Das nächtliche Thierleben im Urwalde. Die unermeßliche Waldgegend, welche in der heißen Zone von Süd-Amerika die mit einander verbundenen Stromgebiete des Orinoco und des Amazonen-Flusses füllt, verdient im strengsten Sinne des Wortes den Namen Urwald, mit dem in neuern Zeiten so viel Mißbrauch getrieben wird. Urwald, Urzeit und Urvolk sind ziemlich unbestimmte Begriffe, meist nur relativen Gehalts. Soll jeder wilde Forst, voll dichten Baumwuchses , an den der Mensch nicht die zerstörende Hand gelegt, ein Urwald heißen, so ist die Erscheinung vielen Theilen der gemäßigten und kalten Zone eigen. Liegt aber der Charakter in der Undurchdringlichkeit, in der Unmöglichkeit, sich in langen Strecken zwischen Bäumen von 8 -- 12 Fuß Durchmesser, durch die Axt einen Weg zu bahnen, so gehört der Urwald ausschließlich der Tropengegend an. Auch sind es keineswegs immer die strickförmigen, rankenden, kletternden Schlingpflanzen (Lianen), welche, wie man in Europa fabelt, die Undurchdringlichkeit verursachen. Die Lianen bilden oft nur eine sehr kleine Masse des Unterholzes. Das Haupthinderniß sind die allen Zwischenraum füllenden strauchartigen Gewächse, in einer Zone, wo Alles, was den Boden bedeckt, holzartig wird. Wenn Reisende, kaum in einer Tropen-Gegend gelandet, und dazu noch auf Inseln schon in der Nähe der Küste glauben in Urwälder eingedrungen zu sein, so liegt die Täuschung wohl nur in der Sehnsucht nach Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Nicht jeder Tropen-Wald ist ein Urwald. Herr von Humboldt hat sich des letzteren Wortes in seinem Reisewerke fast nie bedient, obgleich er, nebst Bonpland, Martius, Pöppig, Robert und Richard Schomburg, unter allen jetzt lebenden Naturforschern im Innern eines großen Kontinents wohl am längsten in Urwäldern gelebt hat. Wenn man die Waldgegend, welche ganz Süd-Amerika zwischen den Gras-Steppen von Venezuela (los Llanos de Caracas) und den Pampas von Buenos-Ayres, zwischen 8 Gr. nördl. und 19 Gr. südl. Breite einnimmt, mit einem Blicke umfaßt, so erkennt man, daß dieser zusammenhangenden Hylaea der Tropen-Zone keine andere auf dem Erdboden gleichkommt. Sie hat ungefähr zwölfmal den Flächen-Inhalt von Deutschland. Nach allen Richtungen von Strömen durchschnitten, deren Bei- und Zuflüsse erster und zweiter Ordnung unseren Rhein und unsere Donau an Wasser-Reichthum bisweilen übertreffen, verdankt sie die wundersame Ueppigkeit ihres Baumwuchses der zwiefach wohlthätigen Einwirkung großer Feuchtigkeit und Wärme. In der gemäßigten Zone, besonders in Europa und Asien, kann man die Wälder nach Baumgruppen benennen, die als gesellige Pflanzen zusammen wachsen und die einzelne Wälder bilden. In den nördlichen Eichen,- Tannen- und Birken-, in den östl. Linden-Waldungen herrscht gewöhnlich nur eine Spezies der Amentaceen, der Coniferen oder der Tiliaceen; bisweilen ist eine Art der Nadelhölzer mit Laubholz gemengt. Eine solche Einförmigkeit in der Zusammengesellung ist den Tropen-Waldungen fremd. Die übergroße Mannichfaltigkeit der blüthenreichen Wald-Flora verbietet die Frage, woraus die Urwälder bestehen? Eine Unzahl von Familien drängt sich hier zusammen; selbst in kleinen Räumen gesellt sich kaum Gleiches zu Gleichem. Mit jedem Wechsel des Aufenhaltes bieten sich dem Reisenden neue Gestaltungen dar; oft Blüthen, die er nicht erreichen kann, wenn schon Blattform und Verzweigung seine Aufmerksamkeit anziehen. Die Flüsse mit ihren zahllosen Seiten- Armen sind die einzigen Wege des Landes. Zwischen dem Orinoco, dem Cassiquiare und dem Rio Negro brauchen die Mönche von zwei nur wenige Meilen von einander entfernten Missions-Dörfern anderthalb Tage, um in den aus einem Baumstamme gezimmerten Kanoe den Windungen kleiner Bäche folgend sich gegenseitig zu besuchen. Den auffallendsten Beweis von der Undurchdringlichkeit einzelner Theile des Waldes giebt aber ein Zug aus der Lebensweise des großen amerikanischen