Der Waldſaum am Orinoco. Die unermeßliche Waldgegend, welche in der heißen Zone von Süd-Amerika die mit einander verbundenen Stromgebiete des Orinoco und des Amazonenflufſes füllt, verdient im ſtrengſten Sinne des Wortes den Namen Urwald, mit dem in neueren Zeiten ſo viel Mißbrauch getrieben wird. Urwald, Urzeit und Urvolk ſind ziemlich unbeſtimmte Begriffe, meiſt nur relativen Gehaltes. Soll jeder wilde Forſt, voll dichten Baumwuchſes, an den der Menſch nicht die zerſtörende Hand gelegt, ein Urwald heißen, ſo iſt die Erſcheinung vielen Theilen der gemäßigten und der kalten Zone eigen. Liegt aber der Charakter in der Undurchdringlichkeit, in der Unmöglichkeit, ſich in langen Strecken zwiſchen Bäumen von 8—12 Fuß Durchmeſſer, durch die Axt einen Weg zu bahnen, ſo gehört der Urwald nur der Tropengegend an. Auch ſind es keineswegs immer die ſtrickförmigen, rankenden, kletternden Schlingflanzen (Lianen), welche, wie man in Europa fabelt, die Undurchdringlichkeit verurſachen; die Lianen bilden oft nur eine ſehr kleine Maſſe des Unterholzes. Das Haupthinderniß ſind die allen Zwiſchenraum füllenden, ſtrauchartigen Gewächſe, in einer Zone, wo Alles was den Boden bedeckt, holzartig wird. Wenn Reiſende, kaum in einer Tropen- Gegend gelandet, und dazu noch auf Inſeln, ſchon in der Nähe der Küſte glauben in Urwälder eingedrungen zu ſein, ſo liegt die Täuſchung wohl nur in der Sehnſucht nach Erfüllung eines lange gehegten Wunſches. Nicht jeder Tropenwald iſt ein Urwald. Ich habe mich des letztern Wortes in meinem Reiſe- Werke faſt nie bedient; und doch glaube ich unter allen jetzt lebenden Naturforſchern mit Bonpland, Martius, Pöppig, Rob. und Rich. Schomburgk im Innerſten eines großen Continentes am längſten in Urwäldern gelebt zu haben........ Durch den Rio Apure gelangten wir von Weſten gegen Oſten ſchiffend, in das Bette des Orinoco. Es war die Zeit des niedrigſten Waſſerſtandes. Der Apure hatte kaum 1200 Fuß mittlere Breite, während ich die des Orinoco bei ſeinem Zuſammenfluß mit dem Apure (unfern dem Granitfelſen Curiquima, wo ich eine Standlinie meſſen konnte) noch über 11430 Fuß fand. Doch iſt dieſer Punkt, der Fels Curiquima, in gerader Linie noch hundert geogr. Meilen vom Meere und von dem Delta des Orinoco entfernt. Ein Theil der Ebenen, die der Apure und der Pagara durchſtrömen, iſt von den Stämmen der Yaruros und Achaguas bewohnt. In dem Grad ihrer ſittlichen Rohheit ſtehen ſie aber ſehr gleich mit denen, die, getauft, „unter der Glocke (baxo la campana)“ leben und doch jedem Unterrichte, jeder Belehrung fremd bleiben. S. oben S. 271. Von der Inſel del Diamante an, auf welcher die ſpaniſch ſprechenden Zambos Zuckerrohr bauen, tritt man in eine große und wilde Natur. Die Luft war von zahlloſen Flamingos (Phoenicopterus) und anderen Waſſervögeln erfüllt, die, wie ein dunkles, in ſeinen Umriſſen ſtets wechſelndes Gewölk, ſich von dem blauen Himmelsgewölbe abhoben. Das Flußbette verengte ſich bis zu 900 Fuß Breite und bildete in vollkommen gerader Richtung einen Canal, der auf beiden Seiten von dichter Waldung umgeben iſt; der Rand des Waldes bietet einen ungewohnten Anblick dar. Vor der faſt undurchdringlichen Wand rieſenartiger Stämme von Caesalpinia, Cedrela und Desmanthus erhebt ſich auf dem ſandigen Flußufer ſelbſt, mit großer Regelmäßigkeit, eine niedrige Hecke von Sauſo. Sie iſt nur 4 Fuß hoch und beſteht aus einem kleinen Strauche, Hermesia castaneifolia, welcher ein neues Geſchlecht aus der Familie der Euphorbiaceen bildet. Einige ſchlanke dornige Palmen, Piritu und Corozo von den Spaniern genannt (vielleicht Martinezia- oder Bactris-Arten), ſtehen der Hecke am nächſten. Das Ganze gleicht einer beſchnittenen Gartenhecke, die nur in großen Entfernungen von einander thorartige Oeffnungen zeigt. Die großen vierfüßigen Thiere des Waldes haben unſtreitig dieſe Oeffnungen ſelbſt gemacht, um bequem an den Strom zu gelangen. Aus ihnen ſieht man vorzüglich am frühen Morgen und bei Sonnenuntergang heraustreten, um ihre Jungen zu tränken: den amerikaniſchen Tiger, den Tapir und das Nabelſchwein (Pecari, Dicotyles). Wenn ſie, durch ein vorüberfahrendes Canot der Indianer beunruhigt, ſich in den Wald zurückziehen wollen, ſo ſuchen ſie nicht die Hecke des Sauſo mit Ungeſtüm zu durchbrechen, ſondern man hat die Freude, die wilden Thiere vier- bis fünfhundert Schritt langſam zwiſchen der Hecke und dem Fluſſe fortſchreiten und in der nächſten Oeffnung verſchwinden zu ſehen. Während wir 74 Tage lang auf einer