25. Bewegungen des Meeres. (A. v. Humboldt, Kosmos I. [1845] S. 324--330.) Störungen des Gleichgewichts und die dadurch erregte Bewegung des Wassers sind: theils unregelmäßig und vorübergehend vom Winde abhängig, und Wellen erzeugend, die fern von den Küsten im offenen Meere, im Sturm, über 35 Fuß Höhe ansteigen; theils regelmäßig und periodisch durch die Stellung und Anziehung der Sonne und des Monds bewirkt (Ebbe und Fluth); theils permanent, doch in ungleicher Stärke, als pelagische Strömung. Die Erscheinungen der Ebbe und Fluth, über alle Meere verbreitet (außer den kleinen und sehr eingeschlossenen, wo die Fluthwelle kaum oder gar nicht merklich wird), sind durch die Newton'sche Naturlehre vollständig erklärt, d. h. "in den Kreis des Nothwendigen zurückgeführt." Jede dieser periodisch wiederkehrenden Schwankungen des Meerwassers ist etwas länger als ein halber Tag. Wenn sie im offenen Weltmeer kaum die Höhe von einigen Fußen betragen, so steigen sie als Folge der Configuration der Küsten, die sich der kommenden Fluthwelle entgegensetzen, in St. Malo zu 50, in Acadien zu 65 bis 70 Fuß. "Unter der Voraussetzung, daß die Tiefe des Meeres vergleichungsweise mit dem Halbmesser der Erde nicht bedeutend sei, hat die Analyse des großen Geometers Laplace bewiesen, wie die Stetigkeit des Gleichgewichts des Meeres fordere, daß die Dichte seiner Flüssigkeit kleiner sei als die mittlere Dichte der Erde. In der That ist die letztere, wie wir oben gesehen, fünfmal so groß als die des Wassers. Das hohe Land kann also nie überfluthet werden, und die auf den Gebirgen gefundenen Ueberreste von Seethieren können keinesweges durch ehemals höhere Fluthen (durch die Stellung der Sonne und des Mondes veranlaßt) in diese Lage gekommen sein." Es ist kein geringes Verdienst der Analyse, die in den unwissenschaftlichen Kreisen des sogenannten bürgerlichen Lebens vornehm verschmäht wird, daß Laplace's vollendete Theorie der Ebbe und Fluth es möglich gemacht hat, in unseren astronomischen Ephemeriden die Höhe der bei jedem Neu- und Vollmonde zu erwartenden Springfluthen vorherzuverkündigen und so die Küstenbewohner auf die eintretende, besonders bei der Mondnähe noch vermehrte Gefahr aufmerksam zu machen. Oceanische Strömungen, die einen so wichtigen Einfluß auf den Verkehr der Nationen und auf die klimatischen Verhältnisse der Küsten ausüben, sind fast gleichzeitig von einer Menge sehr verschiedenartiger, theils großer, theils scheinbar kleiner Ursachen abhängig. Dahin gehören: die um die Erde fortschreitende Erscheinungszeit der Ebbe und Fluth; die Dauer und Stärke der herrschenden Winde; die durch Wärme und Salzgehalt unter verschiedenen Breiten und Tiefen modificirte Dichte und specifische Schwere der Wassertheilchen; die von Osten nach Westen successiv eintretenden und unter den Tropen so regelmäßigen stündlichen Variationen des Luftdruckes. Die Strömungen bieten das merkwürdige Schauspiel dar, daß sie von bestimmter Breite in verschiedenen Richtungen das Meer flussartig durchkreuzen, während daß nahe Wasserschichten unbewegt gleichsam das Ufer bilden. Dieser Unterschied der bewegten und ruhenden Theile ist am auffallendsten, wo lange Schichten von fortgeführtem Seetang die Schätzung der Geschwindigkeit der Strömung erleichtern. In den unteren Schichten der Atmosphäre bemerkt man bei Stürmen bisweilen ähnliche Erscheinungen der begrenzten Luftströmung. Mitten im dichten Walde werden die Bäume nur in einem schmalen Längenstreifen umgeworfen. Die allgemeine Bewegung der Meere zwischen den Wendekreisen von Osten nach Westen (Aequatorial- oder Rotationsstrom genannt) wird als eine Folge der fortschreitenden Fluthzeit und der Passatwinde betrachtet. Sie verändert ihre Richtung durch den Widerstand, welchen sie an den vorliegenden östlichen Küsten der Continente findet. Das neue Resultat, welches Daussy aus der Bewegung aufgefangener, von Reisenden absichtlich ausgeworfener Flaschen geschöpft hat, stimmt bis auf [Formel] mit der Schnelligkeit der Bewegung überein (10 französische milles marins, jede zu 952 Toisen, alle 24 Stunden), welche ich nach der Vergleichung früherer Erfahrungen gefunden hatte. Schon in dem Schiffsjournal seiner dritten Reise (der ersten, in welcher er gleich im Meridian der canarischen Inseln in die Tropengegend zu gelangen suchte) sagt Christoph Columbus: "Ich halte es für ausgemacht, daß die Meereswasser sich von Osten gen Westen bewegen, wie der Himmel (las aguas van con los cielos)"; d. i. wie