Das nächtliche Thierleben im Urwalde. Von Alexander von Humboldt. Wenn die, stammweise so verschiedene Lebendigkeit des Naturgefühls. wenn die Beschaffenheit der Länder, welche die Völker gegenwärtig bewohnen oder auf früheren Wanderungen durchzogen haben, die Sprachen mehr oder minder mit scharf bezeichnenden Wörtern für Berggestaltung, Zustand der Vegetation, Anblick des Luftkreises, Umriß und Gruppirung der Wolken bereichern; so werden durch langen Gebrauch und durch litterarische Willkühr viele dieser Bezeichnungen von ihrem ursprünglichen Sinne abgewendet. Für gleichbedeutend wird allmählich gehalten, was getrennt bleiben sollte; und die Sprachen verlieren von der Anmuth und Kraft, mit der sie, naturbeschreibend, den physiognomischen Charakter der Landschaft darzustellen vermögen. Um den linguistischen Reichthum zu beweisen, welchen ein inniger Contact mit der Natur und die Bedürfnisse des mühevollen Nomadenlebens haben hervorrufen können, erinnere ich an die Unzahl von charakteristischen Benennungen, durch die im Arabischen und Persischen Ebenen, Steppen und Wüsten unterschieden werden: je nachdem sie ganz nackt, oder mit Sand bedeckt, oder durch Felsplatten unterbrochen sind, einzelne Weideplätze umschließen oder lange Züge geselliger Pflanzen darbieten. Fast eben so auffallend sind in alt-castilianischen Idiomen die vielen Ausdrücke für die Physiognomik der Gebirgsmassen, für diejenigen ihrer Gestaltungen, welche unter allen Himmelsstrichen wiederkehren und schon in weiter Ferne die Natur des Gesteins offenbaren. Da Stämme spanischer Abkunft den Abhang der Andeskette, den gebirgigen Theil der canarischen Inseln, der Antillen und Philippinen bewohnen, und die Bodengestaltung dort in einem größeren Maaßstabe als irgendwo auf der Erde (den Himalaya und das tübetanische Hochland etwa abgerechnet) die Lebensart der Bewohner bedingt; so hat die Formbezeichnung der Berge in der Trachyt-, Basalt- und Porphyr-Region, wie im Schiefer-, Kalk- und Sandstein-Gebirge in täglichem Gebrauche sich glücklich erhalten. In den gemeinsamen Schatz der Sprache geht dann auch das Neugeformte über. Der Menschen Rede wird durch alles belebt, was auf Naturwahrheit hindeutet: sei es in der Schilderung der von der Außenwelt empfangenen sinnlichen Eindrücke, oder des tief bewegten Gedanken und innerer Gefühle. Das unablässige Streben nach dieser Wahrheit ist im Auffassen der Erscheinungen wie in der Wahl des bezeichnenden Ausdruckes der Zweck aller Naturbeschreibung. Es wird derselbe am leichtesten erreicht durch Einfachheit der Erzählung von dem Selbstbeobachteten, dem Selbsterlebten, durch die beschränkende Individualisirung der Lage, an welche sich die Erzählung knüpft. Verallgemeinerung physischer Ansichten, Aufzählung der Resultate gehört in die Lehre vom Kosmos, die freilich noch immer für uns eine inductive Wissenschaft ist; aber die lebendige Schilderung der Organismen (der Thiere und der Pflanzen) in ihrem landschaftlichen, örtlichen Verhältniß zur vielgestalteten Erdoberfläche (als ein kleines Stück des gesammten Erdlebens) bietet das Material zu jener Lehre dar. Sie wirkt anregend auf das Gemüth da, wo sie einer ästhetischen Behandlung großer Naturerscheinungen fähig ist. Zu diesen letzteren gehört vorzugsweise die unermeßliche Waldgegend, welche in der heißen Zone von