Tigers oder pantherartigen Jaguars. Während durch Einführung des europäischen Rindviehs, der Pferde und Maulesel die reißenden Thiere in den Llanos und Pampas, in den weiten baumlosen Grasfluren von Varinas, dem Meta und Buenos-Ayres reichliche Nahrung finden und sich seit der Entdeckung von Amerika dort, im ungleichen Kampfe mit den Vieh-Heerden ansehnlich vermehrt haben, führen andere Individuen derselben Gattung in dem Dickicht der Wälder, den Quellen des Orinoco nahe, ein mühevolles Leben. Die Indianer erzählten, daß der schwarze Jaguar, die größte und blutgierigste Abart, sich aus Wanderungslust und Raubgier in so undurchdringliche Waldungen verirrte, daß er auf dem Boden nicht jagen kann und, ein Schreckniß der Affen-Familien und der Viverren mit dem Rollschwanze, lange auf den Bäumen lebt. Von der Insel Del Diamante an tritt man in eine große und wilde Natur. Die Luft ist von zahllosen Flamingos und anderen Wasservögeln erfüllt, die wie ein dunkles, in seinen Umrissen stets wechselndes Gewölk sich von dem blauen Himmelsgewölbe abheben. Das Flußbett verengt sich bis zu 900 Fuß Breite und bildet in vollkommen gerader Richtung einen Kanal, der auf beiden Seiten von dichter Waldung umgeben ist. Der Rand des Waldes bietet einen ungewohnten Anblick dar. Vor der fast undurchdringlichen Wand riesenartigen Stämme von Cäsalpinia, Cedrela und Desmanthus erhebt sich auf dem sandigen Flußufer selbst mit großer Regelmäßigkeit eine niedrige nur 4 Fuß hohe Hecke, die aus einem kleinen Strauche, Hermesia castaneifolia, besteht. Einige schlanke, dornige Palmen stehen der Hecke am nächsten. Das Ganze gleicht einer beschnittenen Gartenhecke, die nur in großer Entfernung von einander thorartige Oeffnungen zeigt. Die großen vierfüßigen Thiere des Waldes haben unstreitig diese Oeffnungen selbst gemacht, um bequem an den Strom zu gelangen. Aus ihnen sieht man, vorzüglich am frühen Morgen, den armerikanischen Tiger, den Tapir und das Nabelschwein heraustreten, um ihre Jungen zu tränken. Wenn sie, durch ein vorüberfahrendes Kanoe der Indianer beunruhigt, sich in den Wald zurückziehen wollen, so suchen sie nicht die Hecke mit Ungestüm zu durchbrechen, sondern man hat die Freude, die wilden Thiere vier bis fünfhundert Schritte langsam zwischen der Hecke und dem Flusse fortschreiten und in der nächsten Oeffnung verschwinden zu sehen. Es erscheinen, um zu trinken, sich zu baden, zu fischen, gruppenweise Geschöpfe der verschiedensten Thierklassen; mit den großen Mammalien vielfarbige Reiher, Palamedeen und die stolz einherschreitenden Hokko-Hühner. "Hier geht es zu wie im Paradiese," sagte mit frommer Miene Herrn von Humboldt's Steuermann, ein alter Indianer. Aber der süße Frieden goldener Urzeit herscht nicht in dem Paradiese der amerikanischen Thierwelt. Die Geschöpfe sondern, beobachten und meiden sich. Die Capybara, das 3--4 Fuß lange Wasserschwein, wird im Flusse vom Krokodil, auf dem Trockenen vom Tiger gefressen. Es läuft dazu so schlecht, daß Herr von Humboldt mehrmals einzelne aus der zahlreichen Heerde einholen und erhaschen konnte. Unterhalb der Mission von Santa Barbara de Arichuna brachte Herr von Humboldt die Nacht wie gewöhnlich unter freiem Himmel auf einer Sandfläche am Ufer des Apure zu. Sie war von dem nahen, undurchdringlichen Walde begränzt. Die Reisenden hatten Mühe, dürres Holz zu finden um die Feuer anzuzünden, mit denen nach der Landessitte jedes Bivouak wegen der Angriffe des Jaguars umgeben wird. Die Nacht war von milder Feuchte und mondhell. Mehrere Krokodile, von dem Feuer angelockt, näherten sich dem Ufer. Die Ruder wurden sorgfältig in den Boden gesteckt, um die Hangematten daran zu befestigen. Es herrschte tiefe Ruhe; man hörte nur bisweilen das Schnarchen der Flußwasser-Delphine. Aber nach elf Uhr entstand ein solcher Lärmen im Walde, daß man die übrige Nacht auf jeden Schlaf verzichten mußte. Wildes Thiergeschrei durchtobte den Forst. Unter den vielen Stimmen, die gleichzeitig ertönten, konnten die Indianer nur die erkennen, welche nach kurzer Pause einzeln gehört wurden. Es waren das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüll- Affen), der winselnde, feinflötende Ton der kleinen Sapajous, das schnarrende Murren des gestreiften Nacht-Affen, das abgesetzte Geschrei des großen Tigers, das Caguars oder ungemähnten amerikanischen Löwen, des Pecari, des Faulthiers und einer Schaar von Papageien, Parraguas und anderer fasanenartiger Vögel. Wenn die Tiger dem Rande des Waldes nahe kamen, suchte der Hund des Herrn von Humboldt, der vorher ununterbrochen bellte, heulend unter den Hangematten Schutz. Bisweilen kam das Geschrei des Tigers von der Höhe eines Baumes herab. Es war dann stets von den klagenden Pfeifentönen der Affen begleitet, die der ungewohnten Nachstellung zu entgehen suchten. Fragt man die Indianer, warum in gewissen Nächten ein so anhaltender Lärmen entsteht, so antworten sie lächelnd: "Die Thiere freuen sich der schönen Mondhelle; sie feiern den Vollmond." Herrn von Humboldt schien die Scene ein zufällig entstandener, lang fortgesetzter, sich steigernd entwickelnder Thierkampf. Der Jaguar verfolgt die Nabelschweine und Tapirs, die dicht an einander gedrängt das baumartige Strauchwerk durchbrechen, welches ihre Flucht behindert. Davon erschreckt, mischen von den Gipfeln der Bäume herab die Affen ihr Geschrei in das der größern Thiere. Sie erwecken die gesellig horstenden Vogel-Geschlechter und so kommt allmählich die ganze Thierwelt in Aufregung. Eine längere Erfahrung hat gelehrt, daß es keinesweges immer "die gefeierte Mondhelle" ist, welche die Ruhe der Wälder stört. Die Stimmen waren am lautesten bei heftigem Regengusse, oder wenn bei krachendem Donner der Blitz das Innere des Waldes erleuchtete. Mit den hier geschilderten Natur-Scenen kontrastirt wundersam die Stille, welche unter den Tropen an einem ungewöhnlich heißen Tage in der Mittagsstunde herrscht. Herr von Humboldt theilt hier aus seinem Tagebuche eine Erinnerung an die Flußenge des Baraguan mit, wo der Orinoco sich einen Weg durch den westlichen Theil des Gebirges Parime bahnt. Außer einem alten dürren Stamme der Aubletia und einer neuen Apocinee, waren an dem nackten Felsen kaum einige silberglänzende Croton-Sträucher zu finden. Ein Thermometer, im Schatten beobachtet, aber bis auf einige Zolle der Granitmasse thurmartiger Felsen genähert, stieg auf mehr als 40 Gr. R. Alle ferne Gegenstände hatten wellenförmig wogende Umrisse, eine Folge der Spiegelung oder optischen Kimmung. Kein Lüftchen bewegte den staubartigen Sand des Bodens. Die Sonne stand im Zenith und die Lichtmasse, die sie auf den Strom ergoß und von diesem, wegen einer schwachen Wellenbewegung funkelnd, zurückstrahlte, machte die nebelartige Röthe, welche die Ferne umhüllte, noch bemerkbarer. Alle Felsblöcke und nackten Steingerölle waren mit einer Unzahl von großen dickschuppigen Iguanen, Gecko-Eidechsen und buntgefleckten Salamandern bedeckt. Unbeweglich, den Kopf erhebend, den Mund weit geöffnet, schienen sie mit Wonne die heiße Luft einzuathmen. Die größeren Thiere verbergen sich dann in das Dickicht der Wälder, die Vögel unter das Laub der Bäume oder in die Klüfte der Felsen; aber lauscht man bei dieser scheinbaren Stille der Natur auf die schwächsten Töne, so vernimmt man ein dumpfes Geräusch, ein Schwirren und Summen der Insekten, dem Boden nahe und in den unteren Schichten des Luftkreises. Alles verkündigt eine Welt thätiger, organischer Kräfte. In jedem Strauche, in der gespaltenen Rinde des Baumes, in der von Hymenoptern bewohnten, aufgelockerten Erde regt sich hörbar das Leben. Es ist wie eine der vielen Stimmen der Natur, vernehmbar dem frommen, empfänglichen Gemüthe des Menschen. -- (Bruchstück aus einem der kürzlich erschienenen dritten Ausgabe der Ansichten der Natur (v. Alex. v. Humboldt) beigefügten Aufsatze.)