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Alexander von Humboldt: „Der Waldsaum am Orinoco“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1849-Das_naechtliche_Leben-18-neu> [abgerufen am 20.04.2024].

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https://humboldt.unibe.ch/text/1849-Das_naechtliche_Leben-18-neu
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Titel Der Waldsaum am Orinoco
Jahr 1851
Ort Leipzig
Nachweis
in: Carl Vogel, Geographische Landschaftsbilder, Leipzig: Hinrichs 1851, S. 352–357.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Antiqua für Fremdsprachiges; Auszeichnung: Sperrung; Fußnoten mit Asterisken.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: VI.118
Dateiname: 1849-Das_naechtliche_Leben-18-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 6
Zeichenanzahl: 9051

Weitere Fassungen
Das nächtliche Leben im Urwald (Stuttgart; Tübingen, 1849, Deutsch)
The Nocturnal Life of Animals in the Primeval Forest (London, 1849, Englisch)
The nocturnal life of animals in the primeval forest (London, 1849, Englisch)
Nocturnal Life of Animals in the Primeval Forest (London, 1849, Englisch)
The forest at midnight (Banbury, 1849, Englisch)
Life of animals in the primeval forest (Belfast, 1849, Englisch)
Das nächtliche Thierleben im Urwalde (Leipzig, 1849, Deutsch)
A Burning Day on the Orinoco (London, 1850, Englisch)
A Burning Day on the Orinoco (Nottingham, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals. – A Night on the Apure (London, 1850, Englisch)
Nocturnal life of animals. – A night on the Apure (London, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals. – A Night on the Apure (Newcastle-upon-Tyne, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals. – A night on the Apure (Devizes, 1850, Englisch)
Nocturnal Life of Animals – A Night on the Apure (Manchester, 1850, Englisch)
Nocturnal life of animals in the primeval forest (Pietermaritzburg, 1850, Englisch)
The Forest at Midnight (Worcester, 1850, Englisch)
Nocturnal life of animals in the primeval forest (London, 1851, Englisch)
Der Waldsaum am Orinoco (Leipzig, 1851, Deutsch)
Das nächtliche Thierleben im Urwalde (Baltimore, Maryland, 1853, Deutsch)
Syd-Amerikas skogar (Borgå, 1854, Schwedisch)
A night on the banks of a south american river (Glasgow, 1856, Englisch)
[Das nächtliche Leben im Urwald] (Philadelphia, Pennsylvania, 1858, Englisch)
Vida nocturna dos animaes nas florestas do Novo Mundo (São Luís, 1859, Portugiesisch)
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Der Waldſaum am Orinoco.

Die unermeßliche Waldgegend, welche in der heißen Zonevon Süd-Amerika die mit einander verbundenen Stromgebietedes Orinoco und des Amazonenflufſes füllt, verdient im ſtrengſtenSinne des Wortes den Namen Urwald, mit dem in neuerenZeiten ſo viel Mißbrauch getrieben wird. Urwald, Urzeit und Urvolk ſind ziemlich unbeſtimmte Begriffe, meiſt nur relativenGehaltes. Soll jeder wilde Forſt, voll dichten Baumwuchſes,an den der Menſch nicht die zerſtörende Hand gelegt, ein Urwaldheißen, ſo iſt die Erſcheinung vielen Theilen der gemäßigten undder kalten Zone eigen. Liegt aber der Charakter in der Undurch-dringlichkeit, in der Unmöglichkeit, ſich in langen Strecken zwiſchen |353| Bäumen von 8—12 Fuß Durchmeſſer, durch die Axt einenWeg zu bahnen, ſo gehört der Urwald nur der Tropengegendan. Auch ſind es keineswegs immer die ſtrickförmigen, ranken-den, kletternden Schlingflanzen (Lianen), welche, wie man inEuropa fabelt, die Undurchdringlichkeit verurſachen; die Lianenbilden oft nur eine ſehr kleine Maſſe des Unterholzes. DasHaupthinderniß ſind die allen Zwiſchenraum füllenden, ſtrauch-artigen Gewächſe, in einer Zone, wo Alles was den Boden be-deckt, holzartig wird. Wenn Reiſende, kaum in einer Tropen-Gegend gelandet, und dazu noch auf Inſeln, ſchon in der Näheder Küſte glauben in Urwälder eingedrungen zu ſein, ſo liegtdie Täuſchung wohl nur in der Sehnſucht nach Erfüllung eineslange gehegten Wunſches. Nicht jeder Tropenwald iſt ein Ur-wald. Ich habe mich des letztern Wortes in meinem Reiſe-Werke faſt nie bedient; und doch glaube ich unter allen jetztlebenden Naturforſchern mit Bonpland, Martius, Pöppig, Rob. und Rich. Schomburgk im Innerſten eines großen Con-tinentes am längſten in Urwäldern gelebt zu haben........ Durch den Rio Apure *) gelangten wir von Weſten gegenOſten ſchiffend, in das Bette des Orinoco. Es war die Zeitdes niedrigſten Waſſerſtandes. Der Apure hatte kaum 1200 Fußmittlere Breite, während ich die des Orinoco bei ſeinem Zu-ſammenfluß mit dem Apure (unfern dem Granitfelſen Curiquima,wo ich eine Standlinie meſſen konnte) noch über 11430 Fußfand. Doch iſt dieſer Punkt, der Fels Curiquima, in geraderLinie noch hundert geogr. Meilen vom Meere und von dem Deltades Orinoco entfernt. Ein Theil der Ebenen, die der Apureund der Pagara durchſtrömen, iſt von den Stämmen der Yarurosund Achaguas bewohnt. In dem Grad ihrer ſittlichen Rohheitſtehen ſie aber ſehr gleich mit denen, die, getauft, „unter derGlocke (baxo la campana)“ leben und doch jedem Unterrichte,jeder Belehrung fremd bleiben.