Südamerika die mit einander verbundenen Stromgebiete des Orinoco und des Amazonenflusses füllt. Es verdient diese Gegend im strengsten Sinne des Wortes den Namen Urwald, mit dem in neueren Zeiten so viel Mißbrauch getrieben wird. Urwald, Urzeit und Urvolk sind ziemlich unbestimmte Begriffe, meist nur relativen Gehalts. Soll jede wilde Forst, voll dichten Baumwuchses, an den der Mensch nicht die zerstörende Hand gelegt, ein Urwald heißen; so ist die Erscheinung vielen Theilen der gemäßigten und kalten Zone eigen. Liegt aber der Charakter in der Undurchdringlichkeit, in der Unmöglichkeit sich in langen Strecken zwischen Bäumen von 8 bis 12 Fuß Durchmesser durch die Axt einen Weg zu bahnen, so gehört der Urwald ausschließlich der Tropen-Gegend an. Auch sind es keinesweges immer die strickförmigen, rankenden, kletternden Schlingpflanzen (Lianen), welche, wie man in Europa fabelt, die Undurchdringlichkeit verursachen. Die Lianen bilden oft nur eine sehr kleine Masse des Unterholzes. Das Haupthinderniß sind die, allen Zwischenraum füllenden, strauchartigen Gewächse: in einer Zone, wo alles, was den Boden bedeckt, holzartig wird. Wenn Reisende, kaum in einer Tropen-Gegend gelandet, und dazu noch auf Inseln, schon, in der Nähe der Küste, glauben in Urwälder eingedrungen zu sein; so liegt die Täuschung wohl nur in der Sehnsucht nach Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Nicht jeder Tropenwald ist ein Urwald. Ich habe mich des letzteren Wortes in meinem Reisewerke fast nie bedient: und doch glaube ich unter allen jetzt lebenden Naturforschern mit Bonpland, Martius, Pöppig, Robert und Richard Schomburgk im Innersten eines großen Continents am längsten in Urwäldern gelebt zu haben. Trotz des auffallenden Reichthums der spanischen Sprache an naturbeschreibenden Bezeichnungen, dessen ich oben erwähnte, wird ein und dasselbe Wort, monte, zugleich für Berg und Wald, für cerro (montana) und selva gebraucht. In einer Arbeit über die wahre Breite und die größte Ausdehnung der Andeskette gegen Osten habe ich gezeigt, wie jene zwiefache Bedeutung des Wortes monte die Veranlassung gewesen ist, daß eine schöne und weit verbreitete englische Carte von Südamerika Ebenen mit hohen Bergreihen bedeckt hat. Wo die spanische Carte von La Cruz Olmedilla, die so vielen anderen zum Grunde gelegt worden ist, Cacao-Wald, montes de Cacao angegeben hatte, sind Cordilleren entstanden: obgleich der Cacao-Baum nur die heißeste Niederung sucht. Wenn man die Waldgegend, welche ganz Südamerika zwischen den Grassteppen von Venezuela (los Llanos de Caracas) und den Pampas von Buenos Aires, zwischen 8 Grad nördlicher und 19 Grad südlicher Breite einnimmt, mit einem Blicke umfaßt; so erkennt man, daß dieser zusammenhangenden Hylaea der Tropen-Zone keine andere an Ausdehnung auf dem Erdboden gleichkommt. Sie hat ohngefähr 12 mal den Flächeninhalt von Deutschland. Nach allen Richtungen von Strömen durchschnitten, deren Bei- und Zuflüsse erster und zweiter Ordnung unsere Donau und unseren Rhein an Wasserreichthum bisweilen übertreffen, verdankt sie die wundersame Ueppigkeit ihres Baumwuchses der zwiefach wohlthätigen Einwirkung großer Feuchtigkeit und Wärme. In der gemäßigten Zone, besonders in Europa und dem nördlichen Asien, kann man die Wälder nach Baumgattungen benennen, die als gesellige Pflanzen (plantae sociales) zusammen wachsen und die einzelnen Wälder bilden. In den nördlichen Eichen-, Tannen- und Birken-, in den östlichen Linden-Waldungen herrscht gewöhnlich nur Eine Species der Amentaceen, der Coniferen oder der Tiliaceen; bisweilen ist eine Art der Nadelhölzer mit Laubholz gemengt. Eine solche Einförmigkeit in der Zusammengesellung ist den Tropen-Waldungen fremd. Die übergroße Mannigfaltigkeit der blüthenreichen Waldflora verbietet die Frage: woraus die Urwälder bestehen? Eine Unzahl von Familien drängt sich hier zusammen; selbst in kleinen Räumen gesellt sich kaum gleiches zu gleichem. Mit jedem Tage, bei jedem Wechsel des Aufenthaltes bieten sich dem Reisenden neue Gestaltungen dar; oft Blüthen, die er nicht erreichen kann, wenn schon Blattform und Verzweigung seine Aufmerksamkeit anziehen. Die Flüsse mit ihren zahllosen Seiten- Armen sind die einzigen Wege des Landes. Astronomische Beobachtungen oder, wo diese fehlen, Compaß-Bestimmungen der Flußkrümmung haben zwischen dem Orinoco, dem Cassiquiare und dem Rio Negro mehrfach gezeigt, wie in der Nähe einiger wenigen Meilen zwei einsame Missionsdörfer liegen, deren Mönche anderthalb Tage brauchen, um in den aus einem Baumstamm gezimmerten Canoen, den Windungen kleiner Bäche folgend, sich gegenseitig zu besuchen. Den auffallendsten Beweis von der Undurchdringlichkeit einzelner Theile des Waldes giebt aber ein Zug aus der Lebensweise des großen amerikanischen Tigers oder pantherartigen Jaguars. Während durch Einführung des europäischen Rindviehes, der Pferde und Maulesel die reißenden Thiere in den Llanos und Pampas, in den weiten baumlosen Grasfluren von Varinas, dem Meta und Buenos Aires, reichliche Nahrung finden und sich seit der Entdeckung von Amerika dort, im ungleichen Kampfe mit den Viehheerden, ansehnlich vermehrt haben; führen andere Individuen derselben Gattung in dem Dickicht der Wälder, den Quellen des Orinoco nahe, ein mühevolles Leben. Der schmerzhafte Verlust eines großen Hundes vom Doggengeschlechte (unseres treuesten und freundlichsten Reisegefährten), in einem Bivouac nahe bei der Einmündung des Cassiquiare in dem Orinoco, hatte uns bewogen, ungewiß, ob er vom Tiger zerrissen sei, aus dem Insectenschwarm der Mission Esmeralda zurückkehrend, noch eine Nacht an demselben Orte zuzubringen, wo wir den Hund so lange vergebens gesucht. Wir hörten wieder in großer Nähe das Geschrei der Jaguars: wahrscheinlich derselben, denen wir die Unthat zuschreiben konnten. Da der bewolkte Himmel alle Sternbeobachtungen hinderte, so ließen wir uns durch den Dolmetscher (lenguaraz) wiederholen, was die Eingebornen, unsre Ruderer, von den Tigern der Gegend erzählten. Es findet sich unter diesen nicht selten der sogenannte schwarze Jaguar, die größte und blutgierigste Abart, mit schwarzen, kaum sicht baren Flecken auf tief dunkelbraunem Felle. Sie lebt am Fuß der Gebirge Maraguaca und Unturan. "Die Jaguars", erzählte ein Indianer aus dem Stamm der Durimunder, "verirren sich aus Wanderungslust und Raubgier in so undurchdringliche Theile der Waldung, daß sie auf dem Boden nicht jagen können und, ein Schreckniß der Affen-Familien und der Viverre mit dem Rollschwanze (Cercoleptes), lange auf den Bäumen leben." Die deutschen Tagebücher, welchen ich dies entnehme, sind in der französisch von mir publicirten