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Alexander von Humboldt: „Das nächtliche Thierleben im Urwalde“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1849-Das_naechtliche_Leben-19-neu> [abgerufen am 19.04.2024].

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Titel Das nächtliche Thierleben im Urwalde
Jahr 1853
Ort Baltimore, Maryland
Nachweis
in: Die Fackel. Literaturblatt zur Förderung geistiger Freiheit 7 (1853), S. 272–277.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur; Spaltensatz; Auszeichnung: Sperrung.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: VI.118
Dateiname: 1849-Das_naechtliche_Leben-19-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 6
Spaltenanzahl: 10
Zeichenanzahl: 20242

Weitere Fassungen
Das nächtliche Leben im Urwald (Stuttgart; Tübingen, 1849, Deutsch)
The Nocturnal Life of Animals in the Primeval Forest (London, 1849, Englisch)
The nocturnal life of animals in the primeval forest (London, 1849, Englisch)
Nocturnal Life of Animals in the Primeval Forest (London, 1849, Englisch)
The forest at midnight (Banbury, 1849, Englisch)
Life of animals in the primeval forest (Belfast, 1849, Englisch)
Das nächtliche Thierleben im Urwalde (Leipzig, 1849, Deutsch)
A Burning Day on the Orinoco (London, 1850, Englisch)
A Burning Day on the Orinoco (Nottingham, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals. – A Night on the Apure (London, 1850, Englisch)
Nocturnal life of animals. – A night on the Apure (London, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals. – A Night on the Apure (Newcastle-upon-Tyne, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals. – A night on the Apure (Devizes, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals – A Night on the Apure (Manchester, 1850, Englisch)
Nocturnal life of animals in the primeval forest (Pietermaritzburg, 1850, Englisch)
The Forest at Midnight (Worcester, 1850, Englisch)
Nocturnal life of animals in the primeval forest (London, 1851, Englisch)
Der Waldsaum am Orinoco (Leipzig, 1851, Deutsch)
Das nächtliche Thierleben im Urwalde (Baltimore, Maryland, 1853, Deutsch)
Syd-Amerikas skogar (Borgå, 1854, Schwedisch)
A night on the banks of a south american river (Glasgow, 1856, Englisch)
[Das nächtliche Leben im Urwald] (Philadelphia, Pennsylvania, 1858, Englisch)
Vida nocturna dos animaes nas florestas do Novo Mundo (São Luís, 1859, Portugiesisch)
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Das nächtliche Thierleben imUrwalde.

Von Alexander von Humboldt.


Wenn die, ſtammweiſe ſo verſchiedene Le-bendigkeit des Naturgefühls. wenn die Be-ſchaffenheit der Länder, welche die Völkergegenwärtig bewohnen oder auf früheren Wan-derungen durchzogen haben, die Sprachenmehr oder minder mit ſcharf bezeichnendenWörtern für Berggeſtaltung, Zuſtand derVegetation, Anblick des Luftkreiſes, Umrißund Gruppirung der Wolken bereichern; ſowerden durch langen Gebrauch und durchlitterariſche Willkühr viele dieſer Bezeichnun-gen von ihrem urſprünglichen Sinne abge-wendet. Für gleichbedeutend wird allmählichgehalten, was getrennt bleiben ſollte; unddie Sprachen verlieren von der Anmuth undKraft, mit der ſie, naturbeſchreibend, denphyſiognomiſchen