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Alexander von Humboldt: „Erdbeben“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1845-Les_tremblements_de-33-neu> [abgerufen am 29.03.2024].

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Titel Erdbeben
Jahr 1853
Ort Berlin
Nachweis
in: Hermann Kletke, Bilder aus dem Weltall in Aufsätzen. Für Lehrer und Freunde der Naturkunde, Berlin: Schroeder 1853, S. 73–82.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur; Auszeichnung: Sperrung.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: VI.58
Dateiname: 1845-Les_tremblements_de-33-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 10
Zeichenanzahl: 24183

Weitere Fassungen
Les tremblements de terre (Paris, 1845, Französisch)
Earthquakes (Cupar, 1845, Englisch)
First Impression Made by an Earthquake (Dundee, 1846, Englisch)
First Impression made by an Earthquake (Leeds, 1846, Englisch)
First impression made by an earthquake (Hereford, 1846, Englisch)
First Impression made by an Earthquake (Kalkutta, 1846, Englisch)
Les tremblements de terre (Sankt Petersburg, 1846, Französisch)
Alexander von Humboldt über die Erdbeben (Frankfurt am Main, 1846, Deutsch)
Erdbeben (Wien, 1846, Deutsch)
Alexander von Humboldt über die Erdbeben (Passau, 1846, Deutsch)
Alexander v. Humboldt über die Erdbeben (Leipzig, 1846, Deutsch)
Subterranean Noises (Derby, 1846, Englisch)
Earthquakes (Southampton, 1846, Englisch)
Extraordinary subterranean noises (London, 1846, Englisch)
Subterranean noises (Hereford, 1846, Englisch)
Earthquakes (London, 1846, Englisch)
Extraordinary subterranean noises (London, 1846, Englisch)
Subterranean Noises (Manchester, 1846, Englisch)
The Motion of Earthquakes (London, 1846, Englisch)
The Motion of Earthquakes (Manchester, 1846, Englisch)
Strange Phenomena of Earthquakes (New York City, New York, 1846, Englisch)
The Motion of Earthquakes (Maidstone, 1846, Englisch)
Strange phenomenon of earthquakes (Washington, District of Columbia, 1847, Englisch)
The Motion of Earthquakes (Belfast, 1847, Englisch)
Strange Phenomenon of Earthquakes (Washington, Arkansas, 1847, Englisch)
Earthquakes (London, 1847, Englisch)
De aardbevingen (Amsterdam, 1847, Niederländisch)
Os terremotos (Rio de Janeiro, 1848, Portugiesisch)
Los temblores (Santiago de Chile, 1850, Spanisch)
First impression made by an earthquake (Edinburgh, 1852, Englisch)
A Philosopher’s feelings on occasion of an Earthquake (Shanghai, 1853, Englisch)
Earthquake Under the Tropics (Port Tobacco, Maryland, 1853, Englisch)
Erdbeben (Berlin, 1853, Deutsch)
Erdbeben (Leipzig, 1853, Deutsch)
First Impression of an Earthquake (Leicester, 1854, Englisch)
Erdbeben (Leipzig, 1855, Deutsch)
Aus Humboldt’s ’Kosmos’ (New York City, New York, 1857, Deutsch)
About Earthquakes (London, 1856, Englisch)
Volcanoes are safety-valves (Bolton, 1858, Englisch)
Earth waves of commotion (Nicht ermittelt, 1858, Englisch)
The Lisbon Earthquake (Ashton-under-Lyne, 1858, Englisch)
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Erdbeben.