Reisebeschreibung nicht ganz erschöpft worden. Sie enthalten eine umständliche Schilderung des nächtlichen Thierlebens, ich könnte sagen der nächtlichen Thierstimmen, im Walde der Tropenländer. Ich halte diese Schilderung für vorzugsweise geeignet, einem Buche anzugehören, das den Titel: Ansichten der Natur führt. Was in Gegenwart der Erscheinung, oder bald nach den empfangenen Eindrücken niedergeschrieben ist, kann wenigstens auf mehr Lebensfrische Anspruch machen als der Nachklang später Erinnerung. Durch den Rio Apure, dessen Ueberschwemmungen ich in dem Aufsatz über die Wüsten und Steppen gedacht, gelangten wir, von Westen gegen Osten schiffend, in das Bette des Orinoco. Es war die Zeit des niedrigen Wasserstandes. Der Apure hatte kaum 1200 Fuß mittlerer Breite, während ich die des Orinoco bei seinem Zusammenfluß mit dem Apure (unfern dem Granitfelsen Curiquima, wo ich eine Standlinie messen konnte) noch über 11430 Fuß fand. Doch ist dieser Punkt, der Fels Curiquima, in gerader Linie noch hundert geographische Meilen vom Meere und von dem Delta des Orinoco entfernt. Ein Theil der Ebenen, die der Apure und der Payara durchströmen, ist von Stämmen der Yaruros und Achaguas bewohnt. In den Missionsdörfern der Mönche werden sie Wilde genannt, weil sie unabhängig leben wollen. In dem Grad ihrer sittlichen Roheit stehen sie aber sehr gleich mit denen, die, getauft, "unter der Glocke (baro la campana)" leben und doch jedem Unterrichte, jeder Belehrung fremd bleiben. Von der Insel del Diamante an, auf welcher die spanisch sprechenden Zambos Zukkerrohr bauen, tritt man in eine große und wilde Natur. Die Luft war von zahllosen Flamingos (Phoenicopterus) und anderen Wasservögeln erfüllt, die, wie ein dunkles, in seinen Umrissen stets wechselndes Gewölk, sich von dem blauen Himmelsgewölbe abhoben. Das Flußbette verengte sich bis zu 900 Fuß Breite, und bildete in vollkommen gerader Richtung einen Canal, der auf beiden Seiten von dichter Waldung umgeben ist. Der Rand des Waldes bietet einen ungewohnten Anblick dar. Vor der fast undurchdringlichen Wand riesenartiger Stämme von Caesalpinia. Cedreia und Desmanthus erhebt sich auf dem sandigen Flußufer selbst, mit großer Regelmäßigkeit, eine niedrige Hecke von Sauso. Sie ist nur 4 Fuß hoch, und besteht aus einem kleinen Strauche, Hermesia castaneifolia welcher ein neues Geschlecht aus der Familie der Euphorbiaceen bildet. Einige schlanke dornige Palmen, Piritu und Corozo von den Spaniern genannt (vielleicht Martinezia- oder Bactris-Arten), stehen der Hecke am nächsten. Das Ganze gleicht einer beschnittenen Gartenhecke, die nur in großen Entfernungen von einander thorartige Oeffnungen zeigt. Die großen vierfüßigen Thiere des Waldes haben unstreitig diese Oeffnungen selbst gemacht, um bequem an den Strom zu gelangen. Aus ihnen sieht man, vorzüglich am frühen Morgen und bei Sonnenuntergang, heraustreten, um ihre Jungen zu tränken, den amerikanischen Tiger, den Tapir und das Nabelschwein. Wenn sie, durch ein vorüberfahrendes Canot der Indianer beunruhigt, sich in den Wald zurückziehen wollen, so suchen sie nicht die Hecke des Sauso mit Ungestüm zu durchbrechen, sondern man hat die Freude die wilden Thiere vier- bis fünfhundert Schritt langsam zwischen der Hecke und dem Fluß fortschreiten und in der nächsten Oeffnung verschwinden