Charakter der Landſchaft dar-zuſtellen vermögen. Um den linguiſtiſchenReichthum zu beweiſen, welchen ein innigerContact mit der Natur und die Bedürfniſſedes mühevollen Nomadenlebens haben her-vorrufen können, erinnere ich an die Unzahlvon charakteriſtiſchen Benennungen, durch dieim Arabiſchen und Perſiſchen Ebenen, Step-pen und Wüſten unterſchieden werden: jenachdem ſie ganz nackt, oder mit Sand be-deckt, oder durch Felsplatten unterbrochen ſind,einzelne Weideplätze umſchließen oder langeZüge geſelliger Pflanzen darbieten. Faſt ebenſo auffallend ſind in alt-caſtilianiſchen Idi-omen die vielen Ausdrücke für die Phyſio-gnomik der Gebirgsmaſſen, für diejenigen ih-rer Geſtaltungen, welche unter allen Him-melsſtrichen wiederkehren und ſchon in wei-ter Ferne die Natur des Geſteins offenba-ren. Da Stämme ſpaniſcher Abkunft denAbhang der Andeskette, den gebirgigen Theilder canariſchen Inſeln, der Antillen undPhilippinen bewohnen, und die Bodengeſtal-tung dort in einem größeren Maaßſtabe alsirgendwo auf der Erde (den Himalaya und|273| |Spaltenumbruch| das tübetaniſche Hochland etwa abgerechnet)die Lebensart der Bewohner bedingt; ſo hatdie Formbezeichnung der Berge in der Trachyt-,Baſalt- und Porphyr-Region, wie im Schie-fer-, Kalk- und Sandſtein-Gebirge in täg-lichem Gebrauche ſich glücklich erhalten. Inden gemeinſamen Schatz der Sprache gehtdann auch das Neugeformte über. DerMenſchen Rede wird durch alles belebt, wasauf Naturwahrheit hindeutet: ſei esin der Schilderung der von der Außenweltempfangenen ſinnlichen Eindrücke, oder destief bewegten Gedanken und innerer Gefühle.Das unabläſſige Streben nach dieſer Wahr-heit iſt im Auffaſſen der Erſcheinungen wiein der Wahl des bezeichnenden Ausdruckesder Zweck aller Naturbeſchreibung. Es wirdderſelbe am leichteſten erreicht durch Ein-fachheit der Erzählung von dem Selbſtbeo-bachteten, dem Selbſterlebten, durch die be-ſchränkende Individualiſirung der Lage, anwelche ſich die Erzählung knüpft. Verallge-meinerung phyſiſcher Anſichten, Aufzählungder Reſultate gehört in die Lehre vomKosmos, die freilich noch immer für unseine inductive Wiſſenſchaft iſt; aber die le-bendige Schilderung der Organismen (derThiere und der Pflanzen) in ihrem land-ſchaftlichen, örtlichen Verhältniß zur vielgeſtal-teten Erdoberfläche (als ein kleines Stückdes geſammten Erdlebens) bietet das Ma-terial zu jener Lehre dar. Sie wirkt an-regend auf das Gemüth da, wo ſie eineräſthetiſchen Behandlung großer Naturerſchei-nungen fähig iſt.Zu dieſen letzteren gehört vorzugsweiſe dieunermeßliche Waldgegend, welche in der hei-ßen Zone von Südamerika die mit einan-der verbundenen Stromgebiete des Orinocound des Amazonenfluſſes füllt. Es verdientdieſe Gegend im ſtrengſten Sinne des Wor-tes den Namen Urwald, mit dem inneueren Zeiten ſo viel Mißbrauch getriebenwird. Urwald, Urzeit und Urvolkſind ziemlich unbeſtimmte Begriffe, meiſt nurrelativen Gehalts. Soll jede wilde Forſt,voll dichten Baumwuchſes, an den der Menſch|Spaltenumbruch| nicht die zerſtörende Hand gelegt, ein Ur-wald heißen; ſo iſt die Erſcheinung vielenTheilen der gemäßigten und kalten Zoneeigen. Liegt aber der Charakter in der Un-durchdringlichkeit, in der Unmöglichkeit ſichin