Welch ein Schmerz durchwühlt dich, Mutter Erde,Daß du ſchüttelſt dich mit Zorngebehrde,Daß du ſtöhneſt und in ſchreckenvollenDonnertönen läßt den Unmuth rollen?Brennt im Buſen dir ſo ungeheuerWüſten Aufruhrs nie beſänftigt Feuer?Aber weh’ uns, die wir, Friedensgäſte,Arglos trauten deiner ſichern Veſte.Blüh’ndes Antlitz hat das Herz betrogen;Weh’, nun bebſt du, wie von Sturm durchflogen!Weh’ dem Menſchen, der ſein Haus gegründet,Und der Meerfluth gleich dich falſch erfindet!H. Kletke.Erdbeben, Erderſchütterungen zeichnen ſich aus durch ſchnellauf einander folgende ſenkrechte, oder horizontale, oder rotatoriſcheSchwingungen. Bei der nicht unbeträchtlichen Zahl derſelben, die ichin beiden Welttheilen, auf dem feſten Lande und zur See erlebt, habendie zwei erſten Arten der Bewegung mir ſehr oft gleichzeitig geſchienen.Die minenartige Exploſion, ſenkrechte Wirkung von unten nach oben,hat ſich am auffallendſten bei dem Umſturze der Stadt Riobamba (1797)gezeigt, wo viele Leichname der Einwohner auf den mehrere hundertFuß hohen Hügel la Cullca, jenſeits des Flüßchens von Lican, ge-ſchleudert wurden. Die Fortpflanzung geſchieht meiſt in lineärer Richtungwellenförmig, mit einer Geſchwindigkeit von 5 bis 7 geographiſchenMeilen in der Minute; theils in Erſchütterungskreiſen oder großenEllipſen, in denen wie aus einem Centrum die Schwingungen ſich mitabnehmender Stärke gegen den Umfang fortpflanzen. Es giebt Gegenden,die zu zwei ſich ſchneidenden Erſchütterungskreiſen gehören. Im nörd-lichen Aſien habe ich den ſüdlichen metallreichen Theil des Altai-Ge-birges unter dem zwiefachen Einfluſſe der Erſchütterungs-Heerde vom|74| Baikal-See und von den Vulkanen des Himmelsgebirges (Thian-ſchan)gefunden. Wenn die Erſchütterungskreiſe ſich durchſchneiden, wenn z. B.eine Hochebene zwiſchen zwei gleichzeitig in Ausbruch begriffenen Vulka-nen liegt, ſo können mehrere Wellenſyſteme gleichzeitig exiſtiren und, wiein den Flüſſigkeiten ſich gegenſeitig nicht ſtören. Die Größe der fortge-pflanzten Erſchütterungswellen wird an der Oberfläche der Erdenach dem allgemeinen Geſetze der Mechanik vermehrt, nach welchem beider Mittheilung der Bewegung in elaſtiſchen Körpern die letzte, aufeiner Seite frei liegende Schicht ſich zu trennen ſtrebt.In der Stadt Quito, die am Fuß eines noch thätigen Vulkans(des Rucu-Pichincha) 8950 Fuß über der Meeresfläche liegt, und ſchöneKuppeln, hohe Kirchengewölbe und maſſive Häuſer von mehreren Stock-werken aufzuweiſen hat, bin ich oft über die Heftigkeit nächtlicher Erd-ſtöße in Verwunderung gerathen, welche ſo ſelten Riſſe in dem Ge-mäuer verurſachen, während in den peruaniſchen Ebnen viel ſchwächerſcheinende Oſcillationen niedrigen Rohrhäuſern ſchaden. Eingeborne, dieviele hundert Erdbeben erlebt haben, glauben, daß der Unterſchied we-niger in der Länge oder Kürze der Wellen, in der Langſamkeit oderSchnelligkeit der horizontalen Schwingung, als in der Gleichmäßigkeitder Bewegung in entgegengeſetzter Richtung liege. Die kreiſenden(rotatoriſchen) Erſchütterungen ſind die ſeltenſten, aber am meiſten ge-fahrbringend. Umwenden von Gemäuer ohne Umſturz, Krümmung vonvorher parallelen Baumpflanzungen, Verdrehung von Aeckern, die mitverſchiedenen Getreidearten bedeckt waren, ſind bei dem großen Erd-beben von Riobamba, in der Provinz Quito (4. Februar 1797), wiebei dem von Calabrien (5. Februar — 28. März 1783) beobachtetworden. Mit dem letzteren Phänomen des