zu sehen. Während wir 74 Tage lang auf einer wenig unterbrochenen Flußschifffahrt von 380 geographischen Meilen auf dem Orinoco, bis seinen Quellen nahe, auf dem Cassiquiare und dem Rio Negro in ein enges Canot eingesperrt waren, hatte sich uns an vielen Punkten dasselbe Schauspiel wiederholt; ich darf hinzusetzen: immer mit neuem Reize. Es erscheinen, um zu trinken, sich zu baden oder zu fischen, gruppenweise Geschöpfe der verschiedensten Thierclassen: mit den großen Mammalien vielfarbige Reiher, Palamedeen und die stolz einherschreitenden Hokkohühner (Crax Alector, C. Pauxi). "Hier geht es zu wie im Paradiese:" sagte mit frommer Miene unser Steuermann, ein alter Indianer, der in dem Hause eines Geistlichen erzogen war. Aber der süße Frieden goldener Urzeit herrscht nicht in dem Paradiese der amerikanischen Thierwelt. Die Geschöpfe sondern, beobachten und meiden sich. Die Capybara, das 3 bis 4 Fuß lange Wasserschwein, eine colossale Wiederholung des gewöhnlichen brasilianischen Meerschweinchens, wird im Flusse vom Crocodil, auf der Trokkne vom Tiger gefressen. Es läuft dazu so schlecht, daß wir mehrmals einzelne aus den zahlreichen Heerden einholen uud erhaschen können. Unterhalb der Mission von Santa Barbara de Arichuna brachten wir die Nacht wie gewöhnlich unter freiem Himmel, auf einer Sandfläche am Ufer des Apure zu. Sie war von dem nahen, undurchdringlichen Walde begrenzt. Wir hatten Mühe dürres Holz zu finden, um die Feuer anzuzünden, mit denen nach der Landessitte jedes Bivouac wegen der Angriffe des Jaguars umgeben wird. Die Nacht war von milder Feuchte und mondhell. Mehrere Crocodile näherten sich dem Ufer. Ich glaube bemerkt zu haben, daß der Anblick des Feuers sie eben so anlockt wie unsre Krebse und manche andere Wasserthiere. Die Ruder unserer Nachen wurden sorgfältig in den Boden gesenkt, um unsere Hangematten daran zu befestigen. Es herrschte tiefe Ruhe; man hörte nur bisweilen das Schnarchen der Süßwasser-Delphine, welche dem Flußnetze des Orinoco wie (nach Colebrooke) dem Ganges bis Benares hin eieigenthümlich sind und in langen Zügen auf einander folgten. Nach 11 Uhr entstand ein solcher Lärmen im nahen Walde, daß man die übrige Nacht hindurch auf jeden Schlaf verzichten mußte. Wildes Thiergeschrei durchtobte die Forst. Unter den vielen Stimmen, die gleichzeitig ertönten, konnten die Indianer nur die erkennen, welche nach kurzer Pause einzeln gehört wurden. Es waren das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüllaffen), der winselnde, fein flötende Ton der kleinen Sapajons, das schnarrende Murren des gestreiften Nachtaffen, das abgesetzte Geschrei des großen Tigers, des Cuguars oder ungemähnten amerikanischen Löwen, des Pecari, des Faulthiers und einer Schaar von Papageien, Parraquas (Ortaliden) und anderer fasanenartigen Vögel. Wenn die Tiger dem Rande des Waldes nahe kamen, suchte unser Hund, der vorher ununterbrochen bellte, heulend Schutz unter den Hangematten. Bisweilen kam das Geschrei des Tigers von der Höhe eines Baumes herab. Es war dann stets von den klagenden Pfeifentönen der Affen begleitet, die der ungewohnten Nachstellung zu entgehen suchten. Fragt man die Indianer, warum in gewissen Nächten ein so anhaltender Lärmen entsteht, so antworten sie lächelnd: "die Thiere freuen sich der schönen Mondhelle, sie feiern