langen Strecken zwiſchen Bäumen von8 bis 12 Fuß Durchmeſſer durch die Axteinen Weg zu bahnen, ſo gehört der Ur-wald ausſchließlich der Tropen-Gegend an.Auch ſind es keinesweges immer die ſtrick-förmigen, rankenden, kletternden Schlingpflan-zen (Lianen), welche, wie man in Europafabelt, die Undurchdringlichkeit verurſachen.Die Lianen bilden oft nur eine ſehr kleineMaſſe des Unterholzes. Das Haupthinder-niß ſind die, allen Zwiſchenraum füllenden,ſtrauchartigen Gewächſe: in einer Zone, woalles, was den Boden bedeckt, holzartig wird.Wenn Reiſende, kaum in einer Tropen-Ge-gend gelandet, und dazu noch auf Inſeln,ſchon, in der Nähe der Küſte, glauben inUrwälder eingedrungen zu ſein; ſo liegt dieTäuſchung wohl nur in der Sehnſucht nachErfüllung eines lange gehegten Wunſches.Nicht jeder Tropenwald iſt ein Urwald. Ichhabe mich des letzteren Wortes in meinemReiſewerke faſt nie bedient: und doch glaubeich unter allen jetzt lebenden Naturforſchernmit Bonpland, Martius, Pöppig, Robertund Richard Schomburgk im Innerſten ei-nes großen Continents am längſten in Ur-wäldern gelebt zu haben.Trotz des auffallenden Reichthums der ſpa-niſchen Sprache an naturbeſchreibenden Be-zeichnungen, deſſen ich oben erwähnte, wirdein und daſſelbe Wort, monte, zugleichfür Berg und Wald, für cerro (montana)und selva gebraucht. In einer Arbeitüber die wahre Breite und die größte Aus-dehnung der Andeskette gegen Oſten habeich gezeigt, wie jene zwiefache Bedeutungdes Wortes monte die Veranlaſſung gewe-ſen iſt, daß eine ſchöne und weit verbrei-tete engliſche Carte von Südamerika Ebenenmit hohen Bergreihen bedeckt hat. Wo dieſpaniſche Carte von La Cruz Olmedilla, dieſo vielen anderen zum Grunde gelegt wor-|274| |Spaltenumbruch| den iſt, Cacao-Wald, montes de Cacaoangegeben hatte, ſind Cordilleren entſtanden:obgleich der Cacao-Baum nur die heißeſteNiederung ſucht.Wenn man die Waldgegend, welche ganzSüdamerika zwiſchen den Grasſteppen vonVenezuela (los Llanos de Caracas)und den Pampas von Buenos Aires, zwi-ſchen 8 Grad nördlicher und 19 Grad ſüd-licher Breite einnimmt, mit einem Blickeumfaßt; ſo erkennt man, daß dieſer zuſam-menhangenden Hylaea der Tropen-Zonekeine andere an Ausdehnung auf dem Erd-boden gleichkommt. Sie hat ohngefähr 12mal den Flächeninhalt von Deutſchland. Nachallen Richtungen von Strömen durchſchnit-ten, deren Bei- und Zuflüſſe erſter undzweiter Ordnung unſere Donau und unſe-ren Rhein an Waſſerreichthum bisweilen über-treffen, verdankt ſie die wunderſame Ueppig-keit ihres Baumwuchſes der zwiefach wohl-thätigen Einwirkung großer Feuchtigkeit undWärme. In der gemäßigten Zone, beſon-ders in Europa und dem nördlichen Aſien,kann man die Wälder nach Baumgattungenbenennen, die als geſellige Pflanzen(plantae sociales) zuſammen wachſen unddie einzelnen Wälder bilden. In den nörd-lichen Eichen-, Tannen- und Birken-, inden öſtlichen Linden-Waldungen herrſcht ge-wöhnlich nur Eine Species der Amentaceen,der Coniferen oder der Tiliaceen; bisweileniſt eine Art der Nadelhölzer mit Laubholzgemengt. Eine ſolche Einförmigkeit in derZuſammengeſellung iſt den Tropen-Waldun-gen fremd. Die übergroße Mannigfaltigkeitder blüthenreichen Waldflora verbietet dieFrage: woraus die Urwälder