Ueber zwei Versuche den Chimborazo zu besteigen. Von ALEXANDER von HUMBOLDT. Die höchsten Berggipfel beider Continente, im alten der Dhawalagiri (weisse Berg) und der Jawahir (Dschawahir); im neuen der Sorata und Illimani, sind bisher noch nie von Menschen erreicht worden. Der höchste Punkt zu dem man in beiden Continenten auf der Erdoberfläche gelangt ist, liegt in Südamerika am südöstlichen Abfall des Chimborazo. Dort sind Reisende fast bis 18500 Pariser Fuss, nämlich einmal im Junius 1802 bis 3016 Toisen, ein andermal im December 1831 bis 3080 Toisen Höhe über der Meeresfläche gelangt. Barometermessungen wurden also in der Andeskette 3720 Fuss höher als der Gipfel des Montblanc angestellt. Die Höhe des Montblanc ist im Verhältniss der Gestaltung der Cordilleren so unbeträchtlich, dass in diesen vielbetretene Wege (Pässe) höher liegen, ja selbst der obere Theil der grossen Stadt Potosi dem Gipfel des Montblanc nur um 323 Toisen nachsteht. Ich habe es für nöthig gefunden, diese wenigen numerischen Angaben hier voranzuschicken, um der Phantasie bestimmte Anhaltspunkte für die hypsometrische, gleichsam plastische Betrachtung der Erdoberfläche darbieten zu können. Das Erreichen grosser Höhen ist von geringem wissenschaftlichen Interesse, wenn dieselben weit über der Schneegrenze liegen, und nur auf wenige Stunden besucht werden können. Unmittelbare Höhenbestimmungen durch das Barometer gewähren zwar den Vortheil schnell zu erhaltender Resultate, doch sind die Gipfel meist nahe mit Hochebenen umgeben, die zu einer trigonometrischen Operation geeignet sind, und in denen alle Elemente der Messung wiederholt geprüft werden können, während eine einmalige Bestimmung mittelst des Barometers, wegen auf- und absteigender Luftströme am Abhange des Gebirgstockes und wegen dadurch erzeugter Variation in der Temperaturabnahme, beträchtliche Fehler in den Resultaten erzeugt. Die Natur des Gesteins ist wegen der ewigen Schneedecke der geognostischen Beobachtung fast gänzlich entzogen, da nur einzelne Felsrippen (Grathe) mit sehr verwitterten Schichten hervortreten. Das organische Leben ist in diesen hohen Einöden der Erdfläche erstorben. Kaum verirren sich in die dünnen Schichten des Luftkreises der Berggeier (Condor) und geflügelte Insecten, letztere unwillkürlich von Luftströmen gehoben. Wenn ein ernstes wissenschaftliches Interesse kaum noch der Bemühung reisender Physiker, die die höhern Gipfel der Erde zu ersteigen streben, geschenkt wird, so hat sich dagegen im allgemeinen Volkssinne ein reger Antheil an einer solchen Bemühung erhalten. Das, was unerreichbar scheint, hat eine geheimnissvolle Ziehkraft; man will, dass alles erspähet, dass wenigstens versucht werde, was nicht errungen werden kann. Der Chimborazo ist der ermüdende Gegenstand aller Fragen gewesen, die seit meiner ersten Rückkunft nach Europa an mich gerichtet wurden. Die Ergründung der wichtigsten Naturgesetze, die lebhafteste Schilderung der Pflanzenzonen und der, die Objecte des Ackerbaues bestimmenden Verschiedenheit der Klimate, welche schichtenweise über einander liegen, waren selten fähig, die Aufmerksamkeit von dem schneebedeckten Gipfel abzulenken den man damals noch (vor Pentlands Reise nach Bolivia) für den Culminationspunkt der gangartig ausgedehnten Andeskette hielt. Ich werde hier aus dem noch ungedruckten Theile meiner Tagebücher die einfache Erzählung einer Bergreise ausziehen. Das ganze Detail der trigonometrischen