Ueber einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen. Von Alexander von Humboldt. (Aus: "Kleinere Schriften von Alexander v. Humboldt. Erster Band.) Die höchsten Berggipfel beider Kontinente: im alten der Kintschinjinga, der Dhawalagiri (weiße Berg) und der Dschawahir, im neuen der Aponcagua und der Sahama, sind bisher von Menschen erreicht worden. Der höchste Punkt, zu dem man in beiden Kontinenten auf der Erdoberfläche gelangt ist, liegt in Südamerika am südöstlichen Abfalle des Chimborazo; dort sind Reisende fast bis 18.500 Pariser Fuß, nämlich einmal, im Juni 1802, bis 3016 Toisen, ein andermal, im Dezember 1831, bis 3080 Toisen Höhe über der Meeresfläche gelangt. Barometermessungen wurden also in der Andeskette 3720 Fuß höher als der Gipfel des Montblanc angestellt. Die Höhe des Montblanc ist in Verhältniß zur Gestaltung der Cordilleren so unbeträchtlich, daß in diesen vielbetretene Wege (Pässe) höher liegen, ja selbst der obere Theil der großen Stadt Potosi dem Gipfel des Montblanc nur um 323 Toisen nachsteht. Ich habe es für nöthig befunden, diese wenigen numerischen Angaben hier voranzuschicken, um der Phantasie bestimmte Anhaltspunkte für die hypsometrische plastische Betrachtung der Erdoberfläche darbieten zu können. Das Erreichen großer Höhen ist von geringem wissenschaftlichem Interesse, wenn dieselben weit über der Schneegrenze liegen und nur auf wenige Stunden besucht werden können. Kaum verirren sich in die dünnen Schichten des Luftkreises der Berggeier (Condor) und geflügelte Insekten, letztere unwillkürlich von Luftströmen gehoben. Wenn jetzt ein ernstes, wissenschaftliches Interesse kaum noch der Bemühung reisender Physiker, welche die höhern Gipfel der Erde zu ersteigen streben, geschenkt wird, so hat sich dagegen im allgemeinen Volkssinne ein reger Antheil an einer solchen Bemühung erhalten. Das, was unerreichbar scheint, hat eine geheimnißvolle Ziehkraft; man will, daß Alles erspähet, daß wenigstens versucht werde, was nicht errungen werden kann. Der Chimborazo ist der ermüdende Gegenstand aller Fragen gewesen, welche seit meiner ersten Rückkunft nach Europa an mich gerichtet wurden. Die Ergründung der wichtigsten Naturgesetze, die lebhafte Schilderung der Pflanzenzonen und der, die Objekte des Ackerbaues bestimmenden Verschiedenheit der Klimate, welche schichtenweise übereinander liegen, waren selten fähig, die Aufmerksamkeit von dem schneebedeckten Gipfel abzulenken, welchen man damals (vor Fitz-Roy's Messungen an der südlichen Küste von Chili und Pentland's Reise nach Bolivia) für den Kulminationspunkt der gangartig ausgedehnten Andeskette hielt. Ich werde hier dem noch ungedruckten Theile meiner Tagebücher die einfache Erzählung einer Bergreise entlehnen. Den 22. Juni 1799 war ich im Krater des Pic von Teneriffa gewesen; drei Jahre darauf, fast an demselben Tage (den 23. Juni 1802), gelangte ich, 6700 Fuß höher, bis nahe an den Gipfel des Chimborazo. Wir genossen mehrere Tage lang auf der mit Bimsstein bedeckten Ebene, in welcher man (nach dem furchtbaren Erdbeben vom 4. Februar 1797), die neue Stadt Riobamba zu gründen anfing, einer herrlichen Ansicht des glocken- oder domförmigen Gipfels des Chimborazo bei dem heitersten, eine trigonometrische Messung begünstigenden Wetter. Durch ein großes Fernrohr hatten wir den noch 15.700 Toisen entfernten Schneemantel des Berges durchforscht und mehrere ganz vegetationsleere Felsgrate entdeckt, die, wie