Alexander v. Humboldt über die Erdbeben. Der als Staatsmann wie als Gelehrter gleich berühmte und hochgeachtete A. v. Humboldt hat in seinem neuesten Werke "Kosmos" auch seine Beobachtungen über Erdbeben und ähnliche vulkanische Erscheinungen mitgetheilt, deren theilweise Wiedergabe unsern Lesern um so interessanter sein wird, als selbst unser Deutschland in der neuesten Zeit von dem bei uns so seltenen Gaste heimgesucht worden ist. Wenn man -- sagt Humboldt -- Nachricht von dem täglichen Zustande der gesammten Erdoberfläche haben könnte, so würde man sich sehr wahrscheinlich davon überzeugen, daß fast immerdar an irgend einem Punkte die Oberfläche erbebt, daß sie ununterbrochen der Reaction des Innern gegen das Außere unterworfen ist. Diese Erregung und Allverbreitung einer Erscheinung, die wahrscheinlich durch die erhöhte Temperatur der tiefsten geschmolzenen Schichten begründet wird, erklärt ihre Unabhängigkeit von der Natur der Gebirgsarten, in denen sie sich äußert. Selbst in den lockersten Alluvialschichten von Holland, Middelburg und Vliessingen sind (23. Februar 1828) Erdstöße empfunden worden. Granit und Glimmerschiefer werden wie Flößkalk und Sandstein, wie Trachyt und Mandelstein erschüttert. Es ist nicht die chemische Natur der Bestandtheile, sondern die mechanische Structur der Gebirgsarten, welche die Fortpflanzung der Bewegung (die Erschütterungswelle) modificirt. Wo letztere längs einer Küste oder an dem Fuße und in der Richtung einer Gebirgskette regelmäßig fortläuft, bemerkt man bisweilen, und dies seit Jahrhunderten, eine Unterbrechung an gewissen Punkten. Die Wellenbewegung schreitet in der Tiefe fort, wird aber an jenen Punkten an der Oberfläche nie gefühlt. Die Peruaner sagen von diesen unbewegten obern Schichten, daß sie eine Brücke bilden. Der innere Zusammenhang der Erdbeben und der damit verknüpften Gas-, Schlamm-, Feuer- und Rauchausbrüche auf einzelnen Landstrecken, namentlich Amerikas, ist noch in Dunkel gehüllt. Elastische Flüssigkeiten sind es gewiß, die sowol das leise ganz unschädliche, mehre Tage dauernde Zittern der Erdrinde (wie 1816 in Sicilien vor der vulkanischen Erhebung der neuen Insel Julia) als die sich durch Getöse verkündigenden furchtbaren Explosionen verursachen. Der Herd des Übels, der Sitz der bewegenden Kraft liegt tief unter der Erdrinde; wie tief, wissen wir ebenso wenig als welches die chemische Natur so hochgespannter Dämpfe sei. An zwei Kraterrändern gelagert, am Vesuv und auf dem thurmartigen Fels, welcher den ungeheuern Schlund des Pichincha bei Quito überragt, habe ich periodische und sehr regelmäßige Erdstöße empfunden, jedes Mal 20--30 Secunden früher als brennende Schlacken oder Dämpfe ausgestoßen wurden. Die Erschütterung war um so stärker, als die Explosionen später eintraten und also die Dämpfe länger aufgehäuft blieben. In dieser einfachen, von so vielen Reisenden bestätigten Erfahrung liegt die allgemeine Lösung des Phänomens. Die thätigen Vulkane sind als Schutz- und Sicherheitsventile für die nächste Umgebung zu betrachten. Die Gefahr des Erdbebens wächst, wenn die Öffnungen der Vulkane verstopft, ohne freien Verkehr mit der Atmosphäre sind; doch lehrt der Umsturz von Lissabon, Caraccas, Lima, Kaschmir und so vielen Städten von Calabrien, Syrien und Kleinasien, daß im Ganzen doch nicht in der Nähe noch brennender Vulkane die Kraft der Erdstöße am größten ist. In dem Erdbeben offenbart sich demnach eine vulkanisch vermittelnde Macht; aber eine solche Macht, allverbreitet wie die innere Macht der Planeten, und überall sich selbst verkündend, wird selten und dann nur an einzelnen Punkten bis zu wirklichen Ausbruchsphänomenen gesteigert. Die Gangbildung, d. h. die Ausfüllung der Spalten mit krystallinischen, aus dem Innern hervorquellenden Massen (Basalt, Merlaphy und Grünstein) stört allmälig die freie Communication der Dämpfe. Durch Spannung wirken diese dann auf dreierlei Weise: erschütternd, oder plötzlich, d. h. ruckweise hebend, oder wie zuerst in einem großen Theile von Schweden beobachtet worden ist, ununterbrochen und nur in langen Perioden bemerkbar, das Niveauverhältniß von Meer und Land umändernd. Ehe wir diese Erscheinung verlassen, müssen wir noch die Ursache des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, sei es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck ist, glaube ich, nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unserer Einbildungskraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des Starren, der festen Erdschichten. Von früher Kindheit an sind wir an den Contrast zwischen dem beweglichen Elemente des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unserer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun plötzlich der Boden bebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht, als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen frühern Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur, wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsere Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Unmögliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen. Die Krokodille am Orinoco, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu. Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas- Allgegenwärtiges, Unbegrenztes dar. Von einem thätigen Ausbruch-Krater, von einem auf unsere Wohnungen gerichteten Lavastrome kann man sich entfernen, bei dem Erdbeben glaubt man sich überall, wohin die Flucht auch gerichtet sei, über dem Herde des Verderbens. Ein solcher Zustand des Gemüths, aus unserer innersten Natur hervorgerufen, ist aber nicht von langer Dauer. Folgt in einem Lande eine Reihe von schwachen Erdstößen aufeinander, so verschwindet fast jegliche Spur von Furcht. An den regenlosen Küsten von Peru kennt man weder Hagel noch den rollenden Donner und die leuchtenden Explosionen im Luftkreise. Den Wolkendonner ersetzt dort das unterirdische Getöse, welches die Erdstöße begleitet. Vieljährige Gewohnheit und die sehr verbreitete Meinung, als seien gefahrbringende Erscheinungen nur zwei oder drei Mal in einem Jahrhundert zu befürchten, machen, daß in Lima schwache Bebungen des Bodens kaum mehr Aufmerksamkeit erregen als ein Hagelwetter der gemäßigten Zone.