Alexander v. Humboldtüber die Bedeutung des Studiums der Natur für die Cultur und das Leben der Völker. Der Reichthum der Naturwissenschaften in unserer Zeit beruht nicht mehr, wie sonst, blos auf der Fülle der einzelnen Beobachtungen, sondern auf der Verkettung dessen, was man beobachtet hat. Die allgemeinen Resultate, die jedem gebildeten Verstande Interesse einflößen, haben sich seit dem Ende des 18ten Jahrhunderts wundervoll vermehrt. Die Thatsachen stehen minder vereinzelt da; die Klüfte zwischen den Wesen werden ausgefüllt. Was in einem engeren Gesichtskreise, in unserer Nähe, dem forschenden Geiste lange unerklärlich blieb, wird oft durch Beobachtungen aufgehellt, die auf einer Wanderung in die entlegensten Regionen angestellt worden sind. Pflanzen- und Thier-Gebilde, die lange isolirt erschienen, reihen sich durch neu entdeckte Mittelglieder oder durch Uebergangsformen an einander. Eine allgemeine Verkettung, nicht in einfacher geradliniger Richtung, sondern in netzartig verschlungenem Gewebe stellt sich allmählich dem forschenden Natursinn dar. Die Materialien, welche heute die allgemeine Erdkunde anwendet, sind nicht mehr zufällig aufgehäuft. Unser Zeitalter erkennt, nach der Tendenz, die ihm seinen individuellen Charakter giebt, daß Thatsachen nur dann fruchtbringend werden, wenn Derjenige, der sie beobachtet, den dermaligen Zustand und die Bedürfnisse der Wissenschaft kennt, die er erweitern will, und wenn Ideen, das heißt Einsicht in den Geist der Natur, das Beobachten und Sammeln vernunftmäßig leiten. Durch diese Richtung des Naturstudiums, durch diesen glücklichen, aber oft auch schon allzu leicht befriedigten Hang nach allgemeinen Resultaten kann ein beträchtlicher Theil des Naturwissens das Gemeingut der gebildeten Menschheit werden,--ein gründliches Wissen erzeugen, nach Inhalt und Form, nach Ernst und Würde ganz verschieden von dem, das man bis zum Ende des letzten Jahrhunderts dem populären Wissen genügsam zu bestimmen pflegte. Wem es daher seine Lage erlaubt, sich bisweilen aus den engen Schranken des bürgerlichen Lebens herauszuretten, erröthend, "daß er so lange fremd geblieben der Natur und stumpf über sie hingehe," der wird in der Abspiegelung des großen und freien Naturlebens einen der edelsten Genüsse finden, welche erhöhte Vernunftthätigkeit dem Menschen gewähren kann. Das Studium der allgemeinen Naturkunde weckt gleichsam Organe in uns, die lange geschlummert haben. Wir treten in einen innigeren Verkehr mit der Außenwelt,--bleiben nicht untheilnehmend an dem, was gleichzeitig das industrielle Fortschreiten und die intellectuelle Veredlung der Menschheit bezeichnet. Je klarer die Einsicht ist, welche wir in den Zusammenhang der Phänomene erlangen, desto leichter machen wir uns auch von dem Irrthume frei, als wären für die Cultur und den Wohlstand der Völker nicht alle Zweige des Naturwissens gleich wichtig, sei es der messende und beschreibende Theil, oder die Untersuchung chemischer Bestandtheile, oder die Ergründung allgemein verbreiteter physischer Kräfte der Materie. In der Beobachtung einer anfangs isolirt stehenden Erscheinung liegt oft der Keim einer großen Entdeckung. Als Galvani die sensible Nervenfaser durch Berührung ungleichartiger Metalle reizte, konnten seine nächsten Zeitgenossen nicht hoffen, daß die Berührungselectricität der Voltaischen Säule uns in den Alkalien silberglänzende, auf dem Wasser schwimmende, leicht entzündliche Metalle offenbaren, daß die Säule selbst das wichtigste Instrument für die zerlegende Chemie, ein Thermoskop und ein Magnet werden würde. Als Huyghens die Lichterscheinungen des Doppelspaths zu enträthseln anfing, ahnte man nicht, daß durch den bewunderungswürdigen Scharfsinn eines Physikers unserer Zeit farbige Polarisations-Phänomene dahin leiten würden, mittelst eines kleinen Bruchstücks eines Minerals zu erkennen, ob das Licht der Sonne aus einer festen Masse, oder aus einer gasförmigen Umhüllung ausströme, und ob Kometen selbstleuchtend sind, oder nur fremdes Licht wieder