beſtehen? EineUnzahl von Familien drängt ſich hier zu-ſammen; ſelbſt in kleinen Räumen geſelltſich kaum gleiches zu gleichem. Mit jedemTage, bei jedem Wechſel des Aufenthaltesbieten ſich dem Reiſenden neue Geſtaltungendar; oft Blüthen, die er nicht erreichen kann,wenn ſchon Blattform und Verzweigung ſei-ne Aufmerkſamkeit anziehen.Die Flüſſe mit ihren zahlloſen Seiten-|Spaltenumbruch| Armen ſind die einzigen Wege des Landes.Aſtronomiſche Beobachtungen oder, wo dieſefehlen, Compaß-Beſtimmungen der Flußkrüm-mung haben zwiſchen dem Orinoco, dem Caſ-ſiquiare und dem Rio Negro mehrfach ge-zeigt, wie in der Nähe einiger wenigen Mei-len zwei einſame Miſſionsdörfer liegen, de-ren Mönche anderthalb Tage brauchen, umin den aus einem Baumſtamm gezimmertenCanoen, den Windungen kleiner Bäche fol-gend, ſich gegenſeitig zu beſuchen. Den auf-fallendſten Beweis von der Undurchdringlich-keit einzelner Theile des Waldes giebt aberein Zug aus der Lebensweiſe des großenamerikaniſchen Tigers oder pantherartigenJaguars. Während durch Einführung deseuropäiſchen Rindviehes, der Pferde undMauleſel die reißenden Thiere in den Lla-nos und Pampas, in den weiten baumloſenGrasfluren von Varinas, dem Meta undBuenos Aires, reichliche Nahrung findenund ſich ſeit der Entdeckung von Amerikadort, im ungleichen Kampfe mit den Vieh-heerden, anſehnlich vermehrt haben; führenandere Individuen derſelben Gattung in demDickicht der Wälder, den Quellen des Ori-noco nahe, ein mühevolles Leben. Derſchmerzhafte Verluſt eines großen Hundesvom Doggengeſchlechte (unſeres treueſten undfreundlichſten Reiſegefährten), in einem Bi-vouac nahe bei der Einmündung des Caſ-ſiquiare in dem Orinoco, hatte uns bewo-gen, ungewiß, ob er vom Tiger zerriſſenſei, aus dem Inſectenſchwarm der Miſſion Esme-ralda zurückkehrend, noch eine Nacht an demſelbenOrte zuzubringen, wo wir den Hund ſo lange ver-gebens geſucht. Wir hörten wieder in großerNähe das Geſchrei der Jaguars: wahrſchein-lich derſelben, denen wir die Unthat zuſchrei-ben konnten. Da der bewolkte Himmel alleSternbeobachtungen hinderte, ſo ließen wiruns durch den Dolmetſcher (lenguaraz) wie-derholen, was die Eingebornen, unſre Ruderer,von den Tigern der Gegend erzählten.Es findet ſich unter dieſen nicht ſelten derſogenannte ſchwarze Jaguar, die größteund blutgierigſte Abart, mit ſchwarzen, kaum|275| |Spaltenumbruch| ſicht baren Flecken auf tief dunkelbraunemFelle. Sie lebt am Fuß der Gebirge Ma-raguaca und Unturan. „Die Jaguars“, er-zählte ein Indianer aus dem Stamm derDurimunder, „verirren ſich aus Wanderungs-luſt und Raubgier in ſo undurchdringlicheTheile der Waldung, daß ſie auf dem Bo-den nicht jagen können und, ein Schrecknißder Affen-Familien und der Viverre mit demRollſchwanze (Cercoleptes), lange auf denBäumen leben.