schmale, schwarze Streifen aus dem ewigen Schnee hervorragend, dem Gipfel zuliefen und uns einige Hoffnung gaben, daß man auf ihm in der Schneeregion festen Fuß würde fassen können. Riobamba Nuevo liegt im Angesichte des ungeheuern, jetzt zackigen Gebirgsstockes Capac-Urcu, von den Spaniern el Altar genannt, der (laut einer Tradition der Eingebornen) einst höher als der Chimborazo war und nachdem er viele Jahre lang gespieen, einstürzte. Dieses schreckenverbreitende Naturereigniß fällt in die Zeit kurz vor der Eroberung von Quito durch den Inca Tupac Yupanqui. Riobamba Nuevo ist nicht mit dem alten Riobamba der großen Karte von La Condamine und Don Pedro Maldonado zu verwechseln. Letztere Stadt ist gänzlich zerstört worden durch die große Katastrophe vom 4. Februar 1797, die in wenigen Minuten über 30.000 Menschen tödtete. Wir befanden uns in der Ebene von Tapia, aus der wir am 22. Juni unsere Expedition nach dem Chimborazo antraten, schon 8898 Pariser Fuß (1483 Toisen) hoch über dem Spiegel der Südsee. Diese Hochebene, einen Theil des Thalbodens zwischen der östlichen und westlichen Andeskette (der Kette der thätigen Vulkane Cotopari Tungurahua und der Kette der ruhenden: Iliniza und Chimborazo), verfolgten wir sanft ansteigend bis an den Fuß des letztern Berges, wo wir im indischen Dorfe Calpi übernachten sollten. Sie ist sparsam mit Kaktusstämmen und Pinus mollis, der einer Trauerweide gleicht, bedeckt. Herden buntgefärbter Lamas suchen hier zu Tausenden eine sparsame Nahrung. Auf einer so großen Höhe schadet die starke nächtliche Wärmestrahlung des Bodens, bei wolkenlosem Himmel, dem Ackerbau durch Erkältung der Luft und Erfrieren der reifenden Saaten. (Fortsetzung folgt.) Ueber einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen. Von Alexander von Humboldt. (Aus: "Kleinere Schriften von Alexander v Humboldt. Erster Band.) (Fortsetzung.) Ganz nahe bei Calpi, nordwestlich von Lican, erhebt sich in der dürren Hochebene ein kleiner isolirter Hügel, der schwarze Berg, Yana-Urcu. Nach der Tradition der Eingebornen und nach vermeintlichen alten Handschriften, welche der Cazike oder Apu von Lican, ein Abkömmling der alten Fürsten des Landes (der Conchocandi), sich zu besitzen rühmte, ist der vulkanische Ausbruch des Yana-Urcu gleich nach dem Tode des Inca Tupac Yupanqui, also wohl in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, erfolgt. Die Tradition sagt, es sei eine Feuerkugel oder gar ein Stern vom Himmel gefallen und habe den Berg entzündet. Solche Mythen, welche Aerolithenfälle mit Entzündungen in Verbindung setzen, sind auch unter den mexikanischen Völkerstämmen verbreitet. Der Chimborazo sendet trotz seiner ungeheueren Schneemasse so wasserarme Bäche in die Hochebene herab, daß man wohl annehmen kann, der größere Theil seiner Wasser fließe auf Klüften dem Innern zu. Auch in dem Dorfe Calpi selbst hörte man ehedem ein großes Getöse unter einem Hause, das keine Keller hatte. Vor dem furchtbaren Erdbeben vom 4. Februar 1797 entsprang im Südwesten des Dorfes ein Bach an einem tiefern Punkte. Viele Indianer hielten denselben für einen Theil der Wassermasse, welche unter dem Dana-Urcu fließt. Seit dem großen Erdbeben aber ist dieser Bach wiederum verschwunden. Nachdem wir die Nacht in Calpi, nach meiner Barometermessung 9720 Fuß (1620 Toisen hoch) über dem Meere zugebracht hatten, begannen wir am 23. Morgens unsere eigentliche Expedition nach dem Chimborazo. Wir versuchten den