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Alexander von Humboldt: „Erdbeben“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1845-Les_tremblements_de-34-neu> [abgerufen am 25.04.2024].

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https://humboldt.unibe.ch/text/1845-Les_tremblements_de-34-neu
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Titel Erdbeben
Jahr 1853
Ort Leipzig
Nachweis
in: August Berthelt, Julius Jäkel, Karl Petermann und Louis Thomas (Hrsg.), Deutsches Familienbuch. Eine Sammlung von Musterstücken deutscher Poesie und Prosa, 2. Auflage, Leipzig: Julius Klinkhardt 1853, S. 399–401.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur; Antiqua für Fremdsprachiges; Auszeichnung: Sperrung; Fußnoten mit Asterisken.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: VI.58
Dateiname: 1845-Les_tremblements_de-34-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 3
Zeichenanzahl: 7915

Weitere Fassungen
Les tremblements de terre (Paris, 1845, Französisch)
Earthquakes (Cupar, 1845, Englisch)
First Impression Made by an Earthquake (Dundee, 1846, Englisch)
First Impression made by an Earthquake (Leeds, 1846, Englisch)
First impression made by an earthquake (Hereford, 1846, Englisch)
First Impression made by an Earthquake (Kalkutta, 1846, Englisch)
Les tremblements de terre (Sankt Petersburg, 1846, Französisch)
Alexander von Humboldt über die Erdbeben (Frankfurt am Main, 1846, Deutsch)
Erdbeben (Wien, 1846, Deutsch)
Alexander von Humboldt über die Erdbeben (Passau, 1846, Deutsch)
Alexander v. Humboldt über die Erdbeben (Leipzig, 1846, Deutsch)
Subterranean Noises (Derby, 1846, Englisch)
Earthquakes (Southampton, 1846, Englisch)
Extraordinary subterranean noises (London, 1846, Englisch)
Subterranean noises (Hereford, 1846, Englisch)
Earthquakes (London, 1846, Englisch)
Extraordinary subterranean noises (London, 1846, Englisch)
Subterranean Noises (Manchester, 1846, Englisch)
The Motion of Earthquakes (London, 1846, Englisch)
The Motion of Earthquakes (Manchester, 1846, Englisch)
Strange Phenomena of Earthquakes (New York City, New York, 1846, Englisch)
The Motion of Earthquakes (Maidstone, 1846, Englisch)
Strange phenomenon of earthquakes (Washington, District of Columbia, 1847, Englisch)
The Motion of Earthquakes (Belfast, 1847, Englisch)
Strange Phenomenon of Earthquakes (Washington, Arkansas, 1847, Englisch)
Earthquakes (London, 1847, Englisch)
De aardbevingen (Amsterdam, 1847, Niederländisch)
Os terremotos (Rio de Janeiro, 1848, Portugiesisch)
Los temblores (Santiago de Chile, 1850, Spanisch)
First impression made by an earthquake (Edinburgh, 1852, Englisch)
A Philosopher’s feelings on occasion of an Earthquake (Shanghai, 1853, Englisch)
Earthquake Under the Tropics (Port Tobacco, Maryland, 1853, Englisch)
Erdbeben (Berlin, 1853, Deutsch)
Erdbeben (Leipzig, 1853, Deutsch)
First Impression of an Earthquake (Leicester, 1854, Englisch)
Erdbeben (Leipzig, 1855, Deutsch)
Aus Humboldt’s ’Kosmos’ (New York City, New York, 1857, Deutsch)
About Earthquakes (London, 1856, Englisch)
Volcanoes are safety-valves (Bolton, 1858, Englisch)
Earth waves of commotion (Nicht ermittelt, 1858, Englisch)
The Lisbon Earthquake (Ashton-under-Lyne, 1858, Englisch)
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Erdbeben.