“Die deutſchen Tagebücher, welchen ich diesentnehme, ſind in der franzöſiſch von mirpublicirten Reiſebeſchreibung nicht ganz er-ſchöpft worden. Sie enthalten eine umſtänd-liche Schilderung des nächtlichen Thierlebens,ich könnte ſagen der nächtlichen Thierſtim-men, im Walde der Tropenländer. Ich haltedieſe Schilderung für vorzugsweiſe geeignet,einem Buche anzugehören, das den Titel:Anſichten der Natur führt. Wasin Gegenwart der Erſcheinung, oder baldnach den empfangenen Eindrücken niederge-ſchrieben iſt, kann wenigſtens auf mehr Le-bensfriſche Anſpruch machen als der Nach-klang ſpäter Erinnerung.Durch den Rio Apure, deſſen Ueberſchwem-mungen ich in dem Aufſatz über die Wü-ſten und Steppen gedacht, gelangten wir,von Weſten gegen Oſten ſchiffend, in dasBette des Orinoco. Es war die Zeit desniedrigen Waſſerſtandes. Der Apure hattekaum 1200 Fuß mittlerer Breite, währendich die des Orinoco bei ſeinem Zuſammen-fluß mit dem Apure (unfern dem Granit-felſen Curiquima, wo ich eine Standliniemeſſen konnte) noch über 11430 Fuß fand.Doch iſt dieſer Punkt, der Fels Curiquima,in gerader Linie noch hundert geographiſcheMeilen vom Meere und von dem Delta desOrinoco entfernt. Ein Theil der Ebenen,die der Apure und der Payara durchſtrö-men, iſt von Stämmen der Yaruros undAchaguas bewohnt. In den Miſſionsdörfernder Mönche werden ſie Wilde genannt, weilſie unabhängig leben wollen. In dem Gradihrer ſittlichen Roheit ſtehen ſie aber ſehr|Spaltenumbruch| gleich mit denen, die, getauft, „unter derGlocke (baro la campana)“ leben und dochjedem Unterrichte, jeder Belehrung fremdbleiben.Von der Inſel del Diamante an, aufwelcher die ſpaniſch ſprechenden Zambos Zuk-kerrohr bauen, tritt man in eine große undwilde Natur. Die Luft war von zahlloſenFlamingos (Phoenicopterus) und anderen Waſ-ſervögeln erfüllt, die, wie ein dunkles, inſeinen Umriſſen ſtets wechſelndes Gewölk,ſich von dem blauen Himmelsgewölbe abho-ben. Das Flußbette verengte ſich bis zu900 Fuß Breite, und bildete in vollkom-men gerader Richtung einen Canal, der aufbeiden Seiten von dichter Waldung umge-ben iſt. Der Rand des Waldes bietet ei-nen ungewohnten Anblick dar. Vor der faſtundurchdringlichen Wand rieſenartiger Stämmevon Caesalpinia. Cedreia und Desmanthuserhebt ſich auf dem ſandigen Flußufer ſelbſt,mit großer Regelmäßigkeit, eine niedrige Heckevon Sauso. Sie iſt nur 4 Fuß hoch, undbeſteht aus einem kleinen Strauche, Herme-sia castaneifolia welcher ein neues Geſchlechtaus der Familie der Euphorbiaceen bildet.Einige ſchlanke dornige Palmen, Piritu undCorozo von den Spaniern genannt (vielleichtMartinezia- oder Bactris-Arten), ſtehen derHecke am nächſten. Das Ganze gleicht ei-ner beſchnittenen Gartenhecke, die nur ingroßen Entfernungen von einander thorartigeOeffnungen zeigt. Die großen vierfüßigenThiere des Waldes haben unſtreitig dieſeOeffnungen ſelbſt gemacht, um bequem anden Strom zu gelangen. Aus ihnen ſiehtman, vorzüglich am frühen Morgen undbei Sonnenuntergang, heraustreten, um ihreJungen zu tränken, den amerikaniſchen Ti-ger, den Tapir und das Nabelſchwein. Wennſie, durch ein vorüberfahrendes Canot derIndianer beunruhigt, ſich in den Wald zu-rückziehen wollen, ſo ſuchen ſie nicht dieHecke des Sauso mit Ungeſtüm zu durch-brechen, ſondern man hat die Freude diewilden Thiere vier- bis fünfhundert Schrittlangſam zwiſchen der Hecke und dem Fluß|276| |Spaltenumbruch| fortſchreiten und in der nächſten Oeffnungverſchwinden zu ſehen. Während wir 74Tage lang auf einer wenig unterbrochenenFlußſchifffahrt von 380 geographiſchen Mei-len auf dem Orinoco, bis ſeinen Quellennahe, auf dem Caſſiquiare und dem RioNegro in ein enges Canot eingeſperrt