Berg von der südsüd-östlichen Seite zu ersteigen, und die Indianer, welche uns zu Führern dienen sollten, von denen aber nur wenige je bis zur Grenze des ewigen Schnees gelangt waren, gaben dieser Richtung des Weges ebenfalls den Vorzug. Wir fanden den Chimborazo mit großen Ebenen, die stufenweise über einander liegen, umgeben. Zuerst durchschnitten wir die Banos de Luisa; dann, nach einem nicht sehr steilen Ansteigen von kaum 5000 Fuß Länge, gelangten wir in die Hochebene (Llano) vor Gugun. Die erste Stufe ist 10.200, die zweite 11.700 Fuß hoch. Diese mit Gras bewachsenen Ebenen erreichen also, die eine den höchsten Gipfel der Pyrenäen (den Pic Nethou), die andere den Gipfel des Vulkans von Teneriffa. Die vollkommene Göhligkeit (Horizontalität) dieser Hochebenen läßt auf einen langen Aufenthalt stehender Wasser schließen. Man glaubt einen Seeboden zu sehen. Der Himmel wurde immer trüber, aber zwischen und über den Nebelschichten lagen noch einzelne, deutlich erkennbare Wolkengruppen zerstreut. Der Gipfel des Chimborazo erschien auf wenige Augenblicke. Weil in der letzten Nacht viel Schnee gefallen war, so verließ ich das Maulthier da, wo wir die untere Grenze dieses frischgefallenen Schnees fanden, eine Grenze, die man nicht mit der ewigen Schneegrenze verwechseln muß. Das Barometer zeigte, daß wir erst 13.500 Fuß hoch gelangt waren. Auf andern Bergen habe ich, ebenfalls dem Aequator nahe, bis zu 11.200 Fuß Höhe schneien sehen, doch nicht tiefer. Meine Begleiter, Bonpland und Carlos Mentufar, ritten noch bis zur perpetuirlichen Schneegrenze, d. i. bis zur Höhe des Montblanc, der bekanntlich unter dieser Breite (1° 27' südl.) nicht immer mit Schnee bedeckt sein würde. Dort bleiben unsere Pferde und Maulthiere stehen, um uns bis zur Rückkunft zu erwarten. Neunhundert Fuß über dem kleinen Wasserbecken Nana-Cocha sahen wir endlich anstehendes nacktes Gestein. Bis dahin hatte die Grasflur jeder geognostischen Untersuchung den Boden entzogen. Große Felsmauern, von Nordost nach Südwest streichend, zum Theil in unförmliche Säulen gespalten, erhoben sich aus der ewigen Schneedecke: ein bräunlich schwarzes Augitgestein, glänzend wie Bechstein-Porphyr. Die Säulen waren sehr dünn, wohl 30 bis 60 Fuß hoch, fast wie die Trachytsäulen des Tablahuma im Vulkan Pichincha. Eine Gruppe stand einzeln und erinnerte in der Ferne fast an Masten und Baumstämme. Die steilen Mauern führten uns durch die Schneeregion zu einem gegen den Gipfel gerichteten schmalen Grat, einem Felskamm, der es uns allein möglich machte, vorzudringen; denn der Schnee war damals so weich, daß man fast nicht wagen konnte, seine Oberfläche zu betreten. Der Kamm bestand aus sehr verwittertem, bröckligem Gestein. Er war oft zellig wie ein basaltartiger Mandelstein. Der Pfad wurde immer schmaler und steiler. Die Eingebornen verließen uns alle bis auf einen in der Höhe von 15.600 Fuß. Alle Bitten und Drohungen waren vergeblich. Die Indianer behaupteten, an Athemlosigkeit mehr als wir zu leiden. Wir blieben allein. Bonpland, unser liebenswürdiger Freund, der jüngere Sohn des Marquis de Selvalegre, Carlos Montufar, der in dem spätern Freiheitskampfe (auf General Morillo's Befehl) erschossen wurde, ein Mestize aus dem nahen Dorfe San Juan und ich. Wir gelangten mir großer Anstrengung und Geduld höher als wir hoffen durften, da wir meist ganz in Nebel gehüllt blieben. Der Felskamm (im Spanischen sehr bedeutsam Cuchilla, gleichsam Messerrücken