Erdbeben, Erderſchütterungen zeichnen ſich aus durch ſchnell auf einanderfolgende ſenkrechte oder horizontale oder rotatoriſche Schwingungen. Bei der nichtunbeträchtlichen Zahl derſelben, die ich in beiden Welttheilen, auf dem feſten Landeund zur See erlebt, haben die zwei erſten Arten der Bewegung mir ſehr oftgleichzeitig geſchienen. Die minenartige Exploſion, ſenkrechte Wirkung von untennach oben, hat ſich am auffallendſten bei dem Umſturze der Stadt Riombamba (1797) gezeigt, wo viele Leichname der Einwohner auf den mehrere 100 Fußhohen Hügel la Cullca, jenſeit des Flüßchens von Lican, geſchleudert wurden.Die Fortpflanzung geſchieht meiſt in lineärer Richtung wellenförmig, mit einerGeſchwindigkeit von 5 bis 7 geographiſchen Meilen in der Minute, theils inErſchütterungskreiſen oder großen Ellipſen, in denen wie aus einem Centrum dieSchwingungen ſich mit abnehmender Stärke gegen den Umfang fortpflanzen. Die |400| kreiſenden (rotatoriſchen) Erſchütterungen ſind die ſeltenſten, aber am meiſtengefahrbringend. Umwenden von Gemäuer ohne Umſturz, Krümmung von vorherparalellen Baumpflanzungen, Verdrehung von Aeckern, die mit verſchiedenen Ge-treidearten bedeckt waren, ſind bei dem großen Erdbeben von Riombamba, in derProvinz Quito (4. Febr. 1797), wie bei dem von Calabrien (5. Febr. bis28. März 1783) beobachtet worden. Mit dem letztern Phänomen des Verdrehensoder Verſchiebens der Aecker und Culturſtücke, von welchen gleichſam eines denPlatz des andern angenommen, hängt eine translatoriſche Bewegung oderDurchdringung einzelner Erdſchichten zuſammen. Als ich den Plan der zerſtörtenStadt Riobamba aufnahm, zeigte man mir die Stelle, wo das ganze Hausgerätheiner Wohnung unter den Ruinen einer andern gefunden worden war. Das lockereErdreich hatte ſich wie eine Flüſſigkeit in Strömen bewegt, von denen man an-nehmen muß, daß ſie erſt niederwärts, dann horziontal und zuletzt wieder auf-wärts gerichtet waren. Streitigkeiten über das Eigenthum ſolcher viele 100 Toiſenweit fortgeführten Gegenſtände ſind von der Audiencia (dem Gerichtshofe) ge-ſchlichtet worden. Die Wirkung eines feuerſpeienden Berges, ſo furchtbar maleriſch auch dasBild iſt, welches ſie den Sinnen darbietet, iſt doch nur immer auf einen ſehrkleinen Raum eingeſchränkt. Ganz anders iſt es mit den Erdſtößen, die demAuge kaum bemerkbar, bisweilen gleichzeitig in 1000 Meilen Entfernung ihreWellen fortpflanzen. Das große Erdbeben, welches am 1. Nov. 1755 Liſſabonzerſtörte, und deſſen Wirkungen der große Weltweiſe Immanuel Kant ſo trefflichnachgeſpürt hat, wurde in den Alpen, an den ſchwediſchen Küſten, in den an-tilliſchen Inſeln (Antigua, Barbados und Martinique), in den großen Seen vonCanada, wie in Thüringen und in dem nördlichen Flachlande von Deutſchlandin kleinen Binnenwaſſern der baltiſchen Ebenen, empfunden. Ferne Quellen wur-den in ihrem Laufe unterbrochen, eine Erſcheinung bei Erdſtößen, auf die imAlterthume ſchon Demetrius der Kallatiner aufmerkſam gemacht hatte. DieTeplitzer Thermen verſiegten und kamen, Alles überſchwemmend, mit vielem Eiſen-Ocher*) gefärbt, zurück. In Cadix erhob ſich das Meer zu 60 Fuß Höhe,während in den kleinen Antillen die gewöhnlich nur 26 bis 28 Zoll hohe Fluthurplötzlich dintenſchwarz 20 Fuß hoch ſtieg. Man hat berechnet, daß am 1. Nov.1755 ein Erdraum gleichzeitig erbebte, welcher an Größe viermal die Oberflächevon Europa übertraf. Auch iſt noch keine andere Aeußerung einer Kraft bekanntgeworden (die mörderiſchen Erfindungen unſeres eigenen Geſchlechts mit eingerechnet),durch welche in dem kurzen Zeitraume von wenigen Sekunden oder Minuten einegrößere Zahl von Menſchen (60,000 in Sicilien 1693; 30 bis 40,000 imErdbeben von Riobamba 1797; vielleicht fünfmal ſo viel in Kleinaſien und Syrienunter Tiber und Juſtin dem Aelteren um die Jahre 19 und 526) getödtet wurden.Man hat Beiſpiele in der Andenkette von Südamerika, daß die Erde mehrere Tagehinter einander ununterbrochen bebte; Erſchütterungen aber, die Monate lang faſtzu jeder Stunde gefühlt wurden, kenne ich nur fern von allen Vulkanen, am öſtlichen Abfalle der Alpenkette des Mont Cenis bei Feneſtrelles und Pignerolſeit April 1808, in den vereinigten Staaten von Nordamerika zwiſchen Neu-Madrid und Little Praire (nördlich von Cincinnati) im December 1811, wie imganzen Winter 1812, und im Paſchalik von Aleppo in den Monaten Auguſt undSeptember 1822. Da der Volksglaube ſich nie zu allgemeinen Anſichten erheben
*) Ocher (Ocker, Oker) heißt in der Mineralogie jeder natuͤrliche, mit Erde vermiſchteMetallkalk; im Handel verſteht man darunter beſonders den Eiſen-, Kupfer- und Blei-Ocher; im Allgemeinen iſt der Ocher eine metalliſche Erde von gelber oder rother Farbe.