den Vollmond". Mir schien die Scene ein zufällig entstandener, lang fortgesetzter, sich steigernd entwickelnder Thierkampf. Der Jaguar verfolgt die Nabelschweine und Tapirs, die dicht an einander gedrängt das baumartige Strauchwerk durchbrechen, welches ihre Flucht behindert. Davon erschreckt, mischen von dem Gipfel der Bäume herab die Affen ihr Geschrei in das der größeren Thiere. Sie erwecken die gesellig horstenden Vogelgeschlechter, und so kommt allmählich die ganze Thierwelt in Aufregung. Eine längere Erfahrung hat uns gelehrt, daß es keinesweges immer "die gefeierte Mondhelle" ist, welche die Ruhe der Wälder stört. Die Stimmen waren am lautesten bei heftigem Regengusse, oder wenn bei krachendem Donner der Blitz das Innere des Waldes erleuchtet. Der gutmüthige, viele Monate schon fieberkranke Franciscaner-Mönch, der uns durch die Cataracten von Atures und Maypures nach San Carlos des Rio Negro , bis an die brasilianische Grenze, begleitete, pflegte zu sagen, wenn bei einbrechender Nacht er ein Gewitter fürchtete: "möge der Himmel, wie uns selbst, so auch den wilden Bestien des Waldes eine ruhige Nacht gewähren!" Mit den Naturscenen, die ich hier schildere und die sich oft für uns wiederholten, contrastirt wundersam die Stille, welche unter den Tropen an einem ungewöhnlich heißen Tage in der Mittagsstunde herrscht. Ich entlehne demselben Tagebuche eine Erinnerung an die Flußenge des Baraguan. Hier bahnt sich der Orinoco einen Weg durch den westlichen Theil des Gebirges Parime. Was man an diesem merkwürdigen Paß eine Flußenge (Angostura del Baraguan) nennt, ist ein Wasserbecken von noch 890 Toisen (5340 Fuß) Breite. Außer einem alten dürren Stamme der Aubletia (Apeiba Tiburbu) und einer neuen Apocinee, Allamanda salicifolia, waren an dem nackten Felsen kaum einige silberglänzende Croton- Sträucher zu finden. Ein Thermometer, im Schatten beobachtet. aber bis auf einige Zolle der thurmartigen Felsen genähert, stieg auf mehr als 40 Gr. Reaumur. Alle ferne Gegenstände hatten wellenförmig wogende Umrisse, eine Folge der Spiegelung oder optischen Kimmung (mirage). Kein Lüftchen bewegte den staubartigen Sand des Bodens. Die Sonne stand im Zenith; und die Lichtmasse, die sie auf den Strom ergoß und die von diesem, wegen einer schwachen Wellenbewegung funkelnd, zurückstrahlt, machte bemerkbarer noch die nebelartige Röthe, welche die Ferne umhüllte. Alle Felsblöcke und nackten Steingerölle waren mit einer Unzahl von großen, dickschuppigen Iguanen, Gecko- Eidechsen und buntgefleckten Salamandern bedeckt. Unbeweglich, den Kopf erhebend, den Mund weit geöffnet, scheinen sie mit Wonne die heiße Luft einzuathmen. Die größeren Thiere verbergen sich dann in das Dickicht der Wälder, die Vögel unter das Laub der Bäume oder in die Klüfte der Felsen; aber lauscht man bei dieser scheinbaren Stille der Natur auf die schwächsten Töne, die uns zukommen, so vernimmt man ein dumpfes Geräusch, ein Schwirren und Sumsen der Insecten, dem Boden nahe und in den unteren Schichten des Luftkreises. Alles verkündigt eine Welt thätiger, organischer Kräfte. In jedem Strauche, in der gespaltenen Rinde des Baumes, in der von Hymenoptern bewohnten, aufgelockerten Erde regt sich hörbar das Leben. Es ist wie eine der vielen Stimmen der Natur, vernehmbar dem frommen, empfänglichen Gemüthe des Menschen.