr heterogenen: philosophisch-historischen, linguistischen und politischen Arbeiten beigesellt waren; sich vorzugsweise auf die anziehende Kraft moralischer und psychologischer Motive gründe. Ein flüchtig geschriebenes Fragment aus dem noch unedirten Nachlaß meines Bruders, das erst seit wenigen Monaten in meine Hände gekommen ist, kann vielleicht auf ein gleiches Interesse Anspruch machen, da es in ernster Einfachheit und Würde den Ideen und Gefühlen eine ähnliche Färbung giebt. Es ist dasselbe vor dem Jahre 1824 niedergeschrieben. Um es der Oeffentlichkeit nicht zu entziehen und da die gesammelten Werke mit dem 7ten Bande geschlossen sind, lasse ich es hier folgen: "Ueber das Verhältniß der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung." "Ein Mensch hat moralische Bildung, wenn die Sittlichkeit in ihm zur Gesinnung geworden ist. "Die Grundquelle der Sittlichkeit ist nicht das Gefühl im Allgemeinen, das den Menschen sehr irre leiten könnte. Die Sittlichkeit besteht vielmehr in der freiwilligen Unterwerfung unter das Sittengesetz, und beruht also auf dem Grundsatz der Pflichtmäßigkeit. "Gefühle und Grundsätze sind aber sehr verschieden von einander. Gefühle haben nur dann wirklichen moralischen Werth, wenn sie auf Grundsätzen beruhen, und in Empfindung übergegangene Grundsätze sind. "Die Religion erhebt das Sittengesetz auf eine höhere Stufe, indem sie es als ein Gesetz Gottes zeigt; sie erleichtert zugleich dem Menschen die Befolgung desselben, da sie an die Stelle trockner und nackter Pflichtmäßigkeit die, jedem gutgearteten Menschen natürlichen Gefühle der kindlichen Ehrfurcht, Liebe, Dankbarkeit und Folgsamkeit gegen Gott setzt; und auf eine Fortdauer nach dem Tode hinweist, in welcher die Entsagungen, welche die Pflicht auferlegt, eine fernere, von allen irdischen Zufällen freie, und vollkommen gerechte Belohnung finden. Sie erhebt aber auch den Menschen in seinem ganzen Innern, da der religiös gestimmte Mensch fühlt, daß er ein Gegenstand der Liebe und Sorgfalt des Unendlichen ist; daß das irdische Leben, als der kleinste und unvollkommenste Theil seines Daseyns, mit allen seinen Gütern und Vorzügen nicht in Betrachtung kommt gegen die Reinheit der über dasselbe hinausgehenden Gesinnung; und daß ihm, soweit es die Schranken der Endlichkeit verstatten, eine Gemeinschaft mit dem Wesen eröffnet ist, welches Alles hervorgebracht hat und Alles erhält. "Es ist demnach durchaus falsch, daß die Religion im Grunde nur Lehren aufstellt. Sie lebt und webt vielmehr in Gefühlen. Denn sie stellt Wahrheiten auf, die ihrer Natur nach, in jedem Menschen, der sich ihren Eindrücken offen erhält, zu Gefühlen werden; Wahrheiten, die nur aus dem natürlichen Gefühl entwickelt und entfaltet zu werden brauchen, damit die Ueberzeugung des Verstandes und die hinzutretende Erkenntniß das bloße Gefühl vor Unbestimmtheit und Unrichtigkeit bewahre. "Die Religion ist also nicht nur das kräftigste Beförderungsmittel der Sittlichkeit, sondern Religion und Sittlichkeit, religiöse und moralische Bildung sind eigentlich Eins und Ebendasselbe. Ein wahrhaft religiöser Mensch ist schon eben dadurch auch ein sittlicher; und es wäre eine gewissermaßen unnütze Frage, ob ein sittlicher Mensch auch nothwendig ein religiöser seyn muß? da die wahre Sittlichkeit in ihren höchsten Principien eine solche Anerkennung von dem Verhältniß des Menschen zu dem, was über die Endlichkeit hinaus liegt, voraussetzt, daß sie selbst nothwendig Religion ist. "Die Poesie steht zur Bildung des Menschen in einer zwiefachen Beziehung: 1) in einer der Form: indem sie Wahrheit und Lehre durch Einkleidung und rhythmischen Ausdruck der Einbildungskraft näher zu bringen sucht; 2) in einer des Inhalts: indem sie, überall das Erhabenste, Reinste und Schönste aufsuchend, im Menschen immer das Höchste und Geistigste seiner Natur anzueignen bemüht ist; und ihm beständig vor Augen hält, daß er den vorübergehenden Genuß der dauernden inneren Genugthuung, das Irdische dem Unendlichen nachsetzen, und im Widerstreit der Neigungen und Pflichten Alles, durch Selbstbeherrschung und Erhebung über das Niedere und Gemeine, dem Adel und der Reinheit der Gesinnung opfern muß. "Religion und Poesie stehen in gar keinem, am wenigsten in einem schroffen Gegensatz gegen einander. "Denn beide arbeiten nicht nur gleichmäßig auf die Veredlung des Menschen hin, sondern die religiösen Wahrheiten sind alle der Art, daß sie gerade des höchsten dichterischen Ausdrucks fähig sind; und die Poesie