*) S. oben S. 271.
|354| Von der Inſel del Diamante an, auf welcher die ſpaniſchſprechenden Zambos Zuckerrohr bauen, tritt man in eine großeund wilde Natur. Die Luft war von zahlloſen Flamingos (Phoenicopterus) und anderen Waſſervögeln erfüllt, die, wie eindunkles, in ſeinen Umriſſen ſtets wechſelndes Gewölk, ſich vondem blauen Himmelsgewölbe abhoben. Das Flußbette verengteſich bis zu 900 Fuß Breite und bildete in vollkommen geraderRichtung einen Canal, der auf beiden Seiten von dichter Waldungumgeben iſt; der Rand des Waldes bietet einen ungewohntenAnblick dar. Vor der faſt undurchdringlichen Wand rieſenartigerStämme von Caesalpinia, Cedrela und Desmanthus erhebt ſichauf dem ſandigen Flußufer ſelbſt, mit großer Regelmäßigkeit,eine niedrige Hecke von Sauſo. Sie iſt nur 4 Fuß hoch undbeſteht aus einem kleinen Strauche, Hermesia castaneifolia, wel-cher ein neues Geſchlecht aus der Familie der Euphorbiaceenbildet. Einige ſchlanke dornige Palmen, Piritu und Corozo vonden Spaniern genannt (vielleicht Martinezia- oder Bactris-Arten),ſtehen der Hecke am nächſten. Das Ganze gleicht einer beſchnit-tenen Gartenhecke, die nur in großen Entfernungen von einanderthorartige Oeffnungen zeigt. Die großen vierfüßigen Thiere desWaldes haben unſtreitig dieſe Oeffnungen ſelbſt gemacht, umbequem an den Strom zu gelangen. Aus ihnen ſieht man vor-züglich am frühen Morgen und bei Sonnenuntergang heraus-treten, um ihre Jungen zu tränken: den amerikaniſchen Tiger,den Tapir und das Nabelſchwein (Pecari, Dicotyles). Wennſie, durch ein vorüberfahrendes Canot der Indianer beunruhigt,ſich in den Wald zurückziehen wollen, ſo ſuchen ſie nicht dieHecke des Sauſo mit Ungeſtüm zu durchbrechen, ſondern manhat die Freude, die wilden Thiere vier- bis fünfhundert Schrittlangſam zwiſchen der Hecke und dem Fluſſe fortſchreiten und inder nächſten Oeffnung verſchwinden zu ſehen. Während wir 74Tage lang auf einer wenig unterbrochenen Flußſchifffahrt von380 geogr. Meilen auf dem Orinoco, bis ſeinen Quellen nahe, |355| auf dem Caſſiquire und dem Rio Negro in ein enges Canot ein-geſperrt waren, hat ſich uns an vielen Punkten daſſelbe Schau-ſpiel wiederholt; ich darf hinzuſetzen: immer mit neuem Reize.Es erſcheinen, um zu trinken, ſich zu baden oder zu fiſchen,gruppenweiſe Geſchöpfe der verſchiedenſten Thierclaſſen: mit dengroßen Mammalien vielfarbige Reiher, Palamedeen und ſtolz ein-herſchreitende Hokkohühner (Crax Alector, C. Pauxi). „Hiergeht es zu wie im Paradieſe, es como en el Paraiso“, ſagtemit frommer Miene unſer Steuermann, ein alter Indianer, derin dem Hauſe eines Geiſtlichen erzogen war. Aber der ſüßeFriede goldener Vorzeit herrſcht nicht in dem Paradieſe der ameri-kaniſchen Thierwelt. Die Geſchöpfe ſondern, beobachten undmeiden ſich. Die Capybara, das 3 bis 4 Fuß lange Waſſer-ſchwein, eine coloſſale Wiederholung des gewöhnlichen braſiliani-ſchen Meerſchweinchens (Cavia Aguti), wird im Fluſſe vomCrocodil, auf der Trockne vom Tiger gefreſſen. Es läuft dazuſo ſchlecht, daß wir mehrmals einzelne aus der zahlreichen Heerdehaben einholen und erhaſchen können. Unterhalb der Miſſion von Santa Barbara de Arichunabrachten wir die Nacht wie gewöhnlich unter freiem Himmel,auf