die scheinbare Bewegung von Sonne, Mond und allen Gestirnen. Die schmalen Ströme, wahre oceanische Flüsse, welche die Weltmeere durchstreifen, führen warme Wasser in höhere, oder kalte Wasser in niedere Breiten. Zu der ersten Classe gehört der berühmte, von Anghiera und besonders von Sir Humfrey Gilbert bereits im sechzehnten Jahrhundert erkannte atlantische Golfstrom: dessen erster Anfang und Impuls südlich vom Vorgebirge der guten Hoffnung zu suchen ist, und der in seinem großen Kreislaufe aus dem Meer der Antillen und dem mexicanischen Meerbusen durch die Bahamastraße ausmündet; von Südsüdwest gen Nordnordost gerichtet, sich immer mehr und mehr von dem Littoral der Vereinigten Staaten entfernt und, bei der Bank von Neufundland ostwärts abgelenkt, häufig tropische Samen (Mimosa scandens, Guilandina bonduc, Dolichos urens) an die Küsten von Irland, der Hebriden und von Norwegen wirft. Seine nordöstliche Verlängerung trägt wohlthätig zu der minderen Kälte des Seewassers und des Klima's an dem nördlichsten Cap von Scandinavien bei. Wo der warme Golfstrom sich von der Bank von Neufundland gegen Osten wendet, sendet er unweit der Azoren einen Arm gegen Süden. Dort liegt das Sargasso-Meer, die große Fucus-Bank, welche so lebhaft die Einbildungskraft von Christoph Columbus beschäftigte und welche Oviedo die Tang-Wiesen (Praderias de yerva) nennt. Eine Unzahl kleiner Seethiere bewohnen diese ewig grünenden, von lauen Lüften hin und her bewegten Massen von Fucus natans, einer der verbreitetsten unter den geselligen Pflanzen des Meeres. Das Gegenstück zu diesem, fast ganz der nördlichen Hemisphäre zugehörigen Strom im atlantischen Meeresthale zwischen Afrika, Amerika und Europa bildet eine Strömung in der Südsee, deren niedrige, auch auf das Klima des Littorals bemerkbar einwirkende Temperatur ich im Herbst 1802 zuerst aufgefunden habe. Sie bringt die kalten Wasser der hohen südlichen Breiten an die Küsten von Chili, folgt den Küsten dieses Landes und denen von Peru erst von Süden gegen Norden, dann (von der Bucht bei Arica an) von Südsüdost gegen Nordnordwest. Mitten in der Tropengegend hat dieser kalte oceanische Strom zu gewissen Jahreszeiten nur 15°,6 (121/2° R.), während daß die ruhenden Wasser außerhalb des Stromes eine Temperatur von 27°,5 und 28°,7 (22--23° R.) zeigen. Wo das Littoral von Südamerika, südlich von Payta, am meisten gegen Westen vorspringt, beugt der Strom sich plötzlich in derselben Richtung von dem Lande ab, von Osten gegen Westen gewandt: so daß man, weiter nach Norden schiffend, von dem kalten Wasser plötzlich in das warme gelangt. Man weiß nicht, wie weit die oceanischen Ströme, warme und kalte, gegen den Meeresboden hin ihre Bewegung fortpflanzen. Die Ablenkung der süd-afrikanischen Strömung durch die, volle 70--80 Brassen tiefe Lagullasbank scheint eine solche Fortpflanzung zu erweisen. Sandbänke und Untiefen, außerhalb der Strömungen gelegen, sind mehrentheils, nach der Entdeckung des edlen Benjamin Franklin, durch die Kälte der Wasser erkennbar, welche auf denselben ruhen. Diese Erniedrigung der Temperatur scheint mir in dem Umstande gegründet, daß durch Fortpflanzung der Bewegung des Meeres tiefe Wasser an den Rändern der Bänke aufsteigen und sich mit den oberen vermischen. Mein verewigter Freund Sir Humphry Davy dagegen schrieb die Erscheinung, von der die Seefahrer oft für die Sicherheit der Schiffahrt praktischen Nutzen ziehen könnten, dem Herabsinken der an der Oberfläche nächtlich erkalteten Wassertheilchen zu. Diese bleiben der Oberfläche näher, weil die Sandbank sie hindert, in größere Tiefe herabzusinken. Das Thermometer ist durch Franklin in ein Senkblei umgewandelt. Auf den Untiefen entstehen häufig Nebel, da ihre kälteren Wasser den Dunst aus der Seeluft niederschlagen. Solche Nebel habe ich, im Süden von Jamaica und auch in der Südsee, den Umriß von Bänken scharf und fern erkennbar bezeichnen gesehen. Sie stellen sich dem Auge wie Luftbilder dar, in welchen sich die Gestaltungen des unterseeischen Bodens abspiegeln. Eine noch merkwürdigere Wirkung der wasser-erkältenden Untiefen ist die, daß sie, fast wie flache Korallen- oder Sandinseln, auch auf die höheren Luftschichten einen bemerkbaren Einfluß ausüben. Fern von allen Küsten, auf dem hohen Meere, bei sehr heiterer Luft, sieht man oft Wolken sich über die Punkte lagern, wo die Untiefen gelegen sind. Man kann dann, wie bei einem hohen Gebirge, bei einem isolirten Pic, ihre Richtung mit dem Compaß aufnehmen.