Auszüge aus Briefen von Gilliss an Gerling.
Santiago de Chile, den 1. April 1851.
..... Unser Werk geht seinen Gang fort, wenn dasWetter es gestattet; allein es ist hier eine solche Verän-derung im Klima eingetreten, dass wir uns daran gewöhnthaben, eben sowol auf Wolken als auf helle Tage zurechnen. Im vorigen Jahre hatten wir jeden Monat Regen,und dabei ist es auch im laufenden Jahr geblieben. Es liegtmir eine Urkunde vor, in welcher seit 1824 jeder Tag ein-getragen ist, an welchem es geregnet hat. In den verflos-senen 27 Jahren gab es 9 Tage, an denen es im Decemberregnete, davon 2 im Jahre 1850 Statt fanden; 12 Tageim November, davon 4 im Jahre 1850; 50 Tage im Oc-tober, davon 2 im Jahre 1850, und 60 Tage im September,an denen es etwas regnete, davon 5 im Jahre 1850. Ge-wöhnlich ist der Monat April der Anfang der sogenanntenRegenzeit; nun aber find’ ich, dass es unter den 27 Jahrenvier gab, in denen schon im Januar Regen fiel. Von denResultaten leg’ ich eine tabellarische Uebersicht bei, umIhnen die Vertheilung in die Jahresperiode deütlicher zumachen, zugleich aber auch um den Nachweis über die Ge-sammtsumme der Stunden zu geben, in denen es geregnet
|5|
|Spaltenumbruch| hat. Ich entlehne diese Uebersicht aus einer Schrift, welche
Don Domingo Reyes der mathematisch-physikalischen Fa-cultät der Universität unlängst überreicht hat. Er erzähltmir, dass die Zeitbestimmungen vom Anfange und Endedes nächtlichen Regens von den Serénos aufgezeichnet wor-den seien, einer Nachtwache, welche die Strassen patrouil-lirt und die Zeit von fünf zu fünf Minuten, vom Dunkel-werden bis zum Tagesanbruch, abruft; so wie, dass ihreAngaben so genau seien, als sie nur immer sein könnten.
Don Domingo hat die dunkeln oder bewölkten Tage nichtmit in Rechnung genommen, sondern einfach die Zeit auf-gezeichnet, während deren es geregnet hat, ohne auf dieHeftigkeit der verschiedenen Regenschauer Rücksicht zunehmen. So haben wir, — mit Ausnahme des letzten Jahrsoder zwei Jahre, innerhalb deren Professor Domeyko be-obachtet hat, — kein Mittel zur Beurtheilung der Frage, obdie jährliche Regenmenge Veränderungen erlitten habe, wieman allgemein glaubt, noch derjenigen, ob der Himmel be-wölkter geworden ist.
Vor dreissig Jahren waren die einzigen Baüme auf derEbene südlich von der Stadt ein Paar verkrüppelte Es-pinas (Acacia Cavenia) und nichts war angebaut, aussereinem Paar Chacias unmittelbar am Ufer des Maypo. Da-mals brachte der SW.-Wind, der um 11 Uhr Vormittags(im Sommer) eintritt, die reflectirte Hitze der öden undnackten Ebene. Bald nach jener Zeit brachte man Pappel-Setzlinge (Populus dilatatua) aus Mendoza in der Argen-tinischen Republik, und es wurde ein Canal zur Vereini-gung des Maypo und des Mapocho längs des östlichenRandes der Ebene, am Fuss der Andes, gegraben. Siewerden sich aus einem meiner frühern Briefe erinnern, dassdiese Ebene zwei natürliche Abdachungen hat. Die eine,von Norden nach Süden, entstand ohne Zweifel durch dieEbbe und Fluth der oceanischen Gewässer in diesem gros-sen Meerbusen während der allmäligen Emporhebung desLandes; und die andere, von Osten nach Westen, durchden Detritus und andere von den Andes herabkommendenAblagerungen. Ich mache nicht den mindesten Anspruchauf geologische Kenntnisse; vermuthe aber, dass das Thal,in welchem Santiago liegt, und das sich ununterbrochenzwischen zwei Ketten der Andes von ungefähr 33° S. Breitebis nach Chiloe erstreckt, einst ein Golf, wie der Califor-nische war.