geben. Gleichmäßige Würdigung aller Theile des Naturstudiums ist aber vorzüglich ein Bedürfniß der gegenwärtigen Zeit, wo der materielle Reichthum und der wachsende Wohlstand der Nationen in einer sorgfältigeren Benutzung von Naturproducten und Naturkräften gegründet sind. Der oberflächlichste Blick auf den Zustand der heutigen Welt lehrt, daß bei ungleichem Wettkampfe oder dauernder Zögerung nothwendig partielle Verminderung und endlich Vernichtung des National-Reichthums eintreten müsse; denn in dem Lebensgeschicke der Staaten ist es, wie in der Natur, für die, nach dem sinnvollen Ausspruche Göthe's, "es im Bewegen und Werden kein Bleiben giebt und die ihren Fluch gehängt hat an das Stillestehen." Nur ernste Belebung chemischer, mathematischer und naturhistorischer Studien wird einem von dieser Seite einbrechenden Uebel begegnen. Der Mensch kann auf die Natur nicht einwirken, sich keine ihrer Kräfte aneignen, wenn er nicht die Naturgesetze nach Maaß- und Zahlverhältnissen kennt. Auch hier liegt die Macht in der volksthümlichen Intelligenz. Sie steigt und sinkt mit dieser. Wissen und Erkennen sind die Freude und die Berechtigung der Menschheit; sie sind Theile des National-Reichthums, oft ein Ersatz für die Güter, welche die Natur in allzu kärglichem Maaße ausgetheilt hat. Diejenigen Völker, welche an der allgemeinen industriellen Thätigkeit, in Anwendung der Mechanik und technischen Chemie, in sorgfältiger Auswahl und Bearbeitung natürlicher Stoffe zurückstehen, bei denen die Achtung einer solchen Thätigkeit nicht alle Classen durchdringt, werden unausbleiblich von ihrem Wohlstand herabsinken. Sie werden es um so mehr, wenn benachbarte Staaten, in denen Wissenschaft und industrielle Künste in regem Wechselverkehr mit einander stehen, wie in erneuerter Jugendkraft vorwärts schreiten. Die Vorliebe für Belebung des Gewerbfleißes und für die Theile des Naturwissens, welche unmittelbar darauf einwirken--(ein charakteristisches Merkmal unseres Zeitalters)--, kann weder den Forschungen im Gebiete der Philosophie, der Alterthumskunde und der Geschichte nachtheilig werden, noch den allbelebenden Hauch der Phantasie den edlen Werken bildender Künste entziehen. Wo, unter dem Schutze weiser Gesetze und freier Institutionen, alle Blüthen der Cultur sich kräftig entfalten, da wird im friedlichen Wettkampfe kein Bestreben des Geistes dem andern verderblich. Jedes bietet dem Staate eigene, verschiedenartige Früchte dar: die nährenden, welche dem Menschen Unterhalt und Wohlstand gewähren, und die Früchte schaffender Einbildungskraft, die, dauerhafter als dieser Wohlstand selbst, die rühmliche Kunde der Völker bis auf die späteste Nachwelt tragen. Schon die Spartiaten beteten, trotz der Strenge dorischer Sinnesart: "die Götter möchten ihnen das Schöne zu dem Guten verleihen." Wie in jenen höheren Kreisen der Ideen und Gefühle, in dem Studium der Geschichte, der Philosophie und der Wohlredenheit, so ist auch in allen Theilen des Naturwissens der erste und erhabenste Zweck geistiger Thätigkeit ein innerer, nämlich das Auffinden von Naturgesetzen, die Ergründung ordnungsmäßiger Gliederung in den Gebilden, die Einsicht in den nothwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall. Was von diesem Wissen in das industrielle Leben der Völker überströmt und den Gewerbfleiß erhöht, entspringt aus der glücklichen Verkettung menschlicher Dinge, nach der das Wahre, Erhabene und Schöne mit dem Nützlichen, wie absichtslos, in ewige Wechselwirkung treten. Vervollkommnung des Landbaues durch freie Hände und in Grundstücken von minderem Umfang, Aufblühen der Manufacturen, von einengendem Zunftzwange befreit, Vervielfältigung der Handelsverhältnisse und ungehindertes Fortschreiten in der geistigen Cultur der Menschheit, wie in den bürgerlichen Einrichtungen, stehen--(das ernste Bild der neuen Weltgeschichte dringt diesen Glauben auch dem Widerstrebendsten auf)--in gegenseitigem dauernd wirksamen Verkehr mit einander. (Aus "Einleitende Betrachtungen" etc. zum "Kosmos".)