kann gar keine hohe, oder tiefe seyn, wenn sie nicht immer in das Gebiet hinübergeht, in welchem auch die Religion weilt. "Alle großen Trauerspiele des Alterthums und der neueren Zeit beruhen auf der Vorstellung der Abhängigkeit des endlichen Menschen von einer unendlichen Macht, und auf der Nothwendigkeit, das Endliche (Glück und Neigung) dem Ueberirdischen (Pflicht und Gesinnung) zum Opfer zu bringen. "Aller Gottesdienst nimmt daher die Poesie, als etwas der Religion nahe Verwandtes, in sich auf. "Die Poesie darf aber nur neben der Religion genannt werden, wenn sie die höchste, würdigste und reinste ist. Sie kann auch alles dies in minderem Grade seyn, und sogar einen entgegengesetzten Weg einschlagen; darum ist es zugleich unmöglich und unzulässig, Religion und Poesie mit einander vergleichen zu wollen, und noch mehr, die letztere als die moralische Bildung mehr befördernd zu betrachten. "Wenn man von dem Einflusse der Poesie auf die moralische Bildung reden will, so ist davon auszugehen, daß, ehe auf eine würdige Weise die Poesie auf den Menschen einwirken kann, in ihm eine doppelte Grundlage vorhanden seyn muß: "1) eine Grundlage der Gesinnung, die Anerkennung sittlicher Pflicht, und der Nothwendigkeit sich dieser zu unterwerfen; dazu religiöses Gefühl, Ueberzeugung von einem höchsten Wesen, Glaube und vertrauende Liebe, Zuversicht, daß mit dem irdischen Tode das wahre Daseyn des Menschen erst beginne. Alles das muß auf einem wahren, sicheren Grunde beruhen; darin muß gar keine Poesie seyn, weil es die Grundfesten der menschlichen Gesinnung sind. "Wo diese Grundlage fehlt, kann keine Poesie wahrhaft moralisch wirken. Derjenige, in dem sie nicht ist, kann wohl augenblicklich von Macbeth's Lage ergriffen werden; aber das, was Shakespeare eigentlich hat wollen fühlen lassen, fühlt allein der, welcher unabhängig von aller Poesie, die Stimme des Gewissens im Busen trägt, und empfindet, wie furchtbar es sei zu tödten, wenn Gott das Gebot nicht zu tödten in das Herz des Menschen gelegt hat. "Die Religion der Griechen war nicht poetischer als das Christenthum, sie war nur sinnlicher. "Die Griechen haben eben nicht durch Vollkommenheit der moralischen Bildung geglänzt. "2) eine Grundlage der Erkenntniß. "Wer nicht über die wichtigsten Wahrheiten oft gründlich nachgedacht, wer nicht Kenntnisse im gehörigen Maaße gesammelt hat, der versteht den Dichter nur halb, und auf den übt die Poesie nur eine vorübergehende, leicht von ihm abgleitende Wirkung aus. Er meidet vielleicht das Rohe und Gemeine, aber es bleibt in ihm eine betrübende Leere. "Die Poesie verführt wohl zu der Einbildung, daß man diese Grundlagen entbehren könne; aber dies ist nicht ihre Schuld, sondern die Schuld derer, die sie misverstehen. Shakespeare, Schiller und Göthe würden alle Leser zurückweisen, welchen es an jenen Grundlagen fehlt, oder die nicht wenigstens ernstliches Bemühen zeigen, sie sich zu verschaffen. "Wo aber jene Grundlagen vorhanden sind, da beginnt der wohlthätige Einfluß der Poesie auf die moralische Bildung, ein Einfluß der nie zu hoch angeschlagen werden kann. "Die Poesie wirkt darin zuerst wie die Sittenlehre und die Religion selbst; sie wirkt mit der Macht, die sie, gerade als Poesie, über den Menschen ausübt. "Sie macht aber auch den ganzen Menschen für die moralische Bildung empfänglicher, indem sie ihn gewöhnt in Dingen, die ganz außerhalb des Gebietes der Sittenlehre und der Religion liegen, nur am Schönen, Edlen und Harmonischen Gefallen zu haben, und das Gegentheil überall von sich zu stoßen." Dieses Fragment über den Einfluß, welchen die Dichtung, in ähnlicher Weise wie die Religion, auf die moralische Bildung des Menschen auszuüben vermag, ist im Besitz eines theuren Freundes, des Prof. Ratzeburg (an der Königl. Forstakademie zu Neustadt-Eberswalde), eines talentvollen Naturforschers, der mehrere Jahre Erzieher von Hermann v. Humboldt, dem zweiten Sohne meines Bruders, war. In einem aus Albano an mich gerichteten Gedichte (September 1808) athmen dieselben Gefühle von reiner Sittlichkeit und unerschütterlicher Resignation: -- aus des Busens Tiefe strömt Gedeihn Der festen Duldung und entschlossner That. Nicht Schmerz ist Unglück, Glück nicht immer Freude; Wer sein Geschick erfüllt, dem lächlen beide. In den dichterischen Gestaltungen wie in den prosaischen Aufsätzen offenbart sich unablässig die Eigenheit und das wesentliche Gepräge eines großen, durch hohe Geistesgaben getragenen Charakters. Berlin, im August, 1853.