Die Pflanzstädte der Hellenen . Kosmos. Von Alexander von Humboldt. Bd. 2. Stuttg. und Tüb. 1847. Vergl. Raoul-Rochette, histoire critique de l'etablissement des colonies grecques. Paris 1815. 4. Voll. D. H. Hegewisch, geographische und historische Nachrichten, die Colonien der Griechen betreffend, nebst Betrachtungen über die Veranlassungen, den Zustand und die Schicksale dieser Colonien. Altona. 1808. Pfefferkorn, die Colonien der Altgriechen. Königsberg i. d. N. 1838. 4. Hermann, cap. 4. § 73--87. S. 158--193. Wachsmuth, Bd. 1. Buch 1, 4. § 14--16. S. 81--121. Kein Volk der alten Welt hat zahlreichere und in der Mehrzahl mächtigere Pflanzstädte dargeboten als die Hellenen. Von der Ausführung der ältesten äolischen Colonien, unter denen Mytilene und Smyrna glänzten, bis zu der Gründung von Syracus, Croton und Cyrene sind aber auch vier bis fünf Jahrhunderte verflossen. Die Inder und Malaye haben nur schwache Ansiedelungen an der Ostküste von Afrika, in Zokotora (Dioscorides) und im südlichen asiatischen Archipel versucht. Bei den Phöniciern hat sich zwar ein sehr ausgebildetes Colonial-System auf noch größere Räume als das griechische ausgedehnt, indem dasselbe, doch mit sehr großer Unterbrechung der Stationen, sich vom persischen Meerbusen bis Cerne an der Westküste von Afrika erstreckte. Kein Mutterland hat je eine Colonie geschaffen, welche in dem Grade mächtig erobernd und handelnd zugleich gewesen ist, als es Carthago war. Aber Carthago stand trotz seiner Größe in geistiger Cultur und artistischer Bildsamkeit tief unter dem, was in den griechischen Pflanzstädten so herrlich und dauernd unter den edelsten Kunstformen erblühte. Vergessen wir nicht, daß gleichzeitig viele volkreiche griechische Städte in Kleinasien, im ägäischen Meere, in Unteritalien und Sicilien glänzten; daß, wie Carthago, so auch die Pflanzstädte Myletus und Massilia andere Pflanzstädte gründeten; daß Syracus auf dem Gipfel seiner Macht gegen Athen und die Heere von Hannibal und Hamilkar kämpfte; daß Milet nach Tyrus und Carthago lange Zeit die erste Handelsstadt der Welt war. Indem sich durch die Thatkraft eines, in seinem Inneren oft erschütterten Volkes ein so reich bewegtes Leben nach außen entfaltete, wurden, bei zunehmendem Wohlstande, durch die Verpflanzung einheimischer Cultur überall neue Keime der geistigen National- Entwickelung hervorgerufen. Das Band gemeinsamer Sprache und Heiligthümer umfaßte die fernesten Glieder. Durch diese trat das kleine hellenische Mutterland in die weiten Lebenskreise anderer Völker. Fremde Elemente wurden aufgenommen, ohne dem Griechenthum etwas von seinem großen und selbstständigen Charakter zu entziehen. Der Einfluß eines Contacts mit dem Orient und, über hundert Jahre vor dem Einfall des Cambyses, mit dem noch nicht persisch gewordenen Aegypten war ohnedies seiner Natur nach dauernder als der Einfluß so viel bestrittener, in tiefes Dunkel gehüllter Niederlassungen des Cecrops aus Sais, des Kadmus aus Phönicien und des Danaus aus Chemmis. Was die griechischen Colonien von allen anderen, besonders von den starren phönicischen, unterschied und in den ganzen Organismus ihres Gemeinwesens eingriff, entsprang aus der Individualität und uralten Verschiedenheit der Stämme, in welche die Nation sich theilte. Es war in den Colonien wie im ganzen Hellenismus ein Gemisch von bindenden und trennenden Kräften. Diese Gegensätze erzeugten Mannigfaltigkeit in der Ideenrichtung und den Gefühlen, Verschiedenheiten in Dichtungsweise und melischer Kunst; sie erzeugten überall die reiche Lebensfülle, in welcher sich das scheinbar Feindliche, nach höherer Weltordnung, zu mildernder Eintracht löste. Waren auch Milet, Ephesus und Kolophon ionisch; Cos, Rhodus und Halikarnaß dorisch; Croton und Sybaris achäisch: so übte doch mitten in dieser Vielseitigkeit der Cultur, ja da, wo in Unteritalien Pflanzstädte verschiedener Volksstämme neben einander lagen, die Macht der homerischen Gesänge, die Macht des begeisterten, tiefempfundenen Wortes, ihren allvermittelnden Zauber aus. Bei festgewurzelten Contrasten in den Sitten und in den Staatsverfassungen, bei dem wechselnden Schwanken der letzteren erhielt sich das Griechenthum ungetheilt. Ein weites, durch die einzelnen Stämme errungenes Reich der Ideen und Kunsttypen wurde als das Eigenthum der gesammten Nation betrachtet. A. v. Humboldt.