genannt) hatte oft nur die Breite von 8 bis 10 Zoll. Zur Linken war der Absturz mit Schnee bedeckt, dessen Oberfläche durch Frost wie verglast erschien. Die dünneisige Spiegelfläche hatte gegen 30° Neigung. Zur Rechten senkte sich unser Blick schaurig in einen 800 oder 1000 Fuß tiefen Abgrund, aus dem schneelose Felsmassen senkrecht hervorragten. Wir hielten den Körper immer mehr nach dieser Seite hin ge- neigt; denn der Absturz zur Linken schien noch gefahrdrohender, weil sich dort keine Gelegenheit darbot, sich mit den Händen an zackig vorstehendem Gesteine festzuhalten, und weil dazu die dünne Eisrinde nicht vor dem Untersinken im lockern Schnee sicherte. Nur ganz leichte, poröse Doleritstücke konnten wir auf dieser Eisrinde herabrollen lassen. Die geneigte Schneefläche war so ausgedehnt, daß wir die Steine früher aus dem Gesichte verloren, als sie zur Ruhe kamen. Der Mangel an Schnee sowohl auf dem Grate, der uns leitete, als auf dem Felsen zu unserer Rechten gegen Osten kann weniger der Steilheit der Gesteinmassen und dem Windstoße als offenen Klüften zuzuschreiben sein, welche die warme Luft der tiefern Erdschichten aushauchen. Bald fanden wir das weitere Steigen dadurch schwieriger, daß die Bröcklichkeit des Gesteins beträchtlich zunahm. An einzelnen sehr steilen Staffeln mußte man die Hände und Füße zugleich anwenden, wie dies bei allen Alpenreisen so gewöhnlich ist. Da das Gestein sehr scharfkantig war, so wurden wir, besonders an den Händen, schmerzhaft verletzt. In noch höherm Maße haben wir, Leopold von Buch und ich, nahe am Krater des Obsidianreichen Pics von Teneriffa von diesen Verletzungen gelitten. Ich hatte dazu (wenn es anders einem Reisenden erlaubt ist, so unwichtige Einzelheiten zu erwähnen) seit mehreren Wochen eine Wunde am Fuße, welche durch die Anhäufung der Niguas (Pulex penetrans) veranlaßt und durch seinen Staub von Bimsstein, bei Messungen im Bano de Tapia, sehr vermehrt worden war. Der geringe Zusammenhang des Gesteins auf dem Kamme machte nun größere Vorsicht nöthig, da viele Massen, welche wir für anstehend hielten, lose in Sand gehüllt lagen. Wir schritten hintereinander und um so langsamer fort, als man die Stellen prüfen mußte, die unsicher schienen. Glücklicherweise war der Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu erreichen, die letzte unserer Bergreisen in Südamerika, daher die früher gesammelten Erfahrungen uns leiten und mehr Zuversicht auf unsere Kräfte geben konnten. Es ist ein eigener Charakter aller Exkursionen in der Andeskette, daß oberhalb der ewigen Schneegrenze weiße Menschen sich dort in den bedenklichsten Lagen stets ohne Führer, ja ohne alle Kenntniß der Oertlichkeit befinden. Man ist hier überall zuerst. (Fortsetzung folgt.) Ueber einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen. Von Alexander von Humboldt. (Aus: "Kleinere Schriften von Alexander v Humboldt. Erster Band.) (Fortsetzung.) Wir konnten den Gipfel auch auf Augenblicke nicht mehr sehen und waren daher doppelt neugierig, zu wissen, wie viel uns zu ersteigen übrig bleiben möchte. Wir öffneten das Gefäß-Barometer an einem Punkte, wo die Breite des Kammes es erlaubte, daß zwei Personen bequem neben einander stehen konnten. Wir waren erst 17.300 Fuß hoch, also kaum 200 Fuß höher, als wir drei Monate zuvor, einen ähnlichen Kamm erklimmend, auf dem Antisoma gewesen waren. Es ist mit Höhenbestimmungen bei dem Bergsteigen wie mit Wärmebestimmungen im heißen Sommer: man findet mit Verdruß das Thermometer nicht so hoch, den Barometerstand nicht so niedrig, als man es erwartete. Da die Luft trotz der Höhe ganz mit Feuchtigkeit gesättigt war, so trafen wir nun das lose Gestein und den Sand, welcher die Zwischenräume desselben ausfüllt, überaus naß. Die Luft war noch 2°,8 über dem Gefrierpunkte. Nach einer Stunde vorsichtigen Klimmens wurde der Felskamm weniger steil, aber leider blieb der Nebel gleich dick. Wir fingen nun nach und nach an, Alle an großer Uebelkeit zu leiden. Der Drang zum Erbrechen war mit etwas Schwindel verbunden und weit lästiger als die Schwierigkeit zu athmen. Ein farbiger Mensch (Mestize aus San Juan) hatte uns blos aus Gutmüthigkeit, keineswegs aber in eigennütziger Absicht nicht verlassen wollen. Es war ein kräftiger, armer Landmann, der mehr litt als wir. Wir bluteten aus dem Zahnfleische und aus den Lippen. Die Bindehaut (membrana conjunctiva) der Augen war bei Allen ebenfalls mit Blut unterlaufen. Diese Symptome der Extravasate in den Augen, des Blutausschwitzens am Zahnfleische und an den Lippen hatten für uns nichts Beunruhigendes, da wir aus mehrmaliger früherer Erfahrung damit bekannt waren. In Europa hat Herr Zumstein schon auf einer weit geringern Höhe am Monte Rosa zu bluten angefangen. Spanische Krieger kamen bei Eroberung der Aequinoktialregion von Amerika (während der Conquista) nicht über die untere Grenze des ewigen Schnees, also wenig über die Höhe des Montblanc hinaus, und doch spricht schon Acosta in seiner Historia natural de las Indias, einer Art physischer Erdbeschreibung, die man ein Meisterwerk des sechzehnten Jahrhunderts nennen kann, umständlich von "Ueblichkeiten und Magenkrampf" als schmerzhaften Symptomen der Bergkrankheit, welche darin der Seekrankheit analog ist. Auf dem Vulkane von Pichincha fühlte ich einmal, ohne zu bluten, ein so heftiges Magenübel, von Schwindel begleitet, daß ich besinnungslos auf der Erde gefunden wurde, als ich mich eben auf einer Felsmauer über der Schlucht von Verde-Cuchu von meinem Begleiter getrennt hatte, um elektrometrische Versuche an einem recht freien Punkte anzustellen. Die Höhe war gering, unter 13.800 Fuß. Am Antisana aber, auf der beträchtlichen Erhebung von 17.022 Fuß, blutete unser junger Reisegefährte Don Carlos Montufar sehr stark aus den Lippen. Es ist bekannt, daß die Angaben der Höhen, zu denen die Luftschiffer behaupten sich erhoben zu haben, gewöhnlich wenig Glauben verdienen; und wenn ein sicherer und überaus genauer Beobachter, Herr Gay-Lussac, der am 16. September 1802 die ungeheuere Höhe von 21.600 Fuß erreichte (also zwischen den Höhen des Chimborazo und des chilenischen Aconcagu), kein Bluten erlitt, so ist dies vielleicht dem Mangel an Muskelbewegung zuzuschreiben. (Schluß folgt.) Ueber einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen. Von Alexander von Humboldt. (Aus: "Kleinere Schriften von Alexander v Humboldt. Erster Band.) (Schluß.) Die Nebelschichten, welche uns hinderten, entfernte Gegenstände zu sehen, schienen plötzlich trotz der totalen Windstille, vielleicht durch elektrische Prozesse, zu zerreißen. Wir erkannten einmal wieder, und zwar ganz nahe, den domförmigen Gipfel des Chimborazo. Es war ein ernster, großartiger Anblick. Die Hoffnung, diesen ersehnten Gipfel zu erreichen, belebte unsere Kräfte aufs neue. Der Felskamm, welcher nur hie und da mit dünnen Schneeflocken bedeckt war, wurde etwas breiter; wir eilten sichern Schrittes vorwärts, als auf einmal eine Art Thalschlucht von etwa 400 Fuß Tiefe und 60 Fuß Durchmesser unserm Unternehmen eine unübersteigliche Grenze setzte. Wir sahen deutlich jenseits des Abgrundes unsern Felskamm in derselben Richtung fortsetzen; doch zweifle ich, daß er bis zum Gipfel selbst führt. Die Kluft war nicht zu umgehen. Es war 1 Uhr Mittags. Wir stellten mit vieler Sorgfalt das Barometer auf, es zeigte 13 Zoll 11 [Formel] Linien. Die Temperatur der Luft war nun 1°.6 unter dem Gefrierpunkte, aber nach einem mehrjährigen Aufenthalte in den heißesten Gegenden der Tropenwelt schien uns diese geringe Kälte erstarrend. Dazu waren unsere Stiefel ganz von Schneewasser durchzogen; denn der Sand, der bisweilen den Grat bedeckte, war mit altem Schnee vermengt. Wir hatten nach der La Place'schen Barometerformel eine Höhe von 3016 Toisen, genauer von 18.096 Pariser Fuß, erreicht. Wäre La Condamine's Angabe der Höhe des Chimborazo, wie sie auf der noch in Quito im Jesuiten-Kollegium aufbewahrten Steintafel aufgezeichnet ist, die richtige, so fehlten uns noch bis zum Gipfel senkrecht 1224 Fuß oder die dreimalige Höhe der Peterskirche zu Rom. Die Flexibilität der menschlichen Organisation erträgt demnach Veränderungen im Barometerstande, die 13 Zoll betragen. Doch sonderbar möchte die physische Konstitution des Menschengeschlechts allmälig umgewandelt werden, wenn große kosmische Ursachen solche Extreme der Luftverdünnung oder Luftverdichtung permanent machten. Wir blieben kurze Zeit in dieser traurigen Einöde, bald wieder ganz in Nebel gehüllt. Die feuchte Luft war dabei unbewegt. Keine bestimmte Richtung war in den einzelnen Gruppen dichterer Dunstbläschen zu bemerken, daher ich nicht sagen kann, ob auf dieser Höhe, wie so oft auf dem Pic von Teneriffa, der dem tropischen Passat entgegengesetzte Westwind weht. Wir sahen nicht mehr den Gipfel des Chimborazo, keinen der benachbarten Schneeberge, noch weniger die Hochebene von Quito. Wir waren wie in einem Luftballon isolirt. Nur einige Steinflechten waren uns bis über die Grenze des ewigen Schnees gefolgt. Die letzten kryptogamischen Pflänzchen, welche ich sammelte, waren Leeidea atrovirens (Lichen geographicus). Ein Schmetterling (Sphinx) war von Herrn Bonpland in 15.000 Fuß Höhe gefangen worden, eine Fliege sahen wir noch um 1600 Fuß höher. Den auffallendsten Beweis, daß diese Thiere unwillkürlich vom Luftstrome, der sich über den erwärmten Ebenen erhebt, in diese obere Region der Atmosphäre gebracht werden, gibt folgende Thatsache: Als Boussingault die Silla de Caracas bestieg, um meine Messung des Berges zu wiederholen, sah er in 8000 Fuß Höhe um Mittag, als dort Westwind wehte, von Zeit zu Zeit weißliche Körper die Luft durchstreichen, die er anfangs für aufsteigende Vögel mit weißem, das Sonnenlicht reflektirendem Gefieder hielt. Diese Körper erhoben sich aus dem Thale von Caracas mit großer Schnelligkeit und überstiegen die Gipfel der Silla, indem sie sich gegen Nordosten richteten, wo sie wahrscheinlich das Meer erreichten. Einige fielen früher nieder auf den südlichen Abhang der Silla; es waren von der Sonne erleuchtete Grashalme. Boussingault schickte mir solche, die noch Aehren hatten, in einem Briefe nach Paris. Ich muß noch bemerken, daß wir keinem Condor auf dem Chimborazo begegneten, diesem kräftigen Geier, der auf Antisana und Pichincha so häufig ist und, mit dem Menschen unbekannt, große Dreistigkeit zeigt. Der Condor liebt heitere Luft, um seinen Raub oder seine Nahrung (denn er gibt todten Thieren den Vorzug) aus der Höhe leichter zu erkennen. Da das Wetter immer trüber und trüber wurde, so eilten wir auf demselben Felsgrate herab, der unser Aufsteigen begünstigt hatte. Vorsicht war indeß wegen Unsicherheit des Trittes noch mehr nöthig als im Heraufklimmen. Wir hielten uns nur so lange auf als wir brauchten, Fragmente der Gebirgsart zu sammeln. Wir sahen voraus, daß man uns in Europa oft um "ein kleines Stück vom Chimborazo" ansprechen würde. Damals war noch keine Gebirgsart in irgend einem Theile von Südamerika benannt worden; man nannte Granit das Gestein aller hohen Gipfel des Andes. Als wir ungefähr in 17.400 Fuß Höhe waren, fing es an heftig zu hageln. Es waren undurchsichtige, milchweiße Hagelkörner mit concentrischen Lagen. Einige schienen durch Rotation beträchtlich abgeplattet. Zwanzig Minuten, ehe wir die untere Grenze des ewigen Schnees erreichten, wurde der Hagel durch Schnee ersetzt. Die Flocken waren so dicht, daß der Schnee bald viele Zoll tief den Felskamm bedeckte. Wir wären gewiß in große Gefahr gekommen, hätte uns der Schnee auf 18.000 Fuß Höhe überrascht. Um zwei Uhr und einige Minuten erreichten wir den Punkt, wo unsere Maulthiere standen. Die zurückgebliebenen Eingebornen waren mehr als nöthig um uns besorgt gewesen. Der Theil unserer Expedition oberhalb des ewigen Schnees hatte nur 31/2 Stunden gedauert, während welcher wir trotz der Luftveränderung nie durch Niedersitzen uns auszuruhen brauchten. Die Dicke des domförmigen Gipfels hat in dieser Höhe der ewigen Schneegrenze, also in 2460 Toisen Höhe, noch einen Durchmesser von 3437 Toisen und nahe am höchsten Gipfel, fast 150 Toisen unterhalb desselben, einen Durchmesser von 672 Toisen. Ein ausgezeichneter Geognost, Herr Pentland, dem wir die geognostische Kenntniß des Hochlandes von Titicaca verdanken, und der, mit vielen trefflichen astronomischen und physikalischen Instrumenten ausgerüstet, zweimal das obere Peru (Bolivia) besuchte, hat mich versichert, daß mein Bild des Chimborazo gleichsam wiederholt ist in dem Nerado de Chuguibamba, einem Trachytberge, welcher in der westlichen Kordillere, nördlich von Arequipa, 19.680 Fuß (3280 Toisen) Höhe erreicht. Nächst dem Himalaya ist dort, durch die Frequenz hoher Gipfel und durch die Masse derselben, zwischen dem 15. und 18. Grade südlicher Breite, die größte Anschwellung der uns bekannten Erdoberfläche, so weit nämlich diese Anschwellung nicht von der primitiven Form des rotirenden Planeten, sondern von Erhebung der Bergketten und einzelnen Glocken von Dolerit-, Trachyt- und Albitgestein auf diesen Bergketten herrührt. Wir nahmen unsern Rückweg nach dem Dorfe Calpi etwas nördlicher als die Llanos de Sisgun, durch den pflanzenreichen Paramo de Pungupala. Schon um fünf Uhr Abends waren wir wieder bei dem freundlichen Pfarrer von Calpi. Wie gewöhnlich folgte auf den nebelverhüllten Tag der Expedition die heiterste Witterung. Am 25. Juni erschien uns in Riobamba Nuevo der Chimborazo in seiner ganzen Pracht, ich möchte sagen in der stillen Größe und Hoheit, die der Naturcharakter der tropischen Landschaft ist. Ein zweiter Versuch auf dem durch eine Kluft unterbrochenen Kamme wäre gewiß so fruchtlos als der erste ausgefallen und schon war ich mit der trigonometrischen Messung des Vulkans von Tungurahua beschäftigt. Boussingault hat mit seinem Freunde, dem Englischen Oberst Hall, der bald darauf in Quito ermordet wurde, am 16. Dezember 1831 einen neuen Versuch gemacht, den Gipfel des Chimborazo zu erreichen; erst von Mocha und Chillapullu, dann von Arenal aus, also auf einem anderen Wege, als den ich mit Bonpland und Don Carlos Mentufar betrat. Er mußte das Weitersteigen aufgeben, als sein Barometer 13 Zoll 81/2 Linie, bei der warmen Lufttemperatur von -- 7°.8, zeigte. Er sah also die unkorrigirte Quecksilbersäule fast 3 Linien niedriger und war um 64 Toisen höher als ich gelangt, bis zu 3080 Toisen. Hören wir selbst diesen der Andeskette so kundigen Reisenden, der mit großer Kühnheit zuerst chemische Apparate an und in die Krater der Vulkane getragen hat: "Der Weg," sagt Boussingault, "welchen wir uns in dem letzten Theile unser Expedition durch den Schnee bahnten, erlaubte uns nur sehr langsam vorzuschreiten: rechts konnten wir uns an einen Felsen festhalten, links war der Abgrund furchtbar. Wir spürten schon die Wirkung der Luftverdünnung und waren gezwungen, uns alle zwei bis drei Schritte niederzusetzen. So wie wir uns aber eben gesetzt hatten, standen wir wieder auf; denn unser Leiden dauerte nur so lange, als wir uns bewegten. Der Schnee, den wir betreten mußten, war weich und lag kaum 3 bis 4 Zoll auf einer sehr glatten und harten Eisdecke. Wir waren genöthigt, Stufen einzuhauen. Ein Neger ging voran, um diese Arbeit, die seine Kräfte bald erschöpfte, zu vollziehen. Indem ich bei ihm vorbeigehen wollte, um ihn abzulösen, glitt ich aus und wurde glücklicherweise von Oberst Hall und meinem Neger zurückgehalten. Wir befanden uns (setzt Herr Boussingault hinzu) für einen Augenblick alle Drei in der größten Gefahr. Weiterhin war der Schnee günstiger, und um 33/4 Uhr Nachmittags standen wir auf dem langersehnten Felskamme, der wenige Fuß breit, aber mit Abgründen umgeben war. Hier überzeugten wir uns, daß das Weiterkommen unmöglich sei. Wir befanden uns an dem Fuße eines Fels- Prismas, dessen obere Fläche, bedeckt mit einer Kuppe von Schnee, den eigentlichen Gipfel des Chimborazo bildet. Um sich von der Topographie des ganzen Berges ein richtiges Bild zu machen, denke man sich eine ungeheure schneebedeckte Felsmasse, die von allen Seiten wie durch Strebepfeiler unterstützt erscheint. Die Strebepfeiler sind die Kämme, welche sich anlegen und (aus dem ewigen Schnee) hervortreten." Der Verlust eines Physikers, wie Boussingault, wäre unbeschreiblich theuer durch den wenigen Gewinn erkauft worden, welchen Unternehmungen dieser Art den Wissenschaften darbieten können. Drei Tage nach unserer Expedition hörten wir in dem neuen Riobamba, um Ein Uhr Nachts, ein wüthiges, unterirdisches Krachen (bramido), das von keiner Erschütterung begleitet war. Erst drei Stunden später erfolgte ein heftiges Erdbeben ohne vorhergehendes Geräusch. Aehnliche bramidos, -- alle, wie man glaubt, vom Chimborazo kommend, wurden wenige Tage vorher in Calpi vernommen. Dem Bergkoloß noch näher, im Dorfe San Juan, sind sie am häufigsten. Solch ein unterirdisches Krachen erregt die Aufmerksamkeit der Eingebornen nicht mehr, als es ein ferner Donner thut aus tiefbewölktem Himmel in unserer nordischen Zone. Dies ist ein Theil der Beobachtungen, welche ich bei der Besteigung des Chimborazo gesammelt und aus einem ungedruckten Reisejournale einfach mitgetheilt habe. Wo die Natur so mächtig und groß und unser Bestreben rein wissenschaftlich ist, kann die Darstellung jedes Schmuckes der Rede entbehren.