Erdbeben. Erdbeben, Erderſchütterungen zeichnen ſich aus durch ſchnell auf einander folgende ſenkrechte oder horizontale oder rotatoriſche Schwingungen. Bei der nicht unbeträchtlichen Zahl derſelben, die ich in beiden Welttheilen, auf dem feſten Lande und zur See erlebt, haben die zwei erſten Arten der Bewegung mir ſehr oft gleichzeitig geſchienen. Die minenartige Exploſion, ſenkrechte Wirkung von unten nach oben, hat ſich am auffallendſten bei dem Umſturze der Stadt Riombamba (1797) gezeigt, wo viele Leichname der Einwohner auf den mehrere 100 Fuß hohen Hügel la Cullca, jenſeit des Flüßchens von Lican, geſchleudert wurden. Die Fortpflanzung geſchieht meiſt in lineärer Richtung wellenförmig, mit einer Geſchwindigkeit von 5 bis 7 geographiſchen Meilen in der Minute, theils in Erſchütterungskreiſen oder großen Ellipſen, in denen wie aus einem Centrum die Schwingungen ſich mit abnehmender Stärke gegen den Umfang fortpflanzen. Die kreiſenden (rotatoriſchen) Erſchütterungen ſind die ſeltenſten, aber am meiſten gefahrbringend. Umwenden von Gemäuer ohne Umſturz, Krümmung von vorher paralellen Baumpflanzungen, Verdrehung von Aeckern, die mit verſchiedenen Getreidearten bedeckt waren, ſind bei dem großen Erdbeben von Riombamba, in der Provinz Quito (4. Febr. 1797), wie bei dem von Calabrien (5. Febr. bis 28. März 1783) beobachtet worden. Mit dem letztern Phänomen des Verdrehens oder Verſchiebens der Aecker und Culturſtücke, von welchen gleichſam eines den Platz des andern angenommen, hängt eine translatoriſche Bewegung oder Durchdringung einzelner Erdſchichten zuſammen. Als ich den Plan der zerſtörten Stadt Riobamba aufnahm, zeigte man mir die Stelle, wo das ganze Hausgeräth einer Wohnung unter den Ruinen einer andern gefunden worden war. Das lockere Erdreich hatte ſich wie eine Flüſſigkeit in Strömen bewegt, von denen man annehmen muß, daß ſie erſt niederwärts, dann horziontal und zuletzt wieder aufwärts gerichtet waren. Streitigkeiten über das Eigenthum ſolcher viele 100 Toiſen weit fortgeführten Gegenſtände ſind von der Audiencia (dem Gerichtshofe) geſchlichtet worden. Die Wirkung eines feuerſpeienden Berges, ſo furchtbar maleriſch auch das Bild iſt, welches ſie den Sinnen darbietet, iſt doch nur immer auf einen ſehr kleinen Raum eingeſchränkt. Ganz anders iſt es mit den Erdſtößen, die dem Auge kaum bemerkbar, bisweilen gleichzeitig in 1000 Meilen Entfernung ihre Wellen fortpflanzen. Das große Erdbeben, welches am 1. Nov. 1755 Liſſabon zerſtörte, und deſſen Wirkungen der große Weltweiſe Immanuel Kant ſo trefflich nachgeſpürt hat, wurde in den Alpen, an den ſchwediſchen Küſten, in den antilliſchen Inſeln (Antigua, Barbados und Martinique), in den großen Seen von Canada, wie in Thüringen und in dem nördlichen Flachlande von Deutſchland in kleinen Binnenwaſſern der baltiſchen Ebenen, empfunden. Ferne Quellen wurden in ihrem Laufe unterbrochen, eine Erſcheinung bei Erdſtößen, auf die im Alterthume ſchon Demetrius der Kallatiner aufmerkſam gemacht hatte. Die Teplitzer Thermen verſiegten und kamen, Alles überſchwemmend, mit vielem Eiſen- Ocher gefärbt, zurück. In Cadix erhob ſich das Meer zu 60 Fuß Höhe, während in den kleinen Antillen die gewöhnlich nur 26 bis 28 Zoll hohe Fluth urplötzlich dintenſchwarz 20 Fuß hoch ſtieg. Man hat berechnet, daß am 1. Nov. 1755 ein Erdraum gleichzeitig erbebte, welcher an Größe viermal die Oberfläche von Europa übertraf. Auch iſt noch keine andere Aeußerung einer Kraft bekannt geworden (die mörderiſchen Erfindungen unſeres eigenen Geſchlechts mit eingerechnet), durch welche in dem kurzen Zeitraume von wenigen Sekunden oder Minuten eine größere Zahl von Menſchen (60,000 in Sicilien 1693; 30 bis 40,000 im Erdbeben von Riobamba 1797; vielleicht fünfmal ſo viel in Kleinaſien und Syrien unter Tiber und Juſtin dem Aelteren um die Jahre 19 und 526) getödtet wurden. Man hat Beiſpiele in der Andenkette von