Da in demjenigen Theile des Thals, welcher nördlichvom Maypo liegt, Mangel an Wasser war, so wurde deroben erwähnte Canal an einem Punkte des Flusses begon-nen, der gegen die Quelle hin weit genug liegt, um seinWasser nordwärts zu leiten, weil der Maypocho ein zu
|Spaltenumbruch| kleiner Fluss ist. Gleich nach seiner Vollendung wurdenzehntausend Bewässerungsgräben über die Ebene geleitet,das Land allmälig in Cultur gesetzt und Pappeln sprangenwie durch ein Wunder überall aus der Erde, so dass manjetzt, wohin das Auge sich wendet, nur Haine und Wein-gärten und grünende Felder erblickt. Mit ihrer Vermehrunghaben sich auch die Wolken bei Tage vermehrt, und jetztsieht man Cumuli-Massen während der vollen Kraft desSW.-Windes die Gipfel der Andes fast unaufhörlich umhüllen.Beständige Feüchtigkeit ist es jetzt, die aus den angebautenFeldern emporsteigt, die früher nackte Wüsteneien waren,und die Hitze ist weder so trocken, noch so intensiv, als sienoch vor einem halben Jahrhundert war. Das ist die Mei-nung der intelligentesten Einwohner, und unter ihnen diemeines Freündes Señor Reyes; — die Erklärung ist eine na-turwissenschaftliche, und muss, in Ermangelung absoluterDaten und eines bessern Zeügnisses, angenommen werden.
Santiago de Chile, den 18. April 1851.
..... Am Morgen des 2ten laufenden Monats hatten wirhier ein Erdbeben, wie es sich seit der grossen Erschüt-terung vom Jahre 1822 nicht ereignet hatte. Es begann un-gefähr um 6h 48′ 10″ Vormittags, und ein rollendes Getöse
(rumbling noise), welches einige Sekunden dauerte, gingihm voran. Bis um 6h 48′ 28″ war seine Heftigkeit der desErdbebens vom 6. December gleich und der Charakter derBewegung nicht völlig unähnlich. Von da an bis um 6h 48′53″ waren die Schwingungen am stärksten (most severe)
und ihre Wirkungen wahrhaft fürchterlich; denn es giebt inSantiago kaum eine Mauer, die noch ganz wäre, und keinDach, welches den Regen abhalten könnte. Um 6h 49′ 38″hörte der Hauptstoss auf; doch schütterte die Erde beinah’noch zwei Stunden lang später; und wir haben Berichte vonmehr als achtzehn verschiedenen Stössen, die vor Mitter-nacht desselben Tages Statt gefunden haben, und von deneneinige sehr heftig (quite severe) gewesen sind. Selbst jetztnoch haben wir täglich zwei oder drei Erschütterungenmehr oder weniger.
Die Richtung, von welcher die hauptsächlichste der stö-renden Kräfte am 2ten April kam, war von W. nach O.,und ein Pendel von 9 Fuss 10 Zoll Länge beschrieb eineEllipse, deren Achsen beziehungsweise 3,5 Zoll und 2,4
Zoll gross waren. Es ist eine Bleikugel, die an einem feinenSilberdraht aufgehängt ist, mit einer gewöhnlichen Nadel,welche ein Blatt Glanzpapier, das mit schwarzem Sand be-streüt ist, eben berührt. Das Papier ist in concentrischeKreise eingetheilt mit den Kompassstrichen und liegt aufeiner wagerechten Glasplatte.
|6|
|Spaltenumbruch|
Die Felsenmasse von Santa Lucia wurde in der Mittezerrissen zwischen dem Castell und den Observatorien, undder hydraulische Kalk trennte sich zwischen den zwei obernBlöcken des westlichen Pfeilers, der den Meridiankreis trägt.Kaum zu zweifeln ist, dass dieser Porphyr-Block, der über500 Pfund wiegt und mit dem halben Gewicht des Instru-ments und den Gegengewichten belastet ist, geschwankthat, und ich glaube, dass der ganze, mit hydraulischemKalk festgemachte Pfeiler gegen Süden hin bewegt wordenist. Mit Ausnahme dieses Umstandes und des Verlusteseines Barometers, welches von der Wand fiel, haben wirkeinen Schaden erlitten, ja selbst die Uhr behielt ihrenGang, während alle anderen Uhren in Santiago stehenblieben.
In der Stadt sind die Verwüstungen sehr gross gewesen;einige Kirchen haben so bedeütende Beschädigungen erlit-ten, dass man es für nothwendig erachtet hat, sie zu schlies-sen. In der Cathedrale ist fast jeder Bogen gesprungen, dieSchlusssteine haben sich gesenkt und die Mauern sind ausder Lothlinie geschoben. Von den Dörfern in der Nachbar-schaft haben Lampa, Renca, Curacavi und Casablanca zu-sammen eine Bevölkerung von 26,800 Seelen, von denenwahrscheinlich der dritte Theil ohne Obdach ist.
In Valparaiso sind ebenfalls viele Haüser eingestürzt,und wir haben Nachrichten von den Wirkungen des Erd-bebens bis auf zwanzig Miles gegen Westen von ihm (?).Am folgenden Tage ging ich aus, indem ich mich südwärtswandte, um die östliche Störungslinie zu untersuchen; Mor-gen aber hoff’ ich auf meiner Reise nach Valparaiso dieAchse des Erd-Sturms zu kreüzen, denn es ist nicht daranzu zweifeln, dass sie zwischen den Dörfern Curacavi undCasablanca in einer S. gen W. Richtung laüft.