Verdrehens oder Verſchiebensder Aecker und Culturſtücke, von welchen gleichſam eines den Platz desandern angenommen, hängt eine translatoriſche Bewegung oderDurchdringung einzelner Erdſchichten zuſammen. Als ich den Plan derzerſtörten Stadt Riobamba aufnahm, zeigte man mir die Stelle, wo dasganze Hausgeräth einer Wohnung unter den Ruinen einer anderen gefun-den worden war. Das lockere Erdreich hatte ſich wie eine Flüſſigkeit inStrömen bewegt, von denen man annehmen muß, daß ſie erſt nieder-wärts, dann horizontal und zuletzt wieder aufwärts gerichtet waren.In Ländern, wo die Erdſtöße vergleichungsweiſe ſeltener ſind (z. B.im ſüdlichen Europa), hat ſich der ſehr allgemeine Glaube gebildet, daßWindſtille, drückende Hitze, ein dunſtiger Horizont immer Vorboten derErſcheinung ſeien. Das Irrthümliche dieſes Volksglaubens iſt aber nicht|75| blos durch meine eigene Erfahrung widerlegt; es iſt es auch durch dasReſultat der Beobachtungen aller derer, welche viele Jahre in Gegendengelebt haben, wo, wie in Cumana, Quito, Peru und Chili, der Bodenhäufig und gewaltſam erbebt. Ich habe Erdſtöße gefühlt bei heiterer Luftund friſchem Oſtwinde, wie bei Regen und Donnerwetter. Auch die Regel-mäßigkeit der ſtündlichen Veränderungen in der Abweichung derMagnetnadel und im Luftdrucke blieb zwiſchen den Wendekreiſenan dem Tage der Erdſtöße ungeſtört. Damit ſtimmen die Beobachtungenüberein, welche Adolph Erman in der gemäßigten Zone bei einem Erd-beben in Irkutſk nahe am Baikal-See (8. März 1829) anſtellte. Durchden ſtarken Erdſtoß von Cumana (4. November 1799) fand ich zwarAbweichung und Intenſität der magnetiſchen Kraft gleich unverändert,aber die Neigung der Nadel war zu meinem Erſtaunen um 48′ ge-mindert. Wenn im allgemeinen was tief in dem Erdkörper vorgeht,durch keinen meteorologiſchen Prozeß, durch keinen beſonderen Anblick desHimmelsgewölbes vorher verkündigt wird; ſo iſt es dagegen, nicht un-wahrſcheinlich, daß in gewiſſen ſehr heftigen Erderſchütterungen derAtmoſphäre etwas mitgetheilt werde, und daß daher dieſe nicht immerrein dynamiſch wirken. Während des langen Erzitterns des Bodensin den piemonteſiſchen Thälern von Pelis und Cluſſon wurden bei ge-witterloſem Himmel die größten Veränderungen in der electriſchen Span-nung des Luftkreiſes bemerkt.Die Stärke des dumpfen Getöſes, welches das Erdbeben größ-tentheils begleitet, wächſt keineswegs in gleichem Maße, als die Stärkeder Oſcillationen. Ich habe genau ergründet, daß der große Stoß imErdbeben von Riobamba (4. Februar 1797) — einem der furchtbarſtenPhänomene der phyſiſchen Geſchichte unſeres Erdkörpers — von garkeinem Getöſe begleitet war. Das ungeheure Getöſe, welches unterdem Boden der Städte Quito und Ibarra, nicht aber dem Centrumder Bewegung näher in Tacunga und Hambato, vernommen wurde,entſtand 18—20 Minuten nach der eigentlichen Kataſtrophe. Beidem berühmten Erdbeben von Lima und Callao (28. October 1746)hörte man das Getöſe wie einen unterirdiſchen Donnerſchlag in Truxilloauch erſt ¼ Stunde ſpäter und ohne Erzittern des Bodens. Eben ſowurden lange nach dem großen von Bouſſingault beſchriebenen Erdbebenvon Neu-Granada (16. November 1827) im ganzen Cauca-Thale, ohnealle Bewegung, von 30 zu 30 Secunden mit großer Regelmäßigkeit unter-irdiſche Detonationen gehört. Auch die Natur des Getöſes iſt ſehr ver-ſchieden: rollend, raſſelnd, klirrend wie bewegte Ketten, ja in der Stadt|76| Quito bisweilen abgeſetzt