wa-ren, hatte ſich uns an vielen Punkten daſ-ſelbe Schauſpiel wiederholt; ich darf hinzu-ſetzen: immer mit neuem Reize. Es er-ſcheinen, um zu trinken, ſich zu baden oderzu fiſchen, gruppenweiſe Geſchöpfe der ver-ſchiedenſten Thierclaſſen: mit den großenMammalien vielfarbige Reiher, Palamedeenund die ſtolz einherſchreitenden Hokkohühner(Crax Alector, C. Pauxi). „Hier geht eszu wie im Paradieſe:“ ſagte mit frommerMiene unſer Steuermann, ein alter India-ner, der in dem Hauſe eines Geiſtlichen er-zogen war. Aber der ſüße Frieden goldenerUrzeit herrſcht nicht in dem Paradieſe deramerikaniſchen Thierwelt. Die Geſchöpfe ſon-dern, beobachten und meiden ſich. Die Ca-pybara, das 3 bis 4 Fuß lange Waſſer-ſchwein, eine coloſſale Wiederholung desgewöhnlichen braſilianiſchen Meerſchweinchens,wird im Fluſſe vom Crocodil, auf der Trok-kne vom Tiger gefreſſen. Es läuft dazu ſoſchlecht, daß wir mehrmals einzelne aus denzahlreichen Heerden einholen uud erhaſchenkönnen.Unterhalb der Miſſion von Santa Bar-bara de Arichuna brachten wir die Nachtwie gewöhnlich unter freiem Himmel, aufeiner Sandfläche am Ufer des Apure zu.Sie war von dem nahen, undurchdring-lichen Walde begrenzt. Wir hatten Mühedürres Holz zu finden, um die Feuer an-zuzünden, mit denen nach der Landesſittejedes Bivouac wegen der Angriffe des Ja-guars umgeben wird. Die Nacht war vonmilder Feuchte und mondhell. Mehrere Cro-codile näherten ſich dem Ufer. Ich glaubebemerkt zu haben, daß der Anblick des Feu-ers ſie eben ſo anlockt wie unſre Krebſeund manche andere Waſſerthiere. Die Ru-der unſerer Nachen wurden ſorgfältig in den|Spaltenumbruch| Boden geſenkt, um unſere Hangematten da-ran zu befeſtigen. Es herrſchte tiefe Ruhe;man hörte nur bisweilen das Schnarchender Süßwaſſer-Delphine, welchedem Flußnetze des Orinoco wie (nach Cole-brooke) dem Ganges bis Benares hin ei-eigenthümlich ſind und in langen Zügenauf einander folgten.Nach 11 Uhr entſtand ein ſolcher Lärmenim nahen Walde, daß man die übrige Nachthindurch auf jeden Schlaf verzichten mußte.Wildes Thiergeſchrei durchtobte die Forſt.Unter den vielen Stimmen, die gleichzeitigertönten, konnten die Indianer nur die er-kennen, welche nach kurzer Pauſe einzeln ge-hört wurden. Es waren das einförmig jam-mernde Geheul der Aluaten (Brüllaffen), derwinſelnde, fein flötende Ton der kleinen Sa-pajons, das ſchnarrende Murren des geſtreif-ten Nachtaffen, das abgeſetzte Geſchrei desgroßen Tigers, des Cuguars oder ungemähn-ten amerikaniſchen Löwen, des Pecari, desFaulthiers und einer Schaar von Papageien,Parraquas (Ortaliden) und anderer faſanen-artigen Vögel. Wenn die Tiger dem Randedes Waldes nahe kamen, ſuchte unſer Hund,der vorher ununterbrochen bellte, heulendSchutz unter den Hangematten. Bisweilenkam das Geſchrei des Tigers von der Hö-he eines Baumes herab. Es war dann ſtetsvon den klagenden Pfeifentönen der Affenbegleitet, die der ungewohnten Nachſtellungzu entgehen ſuchten.Fragt man die Indianer, warum in ge-wiſſen Nächten ein ſo anhaltender Lärmenentſteht, ſo antworten ſie lächelnd: „die Thierefreuen ſich der ſchönen Mondhelle, ſie feiernden Vollmond“. Mir ſchien die Scene einzufällig entſtandener, lang fortgeſetzter, ſichſteigernd entwickelnder Thierkampf. Der