Südamerika, daß die Erde mehrere Tage hinter einander ununterbrochen bebte; Erſchütterungen aber, die Monate lang faſt zu jeder Stunde gefühlt wurden, kenne ich nur fern von allen Vulkanen, am öſtlichen Abfalle der Alpenkette des Mont Cenis bei Feneſtrelles und Pignerol ſeit April 1808, in den vereinigten Staaten von Nordamerika zwiſchen Neu- Madrid und Little Praire (nördlich von Cincinnati) im December 1811, wie im ganzen Winter 1812, und im Paſchalik von Aleppo in den Monaten Auguſt und September 1822. Da der Volksglaube ſich nie zu allgemeinen Anſichten erheben kann und daher immer große Erſcheinungen lokalen Erd- und Luft-Proceſſen zuſchreibt, ſo entſteht überall, wo die Erſchütterungen lange dauern, die Beſorgniß vor dem Ausbrechen eines neuen Vulkans. In einzelnen, ſeltenen Fällen hat ſich dieſe Beſorgniß allerdings begründet gezeigt; ſo bei plötzlicher Erhebung vulkaniſcher Eilande, ſo in der Entſtehung des Vulkans von Jorullo (eines neuen Berges von 1580 Fuß Höhe über der alten benachbarten Ebene) am 29. Sept. 1759, nach 90 Tagen Erdbebens und unterirdiſchen Donners. Ocher (Ocker, Oker) heißt in der Mineralogie jeder natuͤrliche, mit Erde vermiſchte Metallkalk; im Handel verſteht man darunter beſonders den Eiſen-, Kupfer- und Blei- Ocher; im Allgemeinen iſt der Ocher eine metalliſche Erde von gelber oder rother Farbe. Ehe wir dieſe große Erſcheinung verlaſſen, müſſen wir noch die Urſache des unausſprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erſte Erdbeben, das wir empfinden, ſei es auch von keinem unterirdiſchen Getöſe begleitet, in uns zurückläßt. Ein ſolcher Eindruck, glaube ich, iſt nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerſtörung, welche unſerer Einbildungskraft aus Erzählungen hiſtoriſcher Vergangenheit vorſchweben. Was uns ſo wunderſam ergreift, iſt die Enttäuſchung von dem angebornen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des Starren, der feſten Erdſchichten. Von früher Kindheit ſind wir an den Contraſt zwiſchen dem beweglichen Elemente des Waſſers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir ſtehen; alle Zeugniſſe unſerer Sinne haben dieſen Glauben befeſtigt. Wenn nun urplötzlich der Boden erbebt, ſo tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illuſion des ganzen frühern Lebens. Enttäuſcht ſind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereich zerſtörender, unbekannter Kräfte verſetzt. Jeder Schall, die leiſeſte Regung der Lüfte ſpannt unſere Aufmerkſamkeit; man traut gleichſam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erſcheinung bringt dieſelbe ängſtliche Unruhe bei Thieren hervor; Schweine und Hunde ſind beſonders davon ergriffen; die Krokodile im Orinoko, ſonſt ſo ſtumm als unſere kleinen Eidechſen, verlaſſen den erſchütterten Boden des Fluſſes und laufen brüllend dem Walde zu. — Dem Menſchen ſtellt ſich das Erdbeben als etwas Allgegenwärtiges, Unbegrenztes dar. Von einem thätigen Ausbruchkrater, von einem auf unſere Wohnung gerichteten Lavaſtrom kann man ſich entfernen; bei dem Erdbeben glaubt man ſich überall, wohin auch die Flucht gerichtet ſei, über dem Heerde des Verderbens. Ein ſolcher Zuſtand des Gemüths, aus unſerer innerſten Natur hervorgerufen, iſt aber nicht von langer Dauer. Folgt in einem Lande eine Reihe von ſchwachen Erdſtößen aufeinander, ſo verſchwindet bei den Bewohnern faſt jegliche Spur von Furcht. An den regenloſen Küſten von Peru kennt man weder Hagel, noch den rollenden Donner und die leuchtenden Exploſionen im Luftkreiſe. Den Wolkendonner erſetzt dort das unterirdiſche Getöſe, welches die Erdſtöße begleitet. Vieljährige Gewohnheit und die ſehr verbreitete Meinung, als ſeien gefahrbringende Erſchütterungen nur zwei- oder dreimal in einem Jahrhunderte zu befürchten, machen, daß in Lima ſchwache Oſcillationen des Bodens kaum mehr Aufmerkſamkeit erregen, als ein Hagelwetter in der gemäßigten Zone. A. v. Humboldt.