|401| kann und daher immer große Erſcheinungen lokalen Erd- und Luft-Proceſſen zu-ſchreibt, ſo entſteht überall, wo die Erſchütterungen lange dauern, die Beſorgnißvor dem Ausbrechen eines neuen Vulkans. In einzelnen, ſeltenen Fällen hat ſichdieſe Beſorgniß allerdings begründet gezeigt; ſo bei plötzlicher Erhebung vulkani-ſcher Eilande, ſo in der Entſtehung des Vulkans von Jorullo (eines neuen Bergesvon 1580 Fuß Höhe über der alten benachbarten Ebene) am 29. Sept. 1759,nach 90 Tagen Erdbebens und unterirdiſchen Donners.
Ehe wir dieſe große Erſcheinung verlaſſen, müſſen wir noch die Urſache desunausſprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen daserſte Erdbeben, das wir empfinden, ſei es auch von keinem unterirdiſchen Getöſebegleitet, in uns zurückläßt. Ein ſolcher Eindruck, glaube ich, iſt nicht Folge derErinnerung an die Schreckensbilder der Zerſtörung, welche unſerer Einbildungs-kraft aus Erzählungen hiſtoriſcher Vergangenheit vorſchweben. Was uns ſo wun-derſam ergreift, iſt die Enttäuſchung von dem angebornen Glauben an die Ruheund Unbeweglichkeit des Starren, der feſten Erdſchichten. Von früher Kindheitſind wir an den Contraſt zwiſchen dem beweglichen Elemente des Waſſers undder Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir ſtehen; alle Zeugniſſeunſerer Sinne haben dieſen Glauben befeſtigt. Wenn nun urplötzlich der Bodenerbebt, ſo tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend,als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illuſion des ganzenfrühern Lebens. Enttäuſcht ſind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen unsin den Bereich zerſtörender, unbekannter Kräfte verſetzt. Jeder Schall, die leiſeſteRegung der Lüfte ſpannt unſere Aufmerkſamkeit; man traut gleichſam dem Bodennicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erſcheinung bringt die-ſelbe ängſtliche Unruhe bei Thieren hervor; Schweine und Hunde ſind beſondersdavon ergriffen; die Krokodile im Orinoko, ſonſt ſo ſtumm als unſere kleinenEidechſen, verlaſſen den erſchütterten Boden des Fluſſes und laufen brüllend demWalde zu. — Dem Menſchen ſtellt ſich das Erdbeben als etwas Allgegenwärtiges,Unbegrenztes dar. Von einem thätigen Ausbruchkrater, von einem auf unſereWohnung gerichteten Lavaſtrom kann man ſich entfernen; bei dem Erdbeben glaubtman ſich überall, wohin auch die Flucht gerichtet ſei, über dem Heerde des Ver-derbens. Ein ſolcher Zuſtand des Gemüths, aus unſerer innerſten Natur her-vorgerufen, iſt aber nicht von langer Dauer. Folgt in einem Lande eine Reihevon ſchwachen Erdſtößen aufeinander, ſo verſchwindet bei den Bewohnern faſtjegliche Spur von Furcht. An den regenloſen Küſten von Peru kennt man wederHagel, noch den rollenden Donner und die leuchtenden Exploſionen im Luftkreiſe.Den Wolkendonner erſetzt dort das unterirdiſche Getöſe, welches die Erdſtößebegleitet. Vieljährige Gewohnheit und die ſehr verbreitete Meinung, als ſeiengefahrbringende Erſchütterungen nur zwei- oder dreimal in einem Jahrhundertezu befürchten, machen, daß in Lima ſchwache Oſcillationen des Bodens kaum mehrAufmerkſamkeit erregen, als ein Hagelwetter in der gemäßigten Zone.

A. v. Humboldt.