Erdbeben. Erbeben, Erderschütterungen zeichnen sich aus durch schnell auf einander folgende senkrechte oder horizontale oder rotatorische Schwingungen. Bei der nicht unbeträchtlichen Zahl derselben, die ich in beiden Welttheilen, auf dem festen Lande und zur See erlebt, haben die zwei ersten Arten der Bewegung mir oft sehr gleichzeitig geschienen. Die minenartige Explosion, senkrechte Wirkung von unten nach oben, hat sich am auffallendsten beim Umsturze der Stadt Riobamba (1797) gezeigt, wo viele Leichname der Einwohner auf den mehrere 100 Fuß hohen Hügel la Cullca, jenseit des Flüßchens von Lican, geschleudert wurden. Die Fortpflanzung geschieht meist in lineärer Richtung wellenförmig, mit einer Geschwindigkeit von 5 bis 7 geographischen Meilen in der Minute, oder in Erschütterungskreisen oder großen Ellipsen, in denen wie aus einem Centrum die Schwingungen sich mit abnehmender Stärke gegen den Umfang fortpflanzen. Die kreisenden (rotatorischen) Erschütterungen sind die seltensten, aber am meisten gefahrbringend. Umwenden von Gemäuer ohne Umsturz, Krümmung von vorher parallelen Baumpflanzungen, Verdrehung von Aeckern, die mit verschiedenen Getreidearten bedeckt waren, sind bei dem großen Erdbeben von Riobamba, in der Provinz Quito, wie bei dem von Calabrien beobachtet worden. Die Wirkung eines feuerspeienden Berges, so furchtbar malerisch auch das Bild ist, welches sie den Sinnen darbietet, ist doch nur immer auf einen sehr kleinen Raum eingeschränkt. Ganz anders ist es mit den Erdstößen, die dem Auge kaum bemerkbar, bisweilen gleichzeitig in 1000 Meilen Entfernung ihre Wellen fortpflanzen. Das große Erdbeben, welches am 1. Nov. 1755 Lissabon zerstörte, wurde in den Alpen, an den schwedischen Küsten, an den antillischen Inseln, in den großen Seen von Canada, wie in Thüringen und in dem nördlichen Flachlande von Deutschland in kleinen Binnenwassern der baltischen Ebenen, empfunden. Ferne Quellen wurden in ihrem Laufe unterbrochen. Die Teplitzer Thermen versiegten und kamen, Alles überschwemmend, mit vielem Eisen-Ocher gefärbt zurück. In Cadix erhob sich das Meer zu 60 Fuß Höhe, während in den kleinen Antillen die gewöhnlich nur 26 bis 28 Zoll hohe Fluth urplötzlich tintenschwarz 20 Fuß hoch stieg. Man hat berechnet, daß am 1. November 1755 ein Erdraum gleichzeitig erbebte, welcher an Größe viermal die Oberfläche von Europa übertraf. Auch ist noch keine andere Aeußerung einer Kraft bekannt geworden, durch welche in dem kurzen Zeitraume von wenigen Sekunden oder Minuten eine größere Zahl von Menschen (60,000 in Sicilien 1693; 30 bis 40,000 im Erdbeben von Riobamba 1797; vielleicht fünfmal so viel in Kleinasien und Syrien unter Tiber und Justin dem Aelteren um die Jahre 19 und 526) getödtet wurden. Man hat Beispiele in der Andeskette von Südamerika, daß die Erde mehrere Tage hinter einander ununterbrochen bebte; Erschütterungen aber, die Monate lang fast zu jeder Stunde gefühlt wurden, kenne ich nur fern von allen Vulkanen am östlichen Abfalle der Alpenkette des Mont Cenis bei Fenestrelles und Pignerol seit April 1808, in den vereinigten Staaten von Nordamerika zwischen Neu-Madrid und Little Prairie (nördlich von Cincinnati) im December 1811 wie im ganzen Winter 1812, im Paschalik von Aleppo in den Monaten August und September 1822. Da der Volksglaube sich nie zu allgemeinen Ansichten erheben kann und daher immer große Erscheinungen lokalen Erd- und Luftprozessen zuschreibt; so entsteht überall, wo die Erschütterungen lange dauern, die Besorgniß vor dem Ausbrechen eines neuen Vulkans. In einzelnen, seltenen Fällen hat sich diese Besorgniß allerdings gegründet gezeigt. Es ist ein sonderbares Gefühl, wenn so urplötzlich der Boden erbebt und geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als etwas Handelndes auftritt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsere Aufmerksamkeit; man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor: Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen; die Krokodille im Orinoko, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu. -- Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas Allgegenwärtiges, Unbegrenztes dar. Von einem thätigen Ausbruch-Krater, von einem auf unsere Wohnung gerichteten Lavastrome kann man sich entfernen; bei dem Erdbeben glaubt man sich überall, wohin auch die Flucht gerichtet sei, über dem Herde des Verderbens. Ein solcher Zustand des Gemüths, aus unserer innersten Natur hervorgerufen, ist aber nicht von langer Dauer. Folgt in einem Lande eine Reihe von schwachen Erdstößen auf einander, so verschwindet bei den Bewohnern fast jegliche Spur von Furcht. An den regenlosen Küsten von Peru kennt man weder Hagel, noch den rollenden Donner und die leuchtenden Explosionen im Luftkreise. Den Wolkendonner ersetzt dort das unterirdische Getöse, welches die Erdstöße begleitet. Vieljährige Gewohnheit und die sehr verbreitete Meinung, als seien gefahrbringende Erschütterungen nur zwei- oder dreimal in einem Jahrhunderte zu befürchten, machen, daß in Lima schwache Schwankungen des Bodens kaum mehr Aufmerksamkeit erregen, als ein Hagelwetter in der gemäßigten Zone. Nach Alex. v. Humboldt.