einer Sandfläche am Ufer des Apure zu. Sie war von demnahen, undurchdringlichen Walde begrenzt. Wir hatten Mühe,dürres Holz zu finden, um die Feuer anzuzünden, mit denennach der Landesſitte jedes Bivouac wegen der Angriffe des Ja-guars umgeben wird. Die Nacht war von milder Feuchte undmondhell. Mehrere Crocodile näherten ſich dem Ufer. Ich glaubebemerkt zu haben, daß der Anblick des Feuers ſie ebenſo anlockt wieunſre Krebſe und manche andere Waſſerthiere. Die Ruder unſererNachen wurden ſorgfältig in den Boden geſenkt, um unſere Hange-matten daran zu befeſtigen. Es herrſchte tiefe Ruhe; man hörte nurbisweilen das Schnarchen der Süßwaſſer-Delphine, welche demFlußnetze des Orinoco wie (nach Colebrooke) dem Ganges bis Bena-res hin eigenthümlich ſind und in langen Zügen aufeinander folgten. |356| Nach 11 Uhr entſtand ein ſolches Lärmen im nahen Walde,daß man die übrige Nacht hindurch auf jeden Schlaf verzichtenmußte. Wildes Thiergeſchrei durchtobte den Forſt. Unter denvielen Stimmen, die gleichzeitig ertönten, konnten die Indianernur die erkennen, welche nach kurzer Pauſe einzeln gehört wurden.Es waren das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüll-affen), der winſelnde, fein flötende Ton der kleinen Sapajous,das ſchnarrende Murren des geſtreiften Nachtaffen (Nyctipithecustrivirgatus, den ich zuerſt beſchrieben habe), das abgeſetzte Ge-ſchrei des großen Tigers, des Cuguars oder ungemähnten ameri-kaniſchen Löwen, des Pecari, des Faulthiers, und einer Schaarvon Papagaien, Parraquas (Ortaliden) und anderer faſanen-artigen Vögel. Wenn die Tiger dem Rande des Waldes nahekamen, ſuchte unſer Hund, der vorher ununterbrochen bellte,heulend Schutz unter den Hangematten. Bisweilen kam dasGeſchrei des Tigers von der Höhe eines Baumes herab. Eswar dann ſtets von den klagenden Pfeifentönen der Affen be-gleitet, die der ungewohnten Nachſtellung zu entgehen ſuchten. Fragt man die Indianer, warum in gewiſſen Nächten einſo anhaltendes Lärmen entſteht, ſo antworten ſie lächelnd: „dieThiere freuen ſich der ſchönen Mondhelle, ſie feiern den Voll-mond.“ Mir ſchien die Scene ein zufällig entſtandener, langfortgeſetzter, ſich ſteigernd entwickelnder Thierkampf. Der Jaguarverfolgt die Nabelſchweine und Tapirs, die dicht an einandergedrängt das baumartige Strauchwerk durchbrechen, welches ihreFlucht behindert. Davon erſchreckt, miſchen von dem Gipfel derBäume herab die Affen ihr Geſchrei in das der größeren Thiere.Sie erwecken die geſellig horſtenden Vogelgeſchlechter, und ſokommt allmälig die ganze Thierwelt in Aufregung. Eine längereErfahrung hat uns gelehrt, daß es keinesweges immer „die ge-feierte Mondhelle“ iſt, welche die Ruhe der Wälder ſtört. DieStimmen waren am lauteſten bei heftigem Regenguſſe, oderwenn bei krachendem Donner der Blitz das Innere des Waldes |357| erleuchtet. Der gutmüthige, viele Monate ſchon fieberkrankeFranciscaner-Mönch, der uns durch die Cataracten von Aturesund Maypures nach San Carlos des Rio Negro, bis an diebraſilianiſche Grenze, begleitete, pflegte zu ſagen, wenn bei ein-brechender Nacht er ein Gewitter fürchtete: „möge der Himmel,wie uns ſelbſt, ſo auch den wilden Beſtien des Waldes eineruhige Nacht gewähren!“