Ja-guar verfolgt die Nabelſchweine und Tapirs,die dicht an einander gedrängt das baum-artige Strauchwerk durchbrechen, welches ihreFlucht behindert. Davon erſchreckt, miſchenvon dem Gipfel der Bäume herab die Af-fen ihr Geſchrei in das der größeren Thiere.Sie erwecken die geſellig horſtenden Vogel-|277| |Spaltenumbruch| geſchlechter, und ſo kommt allmählich dieganze Thierwelt in Aufregung. Eine längereErfahrung hat uns gelehrt, daß es keines-weges immer „die gefeierte Mondhelle“ iſt,welche die Ruhe der Wälder ſtört. DieStimmen waren am lauteſten bei heftigemRegenguſſe, oder wenn bei krachendem Don-ner der Blitz das Innere des Waldes er-leuchtet. Der gutmüthige, viele Monate ſchonfieberkranke Franciſcaner-Mönch, der uns durchdie Cataracten von Atures und Maypuresnach San Carlos des Rio Negro, bis andie braſilianiſche Grenze, begleitete, pflegtezu ſagen, wenn bei einbrechender Nacht erein Gewitter fürchtete: „möge der Himmel,wie uns ſelbſt, ſo auch den wilden Beſtiendes Waldes eine ruhige Nacht gewähren!“Mit den Naturſcenen, die ich hier ſchil-dere und die ſich oft für uns wiederholten,contraſtirt wunderſam die Stille, welche un-ter den Tropen an einem ungewöhnlich heißenTage in der Mittagsſtunde herrſcht. Ichentlehne demſelben Tagebuche eine Erinne-rung an die Flußenge des Baraguan. Hierbahnt ſich der Orinoco einen Weg durchden weſtlichen Theil des Gebirges Parime.Was man an dieſem merkwürdigen Paßeine Flußenge (Angostura del Baraguan)nennt, iſt ein Waſſerbecken von noch 890Toiſen (5340 Fuß) Breite. Außer einemalten dürren Stamme der Aubletia (ApeibaTiburbu) und einer neuen Apocinee, Alla-manda salicifolia, waren an dem nacktenFelſen kaum einige ſilberglänzende Croton-Sträucher zu finden. Ein Thermometer, imSchatten beobachtet. aber bis auf einige Zolleder thurmartigen Felſen genähert, ſtieg aufmehr als 40 Gr. Reaumur. Alle ferneGegenſtände hatten wellenförmig wogende Um-riſſe, eine Folge der Spiegelung oder opti-ſchen Kimmung (mirage). Kein Lüftchenbewegte den ſtaubartigen Sand des Bodens.Die Sonne ſtand im Zenith; und die Licht-maſſe, die ſie auf den Strom ergoß unddie von dieſem, wegen einer ſchwachen Wel-lenbewegung funkelnd, zurückſtrahlt, machtebemerkbarer noch die nebelartige Röthe, wel-|Spaltenumbruch| che die Ferne umhüllte. Alle Felsblöcke undnackten Steingerölle waren mit einer Unzahlvon großen, dickſchuppigen Iguanen, Gecko-Eidechſen und buntgefleckten Salamandern be-deckt. Unbeweglich, den Kopf erhebend, denMund weit geöffnet, ſcheinen ſie mit Wonnedie heiße Luft einzuathmen. Die größerenThiere verbergen ſich dann in das Dickichtder Wälder, die Vögel unter das Laub derBäume oder in die Klüfte der Felſen; aberlauſcht man bei dieſer ſcheinbaren Stilleder Natur auf die ſchwächſten Töne, dieuns zukommen, ſo vernimmt man ein dum-pfes Geräuſch, ein Schwirren und Sumſender Inſecten, dem Boden nahe und in denunteren Schichten des Luftkreiſes. Alles ver-kündigt eine Welt thätiger, organiſcher Kräfte.In jedem Strauche, in der geſpaltenen Rindedes Baumes, in der von Hymenoptern be-wohnten, aufgelockerten Erde regt ſich hör-bar das Leben. Es iſt wie eine der vielenStimmen der Natur, vernehmbar dem from-men, empfänglichen Gemüthe des Menſchen.