wie ein naher Donner; oder hell klingend,als würden Obſidian- oder andre verglaſte Maſſen in unterirdiſchenHöhlungen zerſchlagen. Da feſte Körper vortreffliche Leiter des Schallesſind, dieſer z. B. in gebranntem Thon 10 bis 12mal ſchneller ſich fort-pflanzt als in der Luft, ſo kann das unterirdiſche Getöſe in großer Fernevon dem Orte vernommen werden, wo es verurſacht wird. In Caracas,in den Grasfluren von Calabozo und an den Ufern des Rio Apure,welcher in den Orinoco fällt, in einer Landſtrecke von 2300 Quadrat-meilen, hörte man überall am 30. April, 1812, ohne alles Erdbeben,ein ungeheures donnerartiges Getöſe, als 158 Meilen davon, in Nord-oſten, der Vulkan von St. Vincent in den kleinen Antillen aus ſeinemKrater einen mächtigen Lavaſtrom ergoß. Es war alſo der Entfernungnach, als wenn man einen Ausbruch des Veſuvs im nördlichen Frank-reich vernähme. Im Jahr 1744, bei dem großen Ausbruch des VulkansCotopaxi, hörte man in Honda am Magdalenen-Strome unterirdiſchenKanonendonner. Der Krater des Cotopaxi liegt aber nicht bloß 17,000Fuß höher als Honda; beide Punkte ſind auch durch die coloſſalenGebirgsmaſſen von Quito, Paſto und Popayan, wie durch zahlloſe Thälerund Klüfte, in 109 Meilen Entfernung getrennt. Der Schall ward be-ſtimmt nicht durch die Luft, ſondern durch die Erde aus großer Tiefefortgepflanzt. Bei dem heftigen Erdbeben von Neu-Granada (Februar1835) hörte man unterirdiſchen Donner gleichzeitig in Popayan, Bogota,Santa Marta und Caracas (hier 7 Stunden lang ohne alle Erſchütterung)in Haiti, Jamaica und um den See von Nicaragua.Dieſe Schall-Phänomene, wenn ſie von gar keinen fühlbarenErſchütterungen (Erdſtößen) begleitet ſind, laſſen einen beſonders tiefenEindruck ſelbſt bei denen, die ſchon lange einen oft erbebenden Bodenbewohnt haben. Man harrt mit Bangigkeit auf das, was nach demunterirdiſchen Krachen folgen wird. Das auffallendſte, mit nichts ver-gleichbare Beiſpiel von ununterbrochenem unterirdiſchem Getöſe, ohnealle Spur von Erdbeben, bietet die Erſcheinung dar, welche auf demmexicaniſchen Hochlande unter dem Namen des Gebrülles und un-terirdiſchen Donners von Guanaxuato bekannt iſt. Dieſe berühmteund reiche Bergſtadt liegt fern von allen thätigen Vulkanen. DasGetöſe dauerte ſeit Mitternacht den 9. Januar 1784 über einen Monat.Es war (vom 13. — 16. Januar), als lägen unter den Füßen der Ein-wohner ſchwere Gewitterwolken, in denen langſam rollender Donnermit kurzen Donnerſchlägen abwechſelte. Das Getöſe verzog ſich wiees gekommen war, mit abnehmender Stärke. Es fand ſich auf einen|77| kleinen Raum beſchränkt; wenige Meilen davon, in einer baſaltreichenLandſtrecke, vernahm man es gar nicht. Faſt alle Einwohner verließenvor Schrecken die Stadt, in der große Maſſen Silberbarren angehäuftwaren; die muthigeren, an den unterirdiſchen Donner gewöhnt, kehrtenzurück und kämpften mit der Räuberbande, die ſich der Schätze bemäch-tigt hatte. Weder an der Oberfläche der Erde, noch in den 1500 Fußtiefen Gruben war irgend ein leiſes Erdbeben bemerkbar. In demganzen mexicaniſchen Hochlande iſt nie vorher ein ähnliches Getöſe ver-nommen worden, auch hat in der folgenden Zeit die furchtbare Erſchei-nung ſich nicht wiederholt. So öffnen und ſchließen ſich Klüfte imInnern der Erde; die Schallwellen gelangen zu uns oder werden inihrer Fortpflanzung gehindert.Die Wirkung eines feuerſpeienden Berges, ſo furchtbar maleriſchauch das Bild iſt, welches ſie den Sinnen darbietet, iſt doch nur immerauf einen ſehr kleinen Raum eingeſchränkt. Ganz anders iſt es mitden Erdſtößen, die, dem Auge kaum bemerkbar, bisweilen gleichzeitigin tauſend Meilen Entfernung ihre Wellen fortpflanzen. Das großeErdbeben, welches am 1. November 1755 Liſſabon zerſtörte und deſſenWirkungen der große Weltweiſe Immanuel Kant ſo trefflich nachgeſpürthat, wurde in den Alpen, an den ſchwediſchen Küſten, in den antilliſchenInſeln (Antigua, Barbados und Martinique), in den großen Seen vonCanada, wie in Thüringen und in dem nördlichen Flachlande vonDeutſchland in kleinen Binnenwaſſern der baltiſchen Ebenen, empfunden.Ferne Quellen wurden in ihrem Lauf unterbrochen, eine Erſcheinung beiErdſtößen, auf die im Alterthume ſchon Demetrius der Kallatianer auf-merkſam gemacht hatte. Die Teplitzer Thermen verſiegten und kamen,alles überſchwemmend, mit vielem Eiſen-Ocher gefärbt, zurück. InCadix erhob ſich das Meer zu 60 Fuß Höhe, während in den kleinenAntillen die, gewöhnlich nur 26 bis 28 Zoll hohe Fluth urplötzlichdintenſchwarz 20 Fuß hoch ſtieg. Man hat berechnet, daß am 1. No-vember 1755 ein Erdraum gleichzeitig erbebte, welcher an Größe vier-mal die Oberfläche von Europa übertraf. Auch iſt noch keine andereAeußerung einer Kraft bekannt geworden (die mörderiſchen Erfindungenunſres eignen Geſchlechts mit eingerechnet), durch welche in dem kurzenZeitraum von wenigen Secunden oder Minuten eine größere Zahl vonMenſchen (ſechzigtauſend in Sicilien 1693, dreißig- bis vierzigtauſendim Erdbeben von Riobamba 1797, vielleicht fünfmal ſo viel in Klein-aſien und Syrien unter Tiber und Juſtin dem Aelteren um die Jahre19 und 526) getödtet wurden.|78| Man hat Beiſpiele in der Andeskette von Südamerika, daß dieErde mehrere Tage hintereinander ununterbrochen erbebte; Erſchütte-rungen aber, die faſt zu jeder Stunde Monate lang gefühlt wurden,kenne ich nur fern von allen Vulkanen, am öſtlichen Abfall derAlpenkette des Mont Cenis bei Feneſtrelles und Pignerol ſeit April1808; in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zwiſchen Neu-Ma-drid und Little Prairie (nördlich von Cincinnati) im December 1811wie den ganzen Winter 1812; im Paſchalik von Aleppo in den Mo-naten Auguſt und September 1822. Da der Volksglaube immer großeErſcheinungen lokalen Erd- und Luftprozeſſen zuſchreibt, ſo entſteht über-all, wo die Erſchütterungen lange dauern, die Beſorgniß vor dem Aus-brechen eines neuen Vulkans. In einzelnen, ſeltenen Fällen hat ſich aller-dings dieſe Beſorgniß begründet gezeigt; ſo bei plötzlicher Erhebung vulka-niſcher Eilande, ſo in der Entſtehung des Vulkans von Jorullo (einesneuen Berges von 1580 Fuß Höhe über der alten benachbarten Ebene)am 29. September 1759, nach 90 Tagen Erdbebens und unterirdiſchenDonners.Wenn man Nachricht von dem täglichen Zuſtande der geſammtenErdoberfläche haben könnte, ſo würde man ſich ſehr wahrſcheinlich da-von überzeugen, daß faſt immerdar, an irgend einem Punkte, dieſe Ober-fläche erbebt, daß ſie ununterbrochen der Reaction des Innern gegen dasAeußere unterworfen iſt. Dieſe Frequenz und Allverbreitung einer Er-ſcheinung, die wahrſcheinlich durch die erhöhte Temperatur der tiefſtengeſchmolzenen Schichten begründet wird, erklärt ihre Unabhängigkeit vonder Natur der Gebirgsarten, in denen ſie ſich äußert. Selbſt in denlockerſten Alluvialſchichten von Holland, um Middelburg und Vlieſſingen,ſind (23. Februar 1828) Erdſtöße empfunden worden. Granit undGlimmerſchiefer werden wie Flötzkalk und Sandſtein, wie Trachyt undMandelſtein erſchüttert. Es iſt nicht die chemiſche Natur der Beſtand-theile, ſondern die mechaniſche Struktur der Gebirgsarten, welche dieFortpflanzung der Bewegung (die Erſchütterungs-Welle) modificirt.Wo letztere längs einer Küſte oder an dem Fuß und in der Richtungeiner Gebirgskette regelmäßig fortläuft, bemerkt man bisweilen, unddies ſeit Jahrhunderten, eine Unterbrechung an gewiſſen Punkten. DieUndulation ſchreitet in der Tiefe fort, wird aber an jenen Punkten ander Oberfläche nie gefühlt. Die Peruaner ſagen von dieſen unbewegtenoberen Schichten, „daß ſie eine Brücke bilden.“ Da die Gebirgskettenauf Spalten erhoben ſcheinen, ſo mögen die Wände dieſer Höhlun-gen die Richtung der den Ketten parallelen Undulationen begünſtigen;|79| bisweilen durchſchneiden aber auch die Erſchütterungswellen mehrere Kettenfaſt ſenkrecht. So ſehen wir ſie in Südamerika die Küſten-Kette vonVenezuela und die Sierra Parime gleichzeitig durchbrechen. In Aſienhaben ſich die Erdſtöße von Lahore und vom Fuß des Himalaya (22.Januar 1832), quer durch die Kette des Hindou-Kho, bis Badakſchan,bis zum Oberen Oxus, ja bis Bokhara fortgepflanzt. Leider erweiternſich auch die Erſchütterungskreiſe in Folge eines einzigen ſehr heftigenErdbebens. Erſt ſeit der Zerſtörung von Cumana (14. December 1797)empfindet die, den Kalkhügeln der Feſtung gegenüberliegende HalbinſelManiquarez in ihren Glimmerſchieferfelſen jeden Erdſtoß der ſüdlichenKüſte. Bei den faſt ununterbrochenen Undulationen des Bodens in denFlußthälern des Miſſiſſippi, des Arkanſaw und des Ohio von 1811 bis1813 war das Fortſchreiten von Süden nach Norden ſehr auffallend.Es iſt, als würden unterirdiſche Hinderniſſe allmählig überwunden; undauf dem einmal geöffneten Wege pflanzt ſich dann die Wellenbewegungjedesmal fort.Wenn das Erdbeben dem erſten Anſcheine nach ein bloßes dyna-miſches, räumliches Phänomen der Bewegung zu ſein ſcheint, ſo erkenntman doch nach ſehr wahrhaft bezeugten Erfahrungen, daß es nicht bloßganze Landſtrecken über ihr altes Niveau zu erheben vermag (z. B.Ulla-Bund nach dem Erdbeben von Cutſch im Juni 1819, öſtlich vondem Delta des Indus, oder längs der Küſte von Chili im November1822); ſondern daß auch während der Erdſtöße heißes Waſſer (beiCatania 1818), heiße Dämpfe (im Miſſiſſippi-Thale bei Neu-Madrid1812), Mofetten (irreſpirable Gasarten), den weidenden Heerden in derAndeskette ſchädlich, Schlamm, ſchwarzer Rauch, und ſelbſt Flammen(bei Meſſina 1783, bei Cumana am 14. November 1797) ausgeſtoßenwurden. Während des großen Erdbebens von Liſſabon am 1. Novem-ber 1755 ſah man nahe bei der Hauptſtadt Flammen und eine Rauch-ſäule aus einer neugebildeten Spalte des Felſen von Alvidras aufſteigen.Der Rauch war jedesmal um ſo dicker, als das unterirdiſche Getöſe anStärke zunahm. Bei der Zerſtörung von Riobamba im Jahr 1797,wo die Erdſtöße von keinem Ausbruch der ſehr nahen Vulkane begleitetwaren, wurde die Moya, eine ſonderbare, mit Kohle, Augit-Kryſtallenund Kieſelpanzern der Infuſionsthiere gemengte Maſſe, in zahlreichenkleinen fortſchreitenden Kegeln aus der Erde hervorgehoben. Der Aus-bruch des kohlenſauren Gaſes auſ Spalten während des Erdbebens vonNeu-Granada (16. November 1827) im Magdalena-Thale verurſachte dasErſticken vieler Schlangen, Ratten und anderer in Höhlen lebenden|80| Thiere. Auch plötzliche Veränderungen der Witterung, plötzliches Ein-treten der Regenzeit zu einer unter den Tropen ungewöhnlichen Epocheſind bisweilen in Quito und Peru auf große Erdbeben gefolgt. Werdengasförmige, aus dem Innern der Erde aufſteigende Flüſſigkeiten derAtmoſphäre beigemiſcht? oder ſind dieſe meteorologiſchen Prozeſſe dieWirkung einer durch das Erdbeben geſtörten Luftelektricität? In denGegenden des tropiſchen Amerika, wo bisweilen in zehn Monaten keinTropfen Regen fällt, halten die Eingebornen ſich oft wiederholende Erd-ſtöße, die den niedrigen Rohrhütten keine Gefahr bringen, für glücklicheVorboten der Fruchtbarkeit und der Regenmenge.Der innere Zuſammenhang aller hier geſchilderten Erſcheinungeniſt noch in Dunkel gehüllt. Elaſtiſche Flüſſigkeiten ſind es gewiß, dieſowohl das leiſe, ganz unſchädliche, mehrere Tage dauernde Zittern derErdrinde (wie 1816 zu Scaccia in Sicilien vor der vulkaniſchen Er-hebung der neuen Inſel Julia) als die, ſich durch Getöſe verkündigen-den, furchtbareren Exploſionen verurſachen. Der Heerd des Uebels, derSitz der bewegenden Kraft liegt tief unter der Erdrinde; wie tief, wiſſenwir eben ſo wenig, als welches die chemiſche Natur ſo hochgeſpannterDämpfe ſei. An zwei Kraterrändern gelagert, am Veſuv und auf demthurmartigen Fels, welcher den ungeheuren Schlund des Pichincha beiQuito überragt, habe ich periodiſch und ſehr regelmäßig Erdſtößeempfunden, jedesmal 20—30 Secunden früher als brennende Schlackenoder Dämpfe ausgeſtoßen wurden. Die Erſchütterung war um ſo ſtärker,als die Exploſionen ſpäter eintraten und alſo die Dämpfe länger an-gehäuft blieben. In dieſer einfachen, von ſo vielen Reiſenden beſtätigtenErfahrung liegt die allgemeine Löſung des Phänomens. Die thätigenVulkane ſind als Schutz- und Sicherheits-Ventile für die nächſte Um-gegend zu betrachten. Die Gefahr des Erdbebens wächſt, wenn dieOeffnungen der Vulkane verſtopft, ohne freien Verkehr mit der Atmo-ſphäre ſind; doch lehrt der Umſturz von Liſſabon, Caracas, Lima,Caſchmir (1554), und ſo vieler Städte von Calabrien, Syrien undKleinaſien, daß im Ganzen doch nicht in der Nähe noch brennenderVulkane die Kraft der Erdſtöße am größten iſt.Wie die gehemmte Thätigkeit der Vulkane auf die Erſchütterungdes Bodens wirkt, ſo reagirt dieſe wiederum auf die vulkaniſchen Er-ſcheinungen ſelbſt. Eröffnung von Spalten begünſtigt das Aufſteigender Eruptionskegel und die Prozeſſe, welche in dieſen Kegeln in freiemContact mit dem Luftkreiſe vorgehen. Eine Rauchſäule, die man Mo-nate lang in Südamerika aus dem Vulkan von Paſto aufſteigen ſah,|81| verſchwand plötzlich, als 48 Meilen weit in Süden (am 4. Februar1797) die Provinz Quito das große Erdbeben von Riobamba erlitt.Nachdem lange in ganz Syrien, in den Cykladen und in Euböa derBoden erbebt hatte, hörten die Erſchütterungen plötzlich auf, als ſichin der lelantiſchen Ebene bei Chalcis ein Strom „glühenden Schlammes“(Lava aus einer Spalte) ergoß. Strabo, der uns dieſe Nachricht aufbe-wahrt, ſetzt hinzu: „ſeitdem die Mündungen des Aetna geöffnet ſind,durch welche das Feuer emporbläſt, und ſeitdem Glühmaſſen und Waſſerhervorſtürzen können, wird das Land am Meeresſtrande nicht mehr ſooft erſchüttert, als zu der Zeit, wo, vor der Trennung Siciliens vonUnteritalien, alle Ausgänge in der Oberfläche verſtopft waren.“In dem Erdbeben offenbart ſich demnach eine vulkaniſch-vermittelndeMacht; aber eine ſolche Macht, allverbreitet wie die innere Wärme desPlaneten, und überall ſich ſelbſt verkündend, wird ſelten und dann nuran einzelnen Punkten bis zu wirklichen Ausbruchs-Phänomenen geſteigert.Die Gangbildung, d. h. die Ausfüllung der Spalten mit kryſtalliniſchenaus dem Innern hervorquellenden Maſſen (Baſalt, Melaphyr und Grün-ſtein), ſtört allmählig die freie Communication der Dämpfe. DurchSpannung wirken dieſe dann auf dreierlei Weiſe: erſchütternd; oderplötzlich, d. i. ruckweiſe, hebend; oder, wie zuerſt in einem großen Theilvon Schweden beobachtet worden iſt, ununterbrochen, und nur in langenPerioden bemerkbar, das Niveau-Verhältniß von Meer und Land um-ändernd.Ehe wir dieſe große Erſcheinung verlaſſen, die hier nicht ſowohlin ihren Einzelheiten, als in ihren allgemeinen phyſikaliſchen und geogno-ſtiſchen Verhältniſſen betrachtet worden iſt, müſſen wir noch die Urſachedes unausſprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren,welchen das erſte Erdbeben, das wir empfinden, ſei es auch von keinemunterirdiſchen Getöſe begleitet, in uns zurückläßt. Ein ſolcher Eindruck,glaube ich, iſt nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder derZerſtörung, welche unſrer Einbildungskraft aus Erzählungen hiſtoriſcherVergangenheit vorſchweben. Was uns ſo wunderſam ergreift, iſt dieEnttäuſchung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbe-weglichkeit des Starren, der feſten Erdſchichten. Von früher Kindheitſind wir an den Contraſt zwiſchen dem beweglichen Element des Waſſersund der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir ſtehen.Alle Zeugniſſe unſrer Sinne haben dieſen Glauben befeſtigt. Wennnun urplötzlich der Boden erbebt, ſo tritt geheimnißvoll eine unbekannteNaturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein|82| Augenblick vernichtet die Illuſion des ganzen früheren Lebens. Enttäuſchtſind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereichzerſtörender unbekannter Kräfte verſetzt. Jeder Schall, die leiſeſte Re-gung der Lüfte ſpannt unſre Aufmerkſamkeit. Man traut gleichſam demBoden nicht mehr, auf den man tritt. Das Ungewöhnliche der Erſchei-nung bringt dieſelbe ängſtliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweineund Hunde ſind beſonders davon ergriffen. Die Crocodile im Orinocoſonſt ſo ſtumm als unſere kleinen Eidechſen, verlaſſen den erſchüttertenBoden des Fluſſes und laufen brüllend dem Walde zu.Dem Menſchen ſtellt ſich das Erdbeben als etwas Allgegenwärtiges,Unbegrenztes dar. Von einem thätigen Ausbruch-Krater, von einem aufunſere Wohnung gerichteten Lavaſtrom kann man ſich entfernen; bei demErdbeben glaubt man ſich überall, wohin auch die Flucht gerichtet ſei,über dem Heerd des Verderbens. Ein ſolcher Zuſtand des Gemüths,aus unſerer innerſten Natur hervorgerufen, iſt aber nicht von langerDauer. Folgt in einem Lande eine Reihe von ſchwachen Erdſtößen aufeinander, ſo verſchwindet bei den Bewohnern faſt jegliche Spur derFurcht. An den regenloſen Küſten von Peru kennt man weder Hagelnoch den rollenden Donner und die leuchtenden Exploſionen im Luft-kreiſe. Den Wolken-Donner erſetzt dort das unterirdiſche Getöſe, welchesdie Erdſtöße begleitet. Vieljährige Gewohnheit und die ſehr verbreiteteMeinung, als ſeien gefahrbringende Erſchütterungen nur zwei- oder drei-mal in einem Jahrhundert zu befürchten, machen, daß in Lima ſchwacheOſcillationen des Bodens kaum mehr Aufmerkſamkeit erregen, als einHagelwetter in der gemäßigten Zone.

A. v. Humboldt.