wenig unterbrochenen Flußſchifffahrt von 380 geogr. Meilen auf dem Orinoco, bis ſeinen Quellen nahe, auf dem Caſſiquire und dem Rio Negro in ein enges Canot eingeſperrt waren, hat ſich uns an vielen Punkten daſſelbe Schauſpiel wiederholt; ich darf hinzuſetzen: immer mit neuem Reize. Es erſcheinen, um zu trinken, ſich zu baden oder zu fiſchen, gruppenweiſe Geſchöpfe der verſchiedenſten Thierclaſſen: mit den großen Mammalien vielfarbige Reiher, Palamedeen und ſtolz einherſchreitende Hokkohühner (Crax Alector, C. Pauxi). „Hier geht es zu wie im Paradieſe, es como en el Paraiso“, ſagte mit frommer Miene unſer Steuermann, ein alter Indianer, der in dem Hauſe eines Geiſtlichen erzogen war. Aber der ſüße Friede goldener Vorzeit herrſcht nicht in dem Paradieſe der amerikaniſchen Thierwelt. Die Geſchöpfe ſondern, beobachten und meiden ſich. Die Capybara, das 3 bis 4 Fuß lange Waſſerſchwein, eine coloſſale Wiederholung des gewöhnlichen braſilianiſchen Meerſchweinchens (Cavia Aguti), wird im Fluſſe vom Crocodil, auf der Trockne vom Tiger gefreſſen. Es läuft dazu ſo ſchlecht, daß wir mehrmals einzelne aus der zahlreichen Heerde haben einholen und erhaſchen können. Unterhalb der Miſſion von Santa Barbara de Arichuna brachten wir die Nacht wie gewöhnlich unter freiem Himmel, auf einer Sandfläche am Ufer des Apure zu. Sie war von dem nahen, undurchdringlichen Walde begrenzt. Wir hatten Mühe, dürres Holz zu finden, um die Feuer anzuzünden, mit denen nach der Landesſitte jedes Bivouac wegen der Angriffe des Jaguars umgeben wird. Die Nacht war von milder Feuchte und mondhell. Mehrere Crocodile näherten ſich dem Ufer. Ich glaube bemerkt zu haben, daß der Anblick des Feuers ſie ebenſo anlockt wie unſre Krebſe und manche andere Waſſerthiere. Die Ruder unſerer Nachen wurden ſorgfältig in den Boden geſenkt, um unſere Hangematten daran zu befeſtigen. Es herrſchte tiefe Ruhe; man hörte nur bisweilen das Schnarchen der Süßwaſſer-Delphine, welche dem Flußnetze des Orinoco wie (nach Colebrooke) dem Ganges bis Benares hin eigenthümlich ſind und in langen Zügen aufeinander folgten. Nach 11 Uhr entſtand ein ſolches Lärmen im nahen Walde, daß man die übrige Nacht hindurch auf jeden Schlaf verzichten mußte. Wildes Thiergeſchrei durchtobte den Forſt. Unter den vielen Stimmen, die gleichzeitig ertönten, konnten die Indianer nur die erkennen, welche nach kurzer Pauſe einzeln gehört wurden. Es waren das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüllaffen), der winſelnde, fein flötende Ton der kleinen Sapajous, das ſchnarrende Murren des geſtreiften Nachtaffen (Nyctipithecus trivirgatus, den ich zuerſt beſchrieben habe), das abgeſetzte Geſchrei des großen Tigers, des Cuguars oder ungemähnten amerikaniſchen Löwen, des Pecari, des Faulthiers, und einer Schaar von Papagaien, Parraquas (Ortaliden) und anderer faſanenartigen Vögel. Wenn die Tiger dem Rande des Waldes nahe kamen, ſuchte unſer Hund, der vorher ununterbrochen bellte, heulend Schutz unter den Hangematten. Bisweilen kam das Geſchrei des Tigers von der Höhe eines Baumes herab. Es war dann ſtets von den klagenden Pfeifentönen der Affen begleitet, die der ungewohnten Nachſtellung zu entgehen ſuchten. Fragt man die Indianer, warum in gewiſſen Nächten ein ſo anhaltendes Lärmen entſteht, ſo antworten ſie lächelnd: „die Thiere freuen ſich der ſchönen Mondhelle, ſie feiern den Vollmond.“ Mir ſchien die Scene ein zufällig entſtandener, lang fortgeſetzter, ſich ſteigernd entwickelnder Thierkampf. Der Jaguar verfolgt die Nabelſchweine und Tapirs, die dicht an einander gedrängt das baumartige Strauchwerk durchbrechen, welches ihre Flucht behindert. Davon erſchreckt, miſchen von dem Gipfel der Bäume herab die Affen ihr Geſchrei in das der größeren Thiere. Sie erwecken die geſellig horſtenden Vogelgeſchlechter, und ſo kommt allmälig die ganze Thierwelt in Aufregung. Eine längere Erfahrung hat uns gelehrt, daß es keinesweges immer „die gefeierte Mondhelle“ iſt, welche die Ruhe der Wälder ſtört. Die Stimmen waren am lauteſten bei heftigem Regenguſſe, oder wenn bei krachendem Donner der Blitz das Innere des Waldes erleuchtet. Der gutmüthige, viele Monate ſchon fieberkranke Franciscaner-Mönch, der uns durch die Cataracten von Atures und Maypures nach San Carlos des Rio Negro, bis an die braſilianiſche Grenze, begleitete, pflegte zu ſagen, wenn bei einbrechender Nacht er ein Gewitter fürchtete: „möge der Himmel, wie uns ſelbſt, ſo auch den wilden Beſtien des Waldes eine ruhige Nacht gewähren!“