Messung, die ich bei dem Neuen Riobamba in der Ebene von Tapia angestellt habe, ist in der Einleitung zu dem ersten Bande meiner astronomischen Beobachtungen bald nach meiner Rückkunft bekannt gemacht worden. Die Geographie der Pflanzen an dem Abhange des Chimborazo und dem ihm nahen Gebirge (von dem Meeresufer an bis 14800 Fuss Höhe) nach Kunths vortrefflichen Bestimmungen der von Bonpland und mir gesammelten Alpengewächse der Cordilleren, habe ich auf einer Tafel meines geographischen und physikalischen Atlasses von Südamerika bildlich darzustellen versucht. Die Geschichte der Ersteigung selbst, die wenig dramatisches Interesse darbieten kann, war dem vierten und letzten Bande meiner Reise nach den Aequinoctialgegenden vorbehalten. Da aber mein vieljähriger Freund, Herr Boussingault, jetzt Professor der Chemie in Lyon, einer der talentvollsten und gelehrtesten Reisenden neuerer Zeit, vor Kurzem auf meine Bitte, sein dem meinen sehr ähnlichen Unternehmen in den Annales de Chimie et de Physique beschrieben hat, und da unsere Beobachtungen sich gegenseitig ergänzen, so wird dies einfache Fragment eines Tagebuchs, das ich hier bekannt mache, sich wohl einer nachsichtsvollen Aufnahme zu erfreuen haben. Allen umständlicheren geognostischen und physikalischen Discussionen werde ich mich vorläufig enthalten. S. auch Poggendorffs Ann. d. Physik, B. XXXIV. S. 193-220. Den 22. Junius 1799 war ich im Crater des Pic von Teneriffa gewesen, 3 Jahre darauf, fast an demselben Tage (den 23. Junius 1802), gelangte ich 6700 Fuss höher bis nahe an den Gipfel des Chimborazo. Nach einem langen Aufenthalte in dem Hochlande von Quito, einer der wundervollsten und malerischsten Gegenden der Erde, unternahmen wir die Reise nach den Chinawäldern von Loxa, dem oberen Laufe des Amazonenflusses, westlich von der berühmten Stromenge (Pongo de Manseriche) und durch die sandige Wüste längst dem peruanischen Ufer der Südsee nach Lima, wo der Durchgang des Merkur durch die Sonnenscheibe (am 9. November 1802) beobachtet werden sollte. Wir genossen mehrere Tage lang, auf der mit Bimstein bedeckten Ebene, in der man (nach dem furchtbaren Erdbeben vom 4. Februar 1797) die neue Stadt Riobamba zu gründen anfing, einer herrlichen Ansicht des glocken- oder domförmigen Gipfels des Chimborazo bei dem heitersten, eine trigonometrische Messung begünstigenden, Wetter. Durch ein grosses Fernrohr hatten wir den noch 15700 Toisen entfernten Schneemantel des Berges durchforscht und mehrere Felsgrathe entdeckt, die wie dürre schwarze Streifen aus dem ewigen Schnee hervorragend, dem Gipfel zuliefen und einige Hoffnung gaben, dass man auf ihnen in der Schneeregion festen Fuss würde fassen können. Riobamba Nuevo liegt im Angesicht des ungeheuren jetzt zackigen Gebirgsstocks Capac-Urcu, von den Spaniern el Altar genannt, der (laut einer Tradition der Eingebornen) einst höher als der Chimborazo war, und, nachdem er viele Jahre lang gespieen, einstürzte. Dieses Schrecken verbreitende Naturereigniss fällt in die Zeit kurz vor der Eroberung von Quito durch den Inca Tupac-Yupanqui. Riobamba Nuevo ist nicht mit dem alten Riobamba der grossen Karte von La Condamine und Don Pedro Maldonado zu verwechseln. Letztere Stadt ist gänzlich zerstört worden durch die grosse Catastrophe vom 4. Februar 1797, die in wenigen Minuten über 45000 Menschen tödtete. Das neue Riobamba liegt, nach meiner Chronometerbestimmung, 42 Zeitsecunden östlicher als das alte Riobamba, aber