Das nächtliche Leben im Urwald. Aus der dritten Auflage von Alexander v. Humboldts Anſichten der Natur. Stuttgart und Tübingen. J. G. Cotta’ſcher Verlag. 1849. Es iſt vielleicht noch nicht vorgekommen, daß es einem Schriftſteller vergönnt war, eines ſeiner Werke faſt nach einem halben Jahrhundert wieder vorzunehmen und zu verjüngen. Zu einem ſolchen literariſchen Phänomen gehörte das ſeltene Maß geiſtiger und körperlicher Kräfte, wie ſie ſich in Alexander von Humboldt auf’s glücklichſte vereinigen. — Von ſeiner großen Entdeckungsreiſe in die tropiſchen Striche der neuen Welt zurückgekehrt, gab Humboldt, neben den umfangreichen Werken, welche die Früchte jener Reiſe mittheilten, zwei kleine Bände heraus, welche er Anſichten der Natur betitelte. Sein Zweck war dabei, durch lebendige Darſtellungen den Naturgenuß zu erhöhen, zugleich aber die Einſicht in das harmoniſche Zuſammenwirken der Naturkräfte zu verbreiten, der Kräfte, für deren Erkenntniß er ſo eben durch ſeine großartigen Beobachtungen in der neuen Welt ganz neue Bahnen gebrochen hatte. Sehr ſchwer war die Aufgabe, einen literariſchen und einen rein wiſſenſchaftlichen Zweck zu verbinden, „gleichzeitig,“ wie er ſelbſt ſagt, „die Phantaſie zu beſchäftigen und durch Vermehrung des Wiſſens das Leben mit Ideen zu bereichern.“ Humboldt löste ſie auf’s glücklichſte. Das Buch iſt ſeiner Zeit ſehr viel geleſen worden und hat durch Verbreitung großer Gedanken und reiner Begriffe im großen Publikum wie in den gelehrten Kreiſen Bedeutendes gewirkt. Im Jahr 1826 erſchien eine zweite, nicht bedeutend vermehrte Ausgabe der Schrift. Seitdem hat nun die geſammte Naturwiſſenſchaft die außerordentlichſten Fortſchritte gemacht, Humboldt ſelbſt ſieht jezt gegen damals ſeinen Geſichtskreis ausnehmend erweitert, und ſo bot ſich dem raſtlos Thätigen von ſelbſt der Gedanke an, jene Schrift, welche vor mehr als einem Menſchenalter deutſche Bildung fördern helfen, für ein neues Geſchlecht nach den jetzigen Standpunkten der Wiſſenſchaft und den Bedürfniſſen der Zeit umzuarbeiten. Er entſchloß ſich dazu, nachdem er eben mit der größern Hälfte ſeines Kosmos eine rieſenhafte Arbeit zu Stande gebracht, und dieſe dritte Ausgabe der Anſichten der Natur erſchien an dem Tage des Septembers, an dem der große Naturforſcher ſein achtzigſtes Lebensjahr zurückgelegt. Er ſagt im Vorwort zu der vorliegenden Ausgabe: „Faſt alle wiſſenſchaftlichen Erläuterungen ſind ergänzt oder durch neue, inhaltreichere erſezt worden. Ich habe gehofft, den Trieb zum Studium der Natur dadurch zu beleben, daß in dem kleinſten Raume die mannigfaltigſten Reſultate gründlicher Beobachtung zuſammengedrängt, die Wichtigkeit genauer numeriſcher Angaben und ihrer ſinnigen Vergleichung unter einander erkannt, und dem dogmatiſchen Halbwiſſen wie der vornehmen Zweifelſucht geſteuert werde, welche in den ſogenannten höhern Kreiſen des Lebens einen langen Beſitz haben.“ Der Einfluß der Schrift wird heute noch viel bedeutender ſeyn als vor zwanzig und vor vierzig Jahren: ſie findet ein weit größeres Feld der Wirkſamkeit; naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungen und Kenntniſſe ſind im Publikum ungleich verbreiteter als damals, aber eben damit haben auch jene zwei von Humboldt angedeuteten Kopfübel der gebildeten Welt die anſehnlichſte Ausbreitung gewonnen. Die Arznei, welche der große Arzt bietet, iſt vortrefflich; möchte ſie gut anſchlagen! — Wo dieß aber der Fall iſt, kann leicht eine ſehr erſprießliche Nebenwirkung eintreten. Wie geſagt, iſt ein Hauptzweck von Humboldts meiſterhaften Schilderungen und Erläuterungen, uns das Spiel der Naturkräfte in ihrer ewigen Harmonie zu vergegenwärtigen, uns zu zeigen, wie bei allen Verwicklungen und Entwicklungen im Naturleben, wie ſelbſt in der Störung die ſtrenge Geſetzlichkeit herrſcht, die das allgemeine Gleichgewicht erhält. Dieß Alles mahnt aber den Unterrichteten von ſelbſt an die Geſetze, nach denen ſich die Weltgeſchichte fortleitet, und das Buch bietet ihm die mannigfachſte Gelegenheit zu fruchtbaren Vergleichungen zwiſchen den Naturerſcheinungen und den Bewegungen des Völkerlebens. So können Humboldts „Anſichten,“ indem ſie Naturkenntniſſe verbreiten, zugleich dazu beitragen, in wohl organiſirten Köpfen politiſche Begriffe und Leidenſchaften zu reinigen. Es iſt uns geſtattet, einige neue Abſchnitte des bedeutenden Werks unſern Leſern vorzulegen. Wir wählen ſolche, welche für ſich daſtehen, oder ſich ohne Zwang lostrennen laſſen. Wenn die ſtammweiſe ſo verſchiedene Lebendigkeit des Naturgefühls, wenn die Beſchaffenheit der Länder, welche die Völker gegenwärtig bewohnen oder auf früheren Wanderungen durchzogen haben, die Sprachen mehr oder minder mit ſcharf bezeichnenden Wörtern für Berggeſtaltung, Zuſtand der Vegetation, Anblick des Luftkreiſes, Umriß und Gruppirung der Wolken bereichern, ſo werden durch langen Gebrauch und durch literariſche Willkür viele dieſer Bezeichnungen von ihrem urſprünglichen Sinne abgewendet. Für gleichbedeutend wird allmählig gehalten, was getrennt bleiben ſollte; und die Sprachen verlieren von der Anmuth und Kraft, mit der ſie, naturbeſchreibend, den phyſiognomiſchen Charakter der Landſchaft darzuſtellen vermögen. Um den linguiſtiſchen Reichthum zu beweiſen, welchen ein inniger Contact mit der Natur und die Bedürfniſſe des mühevollen Nomadenlebens haben hervorrufen können, erinnere ich an die Unzahl von charakteriſtiſchen Benennungen, durch die im Arabiſchen und Perſiſchen Ebenen, Steppen und Wüſten unterſchieden werden: je nachdem ſie ganz nackt, oder mit Sand bedeckt, oder durch Felsplatten unterbrochen ſind, einzelne Weideplätze umſchließen oder lange Züge geſelliger Pflanzen darbieten. Faſt eben ſo auffallend ſind in alt-caſtilianiſchen Idiomen die vielen Ausdrücke für die Phyſiognomik der Gebirgsmaſſen, für diejenigen ihrer Geſtaltungen, welche unter allen Himmelsſtrichen wiederkehren und ſchon in weiter Ferne die Natur des Geſteins offenbaren. Da Stämme ſpaniſcher Abkunft den Abhang der Andeskette, den gebirgigen Theil der canariſchen Inſeln, der Antillen und Philippinen bewohnen, und die Bodengeſtaltung dort in einem größern Maßſtabe als irgendwo auf der Erde (den Himalaya und das tübetaniſche Hochland etwa abgerechnet) die Lebensart der Bewohner bedingt, ſo hat die Formbezeichnung der Berge in der Trachyt-, Baſalt- und Porphyrregion, wie im Schiefer-, Kalk- und Sandſteingebirge in täglichem Gebrauche ſich glücklich erhalten. In den gemeinſamen Schatz der Sprache geht dann auch das Neugeformte über. Der Menſchen Rede wird durch alles belebt, was auf Naturwahrheit hindeutet, ſey es in der Schilderung der von der Außenwelt empfangenen ſinnlichen Eindrücke, oder des tief bewegten Gedanken und innerer Gefühle. Das unabläſſige Streben nach dieſer Wahrheit iſt im Auffaſſen der Erſcheinungen wie in der Wahl des bezeichnenden Ausdrucks der Zweck aller Naturbeſchreibung. Es wird derſelbe am leichteſten erreicht durch Einfachheit der Erzählung von dem Selbſtbeobachteten, dem Selbſterlebten, durch die beſchränkende Individualiſirung der Lage, an welche ſich die Erzählung knüpft. Verallgemeinerung phyſiſcher Anſichten, Aufzählung der Reſultate gehört in die Lehre vom Kosmos, die freilich noch immer für uns eine inductive Wiſſenſchaft iſt; aber die lebendige Schilderung der Organismen (der Thiere und der Pflanzen) in ihrem landſchaftlichen, örtlichen Verhältniß zur vielgeſtalteten Erdoberfläche (als ein kleines Stück des geſammten Erdenlebens) bietet das Material zu jener Lehre dar. Sie wirkt anregend auf das Gemüth da, wo ſie einer äſthetiſchen Behandlung großer Naturerſcheinungen fähig iſt. Zu dieſen lezteren gehört vorzugsweiſe die unermeßliche Waldgegend, welche in der heißen Zone von Südamerika die mit einander verbundenen Stromgebiete des Orinoco und des Amazonenfluſſes füllt. Es verdient dieſe Gegend im ſtrengſten Sinne des Worts den Namen Urwald, mit dem in neuern Zeiten ſo viel Mißbrauch getrieben wird. Urwald, Urzeit und Urvolk ſind ziemlich unbeſtimmte Begriffe, meiſt nur relativen Gehalts. Soll jede wilde Forſt voll dichten Baumwuchſes, an den der Menſch nicht die zerſtörende Hand gelegt, ein Urwald heißen, ſo iſt die Erſcheinung vielen Theilen der gemäßigten und kalten Zone eigen. Liegt aber der Charakter in der Undurchdringlichkeit, in der Unmöglichkeit, ſich in langen Strecken zwiſchen Bäumen von acht bis zwölf Fuß Durchmeſſer durch die Axt einen Weg zu bahnen, ſo gehört der Urwald ausſchließlich der Tropengegend an. Auch ſind es keineswegs immer die ſtrickförmigen, rankenden, kletternden Schlingpflanzen (Lianen), welche, wie man in Europa fabelt, die Undurchdringlichkeit verurſachen. Die Lianen bilden oft nur eine ſehr kleine Maſſe des Unterholzes. Das Haupthinderniß ſind die, allen Zwiſchenraum füllenden, ſtrauchartigen Gewächſe, in einer Zone, wo alles, was den Boden bedeckt, holzartig wird. Wenn Reiſende, kaum in einer Tropengegend gelandet, und dazu noch auf Inſeln, ſchon in der Nähe der Küſte glauben in Urwälder eingedrungen zu ſeyn, ſo liegt die Täuſchung wohl nur in der Sehnſucht nach Erfüllung eines lange gehegten Wunſches. Nicht jeder Tropenwald iſt ein Urwald. Ich habe mich des leztern Wortes in meinem Reiſewerke faſt nie bedient, und doch glaube ich unter allen jezt lebenden Naturforſchern mit Bonpland, Martius, Pöppig, Robert und Richard Schomburgk im Innerſten eines großen Continents am längſten in Urwäldern gelebt zu haben. (Fortſetzung folgt.) Das nächtliche Leben im Urwald. (Fortſetzung.) Trotz des auffallenden Reichthums der ſpaniſchen Sprache an naturbeſchreibenden Bezeichnungen, deſſen ich oben erwähnte, wird ein und daſſelbe Wort, monte, zugleich für Berg und Wald, für cerro (montaña) und selva gebraucht. In einer Arbeit über die wahre Breite und die größte Ausdehnung der Andeskette gegen Oſten habe ich gezeigt, wie jene zweifache Bedeutung des Wortes monte die Veranlaſſung geweſen iſt, daß eine ſchöne und weit verbreitete engliſche Karte von Südamerika Ebenen mit hohen Bergreihen bedeckt hat. Wo die ſpaniſche Karte von La Cruz Olmedilla, die ſo vielen andern zum Grunde gelegt worden iſt, Cacao-Wald, montes de Cacao, angegeben hatte, ſind Cordilleren entſtanden, obgleich der Cacaobaum nur die heißeſte Niederung ſucht. Wenn man die Waldgegend, welche ganz Südamerika zwiſchen den Grasſteppen von Venezuela (los Llanos de Caracas) und den Pampas von Buenos Aires, zwiſchen 8° nördlicher und 19° ſüdlicher Breite einnimmt, mit einem Blicke umfaßt, ſo erkennt man, daß dieſer zuſammenhangenden Hylaea der Tropenzone keine andere an Ausdehnung auf dem Erdboden gleichkommt. Sie hat ohngefähr zwölfmal den Flächeninhalt von Deutſchland. Nach allen Richtungen von Strömen durchſchnitten, deren Bei- und Zuflüſſe erſter und zweiter Ordnung unſere Donau und unſern Rhein an Waſſerreichthum bisweilen übertreffen, verdankt ſie die wunderſame Ueppigkeit ihres Baumwuchſes der zweifach wohlthätigen Einwirkung großer Feuchtigkeit und Wärme. In der gemäßigten Zone, beſonders in Europa und dem nördlichen Aſien, kann man die Wälder nach Baumgattungen benennen, die als geſellige Pflanzen (plantae sociales) zuſammen wachſen und die einzelnen Wälder bilden. In den nördlichen Eichen-, Tannen- und Birken-, in den öſtlichen Lindenwaldungen herrſcht gewöhnlich nur Eine Species der Amentaceen, der Coniferen oder der Tiliaceen; bisweilen iſt eine Art der Nadelhölzer mit Laubholz gemengt. Eine ſolche Einförmigkeit in der Zuſammengeſellung iſt den Tropenwaldungen fremd. Die übergroße Mannigfaltigkeit der blüthenreichen Waldflora verbietet die Frage, woraus die Urwälder beſtehen? Eine Unzahl von Familien drängt ſich hier zuſammen; ſelbſt in kleinen Räumen geſellt ſich kaum gleiches zu gleichem. Mit jedem Tage, bei jedem Wechſel des Aufenthalts bieten ſich dem Reiſenden neue Geſtaltungen dar; oft Blüthen, die er nicht erreichen kann, wenn ſchon Blattform und Verzweigung ſeine Aufmerkſamkeit anziehen. Die Flüſſe mit ihren zahlloſen Seitenarmen ſind die einzigen Wege des Landes. Aſtronomiſche Beobachtungen oder, wo dieſe fehlen, Compaßbeſtimmungen der Flußkrümmung haben zwiſchen dem Orinoco, dem Caſſiquiare und dem Rio Negro mehrfach gezeigt, wie in der Nähe einiger weniger Meilen zwei einſame Miſſionsdörfer liegen, deren Mönche anderthalb Tage brauchen, um in den aus einem Baumſtamm gezimmerten Canoen, den Windungen kleiner Bäche folgend, ſich gegenſeitig zu beſuchen. Den auffallendſten Beweis von der Undurchdringlichkeit einzelner Theile des Waldes gibt aber ein Zug der Lebensweiſe des großen amerikaniſchen Tigers oder pantherartigen Jaguars. Während durch Einführung des europäiſchen Rindviehes, der Pferde und Mauleſel die reißenden Thiere in den Llanos und Pampas, in den weiten baumloſen Grasfluren von Varinas, dem Meta und Buenos Aires, reichliche Nahrung finden und ſich ſeit der Entdeckung von Amerika dort, im ungleichen Kampfe mit den Viehheerden, anſehnlich vermehrt haben, führen andere Individuen derſelben Gattung in dem Dickicht der Wälder, den Quellen des Orinoco nahe, ein mühevolles Leben. Der ſchmerzhafte Verluſt eines großen Hundes vom Doggengeſchlecht (unſeres treueſten und freundlichſten Reiſegefährten), in einem Bivouak nahe bei der Einmündung des Caſſiquiare in den Orinoco, hatte uns bewogen, ungewiß, ob er vom Tiger zerriſſen ſey, aus dem Inſektenſchwarm der Miſſion Esmeralda zurückkehrend, abermals eine Nacht an demſelben Orte zuzubringen, wo wir den Hund ſo lange vergebens geſucht. Wir hörten wieder in großer Nähe das Geſchrei der Jaguars, wahrſcheinlich derſelben, denen wir die Unthat zuſchreiben konnten. Da der bewölkte Himmel alle Sternbeobachtungen hinderte, ſo ließen wir uns durch den Dolmetſcher (linguäraz) wiederholen, was die Eingebornen, unſere Ruderer, von den Tigern der Gegend erzählten. Es findet ſich unter dieſen nicht ſelten der ſogenannte ſchwarze Jaguar, die größte und blutgierigſte Abart, mit ſchwarzen, kaum ſichtbaren Flecken auf tief dunkelbraunem Felle. Sie lebt am Fuß der Gebirge Maraguaca und Unturan. „Die Jaguars,“ erzählte ein Indianer aus dem Stamm der Durimunder, „verirren ſich aus Wanderungsluſt und Raubgier in ſo undurchdringliche Theile der Waldung, daß ſie auf dem Boden nicht jagen können und, ein Schreckniß der Affenfamilien und der Viverre mit dem Rollſchwanze (Cercoleptes), lange auf den Bäumen leben.“ (Fortſetzung folgt.) Das nächtliche Leben im Urwald. (Fortſetzung.) Die deutſchen Tagebücher, welchen ich dieß entnehme, ſind in der franzöſiſch von mir publicirten Reiſebeſchreibung nicht ganz erſchöpft worden. Sie enthalten eine umſtändliche Schilderung des nächtlichen Thierlebens, ich könnte ſagen der nächtlichen Thierſtimmen, im Walde der Tropenländer. Ich halte dieſe Schilderung für vorzugsweiſe geeignet, einem Buche anzugehören, das den Titel: Anſichten der Natur führt. Was in Gegenwart der Erſcheinung, oder bald nach den empfangenen Eindrücken niedergeſchrieben iſt, kann wenigſtens auf mehr Lebensfriſche Anſpruch machen als der Nachklang ſpäter Erinnerung. Durch den Rio Apure, deſſen Ueberſchwemmungen ich in dem Aufſatz über die Wüſten und Steppen gedacht, gelangten wir, von Weſten gegen Oſten ſchiffend, in das Bette des Orinoco. Es war die Zeit des niedrigen Waſſerſtandes. Der Apure hatte kaum 1200 Fuß mittlerer Breite, während ich die des Orinoco bei ſeinem Zuſammenfluß mit dem Apure (unfern dem Granitfelſen Curiquima, wo ich eine Standlinie meſſen konnte) noch über 11,430 Fuß fand. Doch iſt dieſer Punkt, der Fels Curiquima, in gerader Linie noch hundert geographiſche Meilen vom Meere und von dem Delta des Orinoco entfernt. Ein Theil der Ebene, die der Apure und der Payara durchſtrömen, iſt von Stämmen der Yaruros und Achaguas bewohnt. In den Miſſionsdörfern der Mönche werden ſie Wilde genannt, weil ſie unabhängig leben wollen. In dem Grad ihrer ſittlichen Rohheit ſtehen ſie aber ſehr gleich mit denen, die getauft, „unter der Glocke (baxo la campana)“ leben und doch jedem Unterrichte, jeder Belehrung fremd bleiben. Von der Inſel del Diamante an, auf welcher die ſpaniſch ſprechenden Zambos Zuckerrohr bauen, tritt man in eine große und wilde Natur. Die Luft war von zahlloſen Flamingos (Phoenicopterus) und andern Waſſervögeln erfüllt, die wie ein dunkles, in ſeinen Umriſſen ſtets wechſelndes Gewölk ſich von dem blauen Himmelsgewölbe abhoben. Das Flußbette verengte ſich bis zu 900 Fuß Breite und bildete in vollkommen gerader Richtung einen Kanal, der auf beiden Seiten von dichter Waldung umgeben iſt. Der Rand des Waldes bietet einen ungewohnten Anblick dar. Vor der faſt undurchdringlichen Wand rieſenartiger Stämme von Caesalpinia, Cedrela und Desmanthus erhebt ſich auf dem ſandigen Flußufer ſelbſt mit großer Regelmäßigkeit eine niedrige Hecke von Sauso. Sie iſt nur vier Fuß hoch und beſteht aus einem kleinen Strauche, Hermesia castaneifolia, welcher ein neues Geſchlecht aus der Familie der Euphorbiaceen bildet. Einige ſchlanke dornige Palmen, Piritu und Corozo von den Spaniern genannt (vielleicht Martinezia- oder Bactrisarten), ſtehen der Hecke am nächſten. Das Ganze gleicht einer beſchnittenen Gartenhecke, die nur in großen Entfernungen von einander thorartige Oeffnungen zeigt. Die großen vierfüßigen Thiere des Waldes haben unſtreitig dieſe Oeffnungen ſelbſt gemacht, um bequem an den Strom zu gelangen. Aus ihnen ſieht man, vorzüglich am frühen Morgen und bei Sonnenuntergang, heraustreten, um ihre Jungen zu tränken, den amerikaniſchen Tiger, den Tapir und das Nabelſchwein (Pecari, Dicotyles). Wenn ſie, durch ein vorüberfahrendes Canot der Indianer beunruhigt, ſich in den Wald zurückziehen wollen, ſo ſuchen ſie nicht die Hecke des Sauso mit Ungeſtüm zu durchbrechen, ſondern man hat die Freude, die wilden Thiere vier- bis fünfhundert Schritte langſam zwiſchen der Hecke und dem Fluß fortſchreiten und in der nächſten Oeffnung verſchwinden zu ſehen. Während wir 74 Tage lang auf einer wenig unterbrochenen Flußſchifffahrt von 380 geographiſchen Meilen auf dem Orinoco, bis ſeinen Quellen nahe, auf dem Caſſiquiare und dem Rio Negro in ein enges Canot eingeſperrt waren, hat ſich uns an vielen Punkten daſſelbe Schauſpiel wiederholt; ich darf hinzuſetzen, immer mit neuem Reize. Es erſcheinen, um zu trinken, ſich zu baden oder zu fiſchen, gruppenweiſe Geſchöpfe der verſchiedenſten Thierklaſſen: mit den großen Mammalien vielfarbige Reiher, Palamedeen und die ſtolz einherſchreitenden Hokkohühner (Crax Alector, C. Pauxi). „Hier geht es zu wie im Paradieſe, es como en el Paraiso, ſagte mit frommer Miene unſer Steuermann, ein alter Indianer, der in dem Hauſe eines Geiſtlichen erzogen war. Aber der ſüße Friede goldener Urzeit herrſcht nicht in dem Paradieſe der amerikaniſchen Thierwelt. Die Geſchöpfe ſondern, beobachten und meiden ſich. Die Capybara, das drei bis vier Fuß lange Waſſerſchwein, eine koloſſale Wiederholung des gewöhnlichen braſilianiſchen Meerſchweinchens (Cavia Aguti), wird im Fluſſe vom Crocodil, auf der Trockne vom Tiger gefreſſen. Es läuft dazu ſo ſchlecht, daß wir mehrmals einzelne aus der zahlreichen Heerde haben einholen und erhaſchen können. Unterhalb der Miſſion von Santa Barbara de Arichuna brachten wir die Nacht wie gewöhnlich unter freiem Himmel, auf einer Sandfläche am Ufer des Apure zu. Sie war von dem nahen, undurchdringlichen Walde begrenzt. Wir hatten Mühe dürres Holz zu finden, um die Feuer anzuzünden, mit denen nach der Landesſitte jedes Bivouak wegen der Angriffe des Jaguars umgeben wird. Die Nacht war von milder Feuchte und mondhell. Mehrere Crocodile näherten ſich dem Ufer. Ich glaube bemerkt zu haben, daß der Anblick des Feuers ſie eben ſo anlockt wie unſere Krebſe und manche andere Waſſerthiere. Die Ruder unſerer Nachen wurden ſorgfältig in den Boden geſenkt, um unſere Hangematten daran zu befeſtigen. Es herrſchte tiefe Ruhe; man hörte nur bisweilen das Schnarchen der Süßwaſſer- Delphine, welche dem Flußnetze des Orinoco wie (nach Colebrooke) dem Ganges bis Benares hin eigenthümlich ſind und in langen Zügen auf einander folgen. (Schluß folgt.) Das nächtliche Leben im Urwald. (Schluß.) Nach eilf Uhr entſtand ein ſolcher Lärmen im nahen Walde, daß man die übrige Nacht hindurch auf jeden Schlaf verzichten mußte. Wildes Thiergeſchrei durchtobte die Forſt. Unter den vielen Stimmen, die gleichzeitig ertönten, konnten die Indianer nur die erkennen, welche nach kurzer Pauſe einzeln gehört wurden. Es waren das einförmig jammernde Geheul der Aluaten (Brüllaffen), der winſelnde, fein flötende Ton der kleinen Sapajous, das ſchnarrende Murren des geſtreiften Nachtaffen (Nyctipithecus trivirgatus, den ich zuerſt beſchrieben habe), das abgeſezte Geſchrei des großen Tigers, des Cuguars oder ungemähnten amerikaniſchen Löwen, des Pecari, des Faulthiers und einer Schaar von Papageien, Parraquas (Ortaliden) und anderer faſanenartigen Vögel. Wenn die Tiger dem Rande des Waldes nahe kamen, ſuchte unſer Hund, der vorher ununterbrochen bellte, heulend Schutz unter den Hangematten. Bisweilen kam das Geſchrei des Tigers von der Höhe eines Baumes herab. Es war dann ſtets von den klagenden Pfeifentönen der Affen begleitet, die der ungewohnten Nachſtellung zu entgehen ſuchten. Fragt man die Indianer, warum in gewiſſen Nächten ein ſo anhaltender Lärmen entſteht, ſo antworten ſie lächelnd: „die Thiere freuen ſich der ſchönen Mondhelle, ſie feiern den Vollmond.“ Mir ſchien die Scene ein zufällig entſtandener, lang fortgeſezter, ſich ſteigernd entwickelnder Thierkampf. Der Jaguar verfolgt die Nabelſchweine und Tapirs, die dicht an einander gedrängt das baumartige Strauchwerk durchbrechen, welches ihre Flucht behindert. Davon erſchreckt, miſchen von dem Gipfel der Bäume herab die Affen ihr Geſchrei in das der größern Thiere. Sie erwecken die geſellig horſtenden Vogelgeſchlechter, und ſo kommt allmählig die ganze Thierwelt in Aufregung. Eine längere Erfahrung hat uns gelehrt, daß es keineswegs immer „die gefeierte Mondhelle iſt, welche die Ruhe der Wälder ſtört. Die Stimmen waren am lauteſten bei heftigem Regenguſſe, oder wenn bei krachendem Donner der Blitz das Innere des Waldes erleuchtet. Der gutmüthige, viele Monate ſchon fieberkranke Franciskanermönch, der uns durch die Cataracten von Atures und Maypures nach San Carlos des Rio Negro, bis an die braſilianiſche Grenze, begleitete, pflegte zu ſagen, wenn bei einbrechender Nacht er ein Gewitter fürchtete: „möge der Himmel, wie uns ſelbſt, ſo auch den wilden Beſtien des Waldes eine ruhige Nacht gewähren!“ Mit den Naturſcenen, die ich hier ſchildere und die ſich oft für uns wiederholten, contraſtirt wunderſam die Stille, welche unter den Tropen an einem ungewöhnlich heißen Tage in der Mittagsſtunde herrſcht. Ich entlehne demſelben Tagebuche eine Erinnerung an die Flußenge des Baraguan. Hier bahnt ſich der Orinoco einen Weg durch den weſtlichen Theil des Gebirges Parime. Was man an dieſem merkwürdigen Paß eine Flußenge (Angostura del Baraguan) nennt, iſt ein Waſſerbecken von noch 890 Toiſen (5340 Fuß) Breite. Außer einem alten dürren Stamme der Aubletia (Apeiba Tiburbu) und einer neuen Apocinee, Allamanda salicifolia, waren an dem nackten Felſen kaum einige ſilberglänzende Crotonſträucher zu finden. Ein Thermometer, im Schatten beobachtet, aber bis auf einige Zolle der Granitmaſſe thurmartiger Felſen genähert, ſtieg auf mehr als 40° Réaumur. Alle ferne Gegenſtände hatten wellenförmig wogende Umriſſe, eine Folge der Spiegelung oder optiſchen Kimmung (mirage). Kein Lüftchen bewegte den ſtaubartigen Sand des Bodens. Die Sonne ſtand im Zenith, und die Lichtmaſſe, die ſie auf den Strom ergoß und die von dieſem wegen einer ſchwachen Wellenbewegung funkelnd zurückſtrahlt, machte bemerkbarer noch die nebelartige Röthe, welche die Ferne umhüllte. Alle Felsblöcke und nackten Steingerölle waren mit einer Unzahl von großen, dickſchuppigen Iguanen, Geckoeidechſen und buntgefleckten Salamandern bedeckt. Unbeweglich, den Kopf erhebend, den Mund weit geöffnet, ſcheinen ſie mit Wonne die heiße Luft einzuathmen. Die größern Thiere verbergen ſich dann in das Dickicht der Wälder, die Vögel unter das Laub der Bäume oder in die Klüfte der Felſen; aber lauſcht man bei dieſer ſcheinbaren Stille der Natur auf die ſchwächſten Töne, die uns zukommen, ſo vernimmt man ein dumpfes Geräuſch, ein Schwirren und Sumſen der Inſekten, dem Boden nahe und in den untern Schichten des Luftkreiſes. Alles verkündigt eine Welt thätiger, organiſcher Kräfte. In jedem Strauche, in der geſpaltenen Rinde des Baumes, in der von Hymenopteren bewohnten, aufgelockerten Erde regt ſich hörbar das Leben. Es iſt wie eine der vielen Stimmen der Natur, vernehmbar dem frommen, empfänglichen Gemüthe des Menſchen.