Dienstag, den 18. August 1846. Alexander von Humboldt über die Erdbeben. Wir glauben den Lesern dieses Blattes einen Genuß zu gewähren, wenn wir ihnen einige Bruchstücke aus dem nicht ganz ausschließlich der gelehrten Welt angehörigen Werke des berühmten obgenannten Gelehrten, dem Kosmos (Entwurf einer physischen Weltbeschreibung), und zwar aus dem Abschnitte mittheilen, welcher seinen reichen Schatz von Beobachtungen über Erdbeben, vulkanische Erruptionen und ähnlichen Eischeinungen enthält. Klarer und treffender dürfte vielleicht Niemand uns die Ursache des Unbehaglichen und Grauenhaften der Empfindung erklären, die wir erst vor kurzem gehabt haben, als es Humboldt in dem letzten hier deßhalb ganz abgedruckten Satze gethan. Hören wir ihn selbst. "Wenn man Nachricht von dem täglichen Zustande der gesammten Erdoberfläche haben könnte, so würde man sich sehr wahrscheinlich davon überzeugen, daß fast immerdar an irgend einem Punkt, die Oberfläche erbebt, daß sie ununterbrochen der Reaction des Inneren gegen das Aeußere unterworfen ist. Diese Frequenz und Allverbreitung einer Erscheinung, die wahrscheinlich durch die erhöhte Temperatur der tiefsten geschmolzenen Schichten begründet wird, erklärt ihre Unabhängigkeit von der Natur der Gebirgsarten, in denen sie sich äußert. Selbst in den lockersten Alluvialschichten von Holland und Mittelburg und Vliessingen sind (23. Febr. 1828) Erdstöße empfunden worden. Granit und Glimmerschiefer werden wie Flozkalk und Sandstein, wie Trachyt und Mandelschein erschüttert. Es ist nicht die chemische Natur der Bestandtheile, sondern die mechanische Structur der Gebirgsarten, welche die Fortpflanzung der Bewegung (die Erschütterungs-Welle) modificirt. Wo letztere längs einer Küste oder an dem Fuß und in der Richtung einer Gebirgskette regelmäßig fortläuft, bemerkt man bisweilen, und dies seit Jahrhunderten, eine Unterbrechung an gewissen Punkten. Die Wellenbewegung schreitet in der Tiefe fort, wird aber an jenen Punkten an der Oberfläche nie gefühlt. Die Peruaner sagen von diesen unbewegten oberen Schichten: "daß sie eine Brücke bilden."" -- -- "Der innere Zusammenhang aller hier geschilderten Erscheinungen (der Erdbeben und damit verknüpfte Gas-, Schlamm- und Feuer- und Rauchausbrüche auf einzelnen Landstrecken, namentlich Amerika's) ist noch in Dunkel gehüllt. Elastische Flüssigkeiten find es gewiß, die sowohl das leise, ganz unschädliche, mehrere Tage dauernde Zittern der Erdrinde (wie 1816 in Sicilien vor der vulkanischen Erhebung der neuen Insel Julia) als die sich durch Getöse verkündigenden furchtbaren Explosionen verursachen. Der Heerd des Uebels, der Sitz der bewegenden Kraft liegt tief unter der Erdrinde; wie tief, wissen wir eben so wenig als welches die chemische Natur so hochgespannter Dämpfe sey. An zwei Kraterränden gelagert, am Vesuv und auf dem thurmartigen Fels, welcher den ungeheuren Schlund des Pichincha bei Quito überragt, habe ich periodisch und sehr regelmäßig Erdstöße empfunden, jedes Mal 20 bis 30 Sekunden früher als brennende Schlacken oder Dämpfe ausgestoßen wurden. Die Erschütterung war um so stärker, als die Explosionen später eintraten, und also die Dämpfe länger aufgehäuft blieben. In dieser einfachen, von so vielen Reisenden bestätigten Erfahrung liegt die allgemeine Lösung des Phänomens. Die thätigen Vulkane sind als Schutz- und Sicherheits-Ventile für die nächste Umgebung zu betrachten. Die Gefahr des Erdbebens wächst, wenn die Oeffnung der Vulkane verstopft, ohne freien Verkehr mit der Atmospbäre sind; doch lehrt der Umsturz von Lissabon, Caraccas, Lima, Caschmir und so vielen Städten von Kalabrien, Syrien und Kleinasien, daß im Ganzen doch nicht in der Nähe noch brennender Vulkane die Kraft der Erdstöße am größten ist." "In dem Erdbeben offenbart sich demnach eine vulkanisch vermittelnde Macht; aber eine solche Macht, allverbreitet wie die innere Wärme des Planeten, und überall sich selbst verkündend, wird selten und dann nur an einzelnen Punkten bis zu wirklichen Ausbruchsphänomenen gesteigert. Die Gangbildung, d. h. die Ausfüllung der Spalten mit krystallinischen, aus dem Innern hervorquellenden Massen (Basalt, Melaphyr und Grünstein) stört allmählig die freie Communication der Dämpfe. Durch Spannung wirken diese dann auf dreierlei Weise: erschütternd, oder plötzlich, d. h. ruckweise hebend, oder wie zuerst in einem großen Theil von Schweden beobachtet worden ist, ununterbrochen und nur in langen Perioden bemerkbar, das Niveau-Verhältniß von Meer und Land umändernd." "Ehe wir diese große Erscheinung verlassen, müssen wir noch die Ursache des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, so es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck ist, glaube ich, nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unserer Einbildungskraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unweglichkeit des Starren, der festen Erdschichten. Von früher Kindheit an sind wir an den Kontrast zwischen dem beweglichen Element des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unserer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun plötzlich der Boden bebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht, als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen früheren Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur, wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsere Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. Das Unmögliche der Erscheinung bringt dieselbe ängstliche Unruhe bei Thieren hervor. Schweine und Hunde sind besonders davon ergriffen. Die Crocodille am Orinocko, sonst so stumm als unsere kleinen Eidechsen, verlassen den erschütterten Boden des Flusses und laufen brüllend dem Walde zu. Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas Allgegenwärtiges, Unbegränztes dar. Von einem thätigen Ausbruch-Krater, von einem auf unsere Wohnungen gerichteten Lavastrom, kann man sich entfernen, bei dem Erdbeben glaubt man sich überall, wohin auch die Flucht gerichtet sey, über dem Heerd des Verderbens. Ein solcher Zustand des Gemüths, aus unserer innersten Natur hervorgerufen, ist aber nicht von langer Dauer. Folgt in einem Lande eine Reihe von schwachen Erdstößen auf einander, so verschwindet fast jegliche Spur von Furcht. An den regenlosen Küsten von Peru kennt man weder Hagel noch den rollenden Donner und die leuchtenden Explosionen im Luftkreise. Den Wolkendonner ersetzt dort das unterirdische Getöse, welches die Erdstöße begleitet. Vieljährige Gewohnheit und die sehr verbreitete Meinung, als seyen gefahrbringende Erscheinungen nur zwei oder drei Mal in einem Jahrhundert zu befürchten, machen, daß in Lima schwache Oscillationen des Bodens kaum mehr Ausmerksamkeit erregen, als ein Hagelwetter der gemäßigten Zone."