fast unter derselben Breite (1° 41' 46" südlich. Wir befanden uns in der Ebene von Tapia, aus der wir am 22. Junius unsere Expedition nach dem Chimborazo antraten, schon 8898 Pariser Fuss (1483 Toisen) hoch über dem Spiegel der Südsee. Diese Hochebene, ein Theil des Thalbodens zwischen der östlichen und westlichen Andeskette (der Kette der thätigen Vulkane Cotopaxi und Tungurahua und der Kette des Iliniza und Chimborazo) verfolgten wir sanft ansteigend bis an den Fuss des letzteren Berges, wo wir im indischen Dorfe Calpi übernachten sollten. Sie ist sparsam mit Cactusstämmen und Schinus molle, der einer Trauerweide gleicht, bedeckt. Heerden buntgefärbter Llamas suchen hier zu Tausenden eine sparsame Nahrung. Auf einer so grossen Höhe schadet die starke nächtliche Wärmestrahlung des Bodens, bei wolkenlosem Himmel, dem Ackerbau durch Erkältung und Frost. Ehe wir Calpi erreichten, besuchten wir Lican, jetzt ebenfalls ein kleines Dorf, aber vor der Eroberung des Landes durch den eilften Inca, (denselben Tupac-Yupanqui, dessen wohlerhaltenen Körper Garcilasso de la Vega noch 1559 in der Familiengruft zu Cuzco gesehen hatte) eine beträchtliche Stadt und der Aufenthaltsort des Conchocando oder Fürsten der Puruay. Die Eingebornen glauben, dass die kleine Zahl wilder Llamas, die man am westlichen Abfall des Chimborazo findet, nur verwildert sind und von den, nach der Zerstörung des alten Lican zerstreuten und flüchtig gewordenen Heerden abstammen. Also 2890 Meter; Boussingault fand 2870 Meter und nach der Erdwärme die mittlere Temperatur der Hochebene von Tapia 16°,4 C. Ganz nahe bei Calpi, nordwestlich von Lican, erhebt sich in der dürren Hochebene ein kleiner isolirter Hügel, der schwarze Berg, Yana-Urcu, dessen Name von den französischen Akademikern nicht genannt worden ist, der aber in geognostischer Hinsicht viel Aufmerksamkeit verdient. Der Hügel liegt südsüdöstlich vom Chimborazo, in weniger als drei Meilen (15 auf 1°) Entfernung und von jenem Colosse nur durch die Hochebene von Luisa getrennt. Will man in ihm auch nicht einen Seitenausbruch dieses Colosses erkennen, so ist der Ursprung dieses Eruptionskegels doch gewiss den unterirdischen Mächten zuzuschreiben, die unter dem Chimborazo Jahrtausende lang vergeblich einen Ausweg gesucht haben. Er ist späteren Ursprungs, als die Erhebung des grossen glockenförmigeren Berges. Der Yana-Urcu bildet mit dem nördlicheren Hügel Naguangachi eine zusammenhängende Anhöhe, in Form eines Hufeisens; der Bogen (mehr als Halbzirkel) ist gegen Osten geöffnet. Wahrscheinlich liegt in der Mitte des Hufeisens der Punkt, aus dem die schwarzen Schlacken ausgestossen werden, die jetzt weit umher verbreitet sind. Wir fanden dort eine trichterförmige Senkung von etwa 120 Fuss Tiefe, in deren Innerem ein kleiner runder Hügel steht, dessen Höhe den umgebenden Rand nicht erreicht. Yana-Urcu heisst eigentlich der südliche Culminationspunkt des alten Craterrandes, der höchstens 400 Fuss über der Fläche von Calpi erhaben ist. Naguangachi heisst das nördliche niedere Ende. Die ganze Anhöhe erinnert durch ihre Hufeisenform, aber nicht durch ihr Gestein, an den etwas höheren Hügel Javirac (el Panecillo de Quito), der sich isolirt am Fusse des Vulkan Pichincha in der Ebene von Turubamba erhebt, und der auf La Condamine's oder vielmehr Morainville's Karte irrig als ein vollkommener Kegel abgebildet ist. Nach der Tradition der Eingebornen und nach alten Handschriften, welche der Cacike oder Apu von Lican, ein Abkömmling der alten Fürsten des Landes, (der Conchocandi) besass, ist der vulkanische Ausbruch des Yana-Urcu gleich nach dem Tode des Inca Tupa-Yupanqui, also wohl in der Mitte des 15ten Jahrhunderts erfolgt. Die Tradition sagt, es sey eine Feuerkugel oder gar ein Stern vom Himmel gefallen und habe den Berg entzündet. Solche Mythen, welche Aerolithenfälle mit Entzündungen in Verbindung setzen, sind auch unter den mexikanischen Völkerstämmen verbreitet. Das Gestein des Yana-Urcu ist eine poröse, dunkel nelkenbraune, oft ganz schwarze schlackige Masse, die man leicht mit porösem Basalt verwechseln kann. Olivin fehlt gänzlich daran. Die weissen sehr sparsam darin liegenden Krystalle sind überaus klein und wahrscheinlich Labrador. Hier und da sah ich Schwefelkies eingesprengt. Das Ganze gehört wohl dem schwarzen Augit-Porphyr an, wie die ganze Formation des Chimborazo, von dem wir unten reden werden, und der ich nicht den Namen Trachyt geben mag, da sie keinen Feldspath (mit etwas Albit) wie unser Trachyt des Siebengebirges bei Bonn enthält. Die schlackenartigen, durch ein sehr thätiges Feuer veränderten Massen des Yana-Urcu sind zwar überaus leicht, aber eigentlicher Bimstein ist dort nicht ausgeworfen worden. Der Ausbruch ist durch eine graue, unregelmässig geschichtete Masse von Dolerit geschehen, der hier die Hochebene bildet und dem Gestein von Penipe (am Fuss des Vulkans von Tungurahua) ähnlich ist, wo Syenit und granathaltiger Glimmerschiefer durchbrochen worden sind. Am östlichen Abhange des Yana-Urcu, oder vielmehr am Fuss des Hügels gegen Lican zu, führten uns die Eingebornen an einen vorspringenden Fels, an dem eine Oeffnung dem Mundloch eines verfallenen Stollens glich. Man hört hier und auch schon in zehn Fuss Entfernung ein heftiges unterirdisches Getöse, das von einem Luftstrome oder unterirdischen Winde begleitet ist. Die Luftströmung ist viel zu schwach um ihr allein das Getöse zuzuschreiben. Letzteres entsteht gewiss durch einen unterirdischen Bach, der in eine tiefere Höhle herabstürzt und durch seinen Fall die Luftbewegung erregt. Ein Mönch, Pfarrer in Calpi, hatte in derselben Meinung den Stollen auf einer offenen Kluft vor langer Zeit angesetzt, um seinem Dorfe Wasser zu verschaffen. Die Härte des schwarzen Augitgesteins hat wahrscheinlich die Arbeit unterbrochen. Der Chimborazo sendet trotz seiner ungeheuren Schneemasse so wasserarme Bäche in die Hochebene herab, dass man wohl annehmen kann, der grössere Theil seiner Wasser fliesse auf Klüften dem Inneren zu. Auch in dem Dorfe Calpi selbst hörte man ehemals ein grosses Getöse unter einem Hause, das keine Keller hatte. Vor dem berühmten Erdbeben vom 4. Februar 1797 entsprang im Südwesten des Dorfes ein Bach an einem tieferen Punkte. Viele Indianer hielten denselben für einen Theil der Wassermasse die unter dem Yana-Urcu fliesst. Seit dem grossen Erdbeben ist aber dieser Bach wiederum verschwunden. Nachdem wir die Nacht in Calpi, nach meiner Barometermessung 9720 Fuss (1620 Toisen) hoch über dem Meere zugebracht hatten, begannen wir am 23ten Morgens unsere eigentliche Expedition nach dem Chimborazo. Wir versuchten den Berg von der südsüdöstlichen Seite zu ersteigen und die Indianer, die uns zu Führern dienen sollten, von denen aber nur wenige je bis zur Grenze des ewigen Schnees gelangt waren, gaben dieser Richtung des Weges ebenfalls den Vorzug. Wir fanden den Chimborazo mit grossen Ebenen, die stufenweise über einander liegen, umgeben. Zuerst durchschritten wir die Llanos de Luisa, dann, nach einem nicht sehr steilen Ansteigen von kaum 5000 Fuss Länge, gelangten wir in die Hochebene (Llano) von Sisgun. Die erste Stufe ist 10200, die zweite 11700 Fuss hoch. Diese mit Gras bewachsenen Ebenen erreichen also die eine den höchsten Gipfel der Pyrenäen (den Pic Nethou), die andere den Gipfel des Vulkans von Teneriffa. Die vollkommene Söligkeit (Horizontalität) dieser Hochebenen lassen auf einen langen Aufenthalt stehender Wasser schliessen. Man glaubt einen Seeboden zu sehen. An dem Abhange der Schweizer Alpen bemerkt man bisweilen auch dies Phänomen stufenweise übereinander liegender kleiner Ebenen, welche wie abgelaufene Becken von Alpenseen jetzt durch enge offene Pässe verbunden sind. Die weit ausgedehnten Grasfluren (los Pajonales) sind am Chimborazo, wie überall um die hohen Gipfel der Andeskette, so einförmig, dass die Familie der Gräser (Arten von Paspalum, Andropogon, Bromus, Dejeuxia, Stipa) selten von Kräutern dicotyledonischer Pflanzen unterbrochen werden. Es ist fast die Steppennatur, die ich in dem dürren Theile des nördlichen Asiens gesehen habe. Die Flora des Chimborazo hat uns überhaupt minder reich geschienen als die Flora der andern Schneeberge, welche die Stadt Quito umgeben. Nur wenige Calceolarien, Compositen, (Bidens, Eupatorium, Dumerilia paniculata, Werneria nubigena) und Gentianen, unter denen die schöne Gentiana cernua mit purpurrothen Blüthen hervorleuchtet, erheben sich in der Hochebene von Sisgun zwischen den gesellig wachsenden Gräsern. Diese gehören, der grössten Zahl nach, nordeuropäischen Geschlechtern an. Die Lufttemperatur, die gewöhnlich in dieser Region der Alpengräser (in 1600 und 2000 Toisen Höhe) herrscht, schwankt bei Tage zwischen 4° und 16° Ct., bei Nacht zwischen 0° und 10°. Die mittlere Temperatur des ganzen Jahres scheint für die Höhe von 1800 Toisen nach der von mir in der Nähe des Aequators gesammelten Beobachtungen, ohngefähr 9° zu sein. In dem Flachlande der temperirten Zone ist dies die mittlere Temperatur des nördlichen Deutschlands, z. B. von Lüneburg (Breite 53° 15'), wo aber die Wärmevertheilung unter die einzelnen Monate (das wichtigste Element zur Bestimmung des Vegetationscharakters einer Gegend) so ungleich ist, dass der Februar -- 1°,8 der Julius + 18° mittlerer Wärme hat. Alle Temperaturen sind in diesem Aufsatze nach Graden des hunderttheiligen Thermometers ausgedrückt. Mein Plan war, in der schönen ganz ebenen Grasflur von Sisgun eine trigonometrische Operation anzustellen. Ich hatte mich dazu vorbereitet, dort eine Standlinie zu messen. Die Höhenwinkel wären sehr beträchtlich ausgefallen, da man dem Gipfel des Chimborazo nahe ist. Es blieb nur noch eine senkrechte Höhe von weniger als 8400 Fuss (eine Höhe, wie der Canigou in den Pyreneen) zu bestimmen übrig. Bei der ungeheuren Masse der einzelnen Berge in der Andeskette ist doch jede Bestimmung der Höhe über der Meeresfläche aus einer barometrischen und trigonometrischen zusammengesetzt. Ich hatte den Sextanten und andere Messinstrumente vergeblich mitgenommen. Der Gipfel des Chimborazo blieb in dichtem Nebel gehüllt. Aus der Hochebene von Sisgun steigt man ziemlich steil bis zu einem kleinen Alpensee (Laguna de Yana-Coche) an. Bis dahin war ich auf dem Maulthiere geblieben und nur von Zeit zu Zeit abgestiegen, um mit meinem Reisegefährten, Herrn Bonpland, Pflanzen zu sammeln. Yana-Coche verdient nicht den Namen eines Sees. Es ist ein cirkelrundes Becken von kaum 130 Fuss Durchmesser. Der Himmel wurde immer trüber, aber zwischen und über den Nebelschichten, lagen noch einzelne Wolkengruppen zerstreut. Der Gipfel des Chimborazo erschien auf wenige Augenblicke. Da in der letzten Nacht viel Schnee gefallen war, so verliess ich das Maulthier da, wo wir die untere Grenze dieses frischgefallenen Schnees fanden, eine Grenze, die man nicht mit der ewigen Schneegrenze verwechseln muss. Das Barometer zeigte, dass wir erst 13500 Fuss hoch gelangt waren. Auf anderen Bergen habe ich, ebenfalls dem Aequator nahe, bis zu 11200 Fuss Höhe schneien sehen, doch nicht tiefer. Meine Begleiter ritten noch bis zur perpetuirlichen Schneegrenze, das ist bis zur Höhe des Montblanc, der bekanntlich unter dieser Breite (1° 27' südl.) nicht immer mit Schnee bedeckt seyn würde. Dort blieben unsere Pferde und Maulthiere stehen, um uns bis zur Rückkunft zu erwarten. Ein hundert und fünfzig Toisen über dem kleinen Wasserbecken Yana-Coche, sahen wir endlich nacktes Gestein. Bis dahin hatte die Grasflur jeder geognostischen Untersuchung den Boden entzogen. Grosse Felsmauern, von Nordost nach Südwest streichend, zum Theil in unförmliche Säulen gespalten, erhoben sich aus der ewigen Schneedecke, ein bräunlich schwarzes Augitgestein, glänzend wie Pechstein-Porphyr. Die Säulen waren sehr dünne, wohl 50 bis 60 Fuss hoch fast wie die Trachyt-Säulen des Tabla- Uma am Vulkan Pichincha. Eine Gruppe stand einzeln und erinnerte in der Ferne fast an Masten- und Baumstämme. Die steilen Mauern führten uns, durch die Schneeregion, zu einem gegen den Gipfel gerichteten schmalen Grath, einem Felskamm, der es uns allein möglich machte, vorzudringen, denn der Schnee war damals so weich, dass man fast nicht wagen konnte, seine Oberfläche zu betreten. Der Kamm bestand aus sehr verwittertem bröckligen Gestein. Es war oft zellig, wie ein basaltartiger Mandelstein. Der Pfad wurde immer schmaler und steiler. Die Eingebornen verliessen uns alle bis auf einen in der Höhe von 15600 Fuss. Alle Bitten und Drohungen waren vergeblich. Die Indianer behaupteten von Athemlosigkeit mehr als wir zu leiden. Wir blieben allein, Bonpland, unser liebenswürdiger Freund, der jüngere Sohn des Marques de Selvalegre, Carlos Montufar, der in dem späteren Freiheitskampfe (auf General Morillo's Befehl) erschossen wurde, ein Mestize aus dem nahen Dorfe San Juan und ich. Wir gelangten mit grosser Anstrengung und Geduld höher als wir hoffen durften, da wir meist ganz in Nebel gehüllt waren. Der Kamm (im Spanischen sehr bedeutsam Cuchilla, gleichsam Messerrücken genannt) hatte oft nur die Breite von acht bis zehn Zoll; zur Linken war der Absturz mit Schnee bedeckt, dessen Oberfläche durch Frost wie verglaset erschien. Die dünneisige Spiegelfläche hatte gegen 30° Neigung. Zur Rechten senkte sich unser Blick schaurig in einen achthundert oder tausend Fuss tiefen Abgrund, aus dem schneelose Felsmassen senkrecht hervorragten. Wir hielten den Körper immer mehr nach dieser Seite hin geneigt, denn der Absturz zur linken schien noch gefahrdrohender, weil sich dort keine Gelegenheit darbot, sich mit den Händen an zackig vorstehendem Gesteine festzuhalten und weil dazu die dünne Eisrinde nicht vor dem Untersinken im lockeren Schnee sicherte. Nur ganz leichte poröse Doleritstücke konnten wir auf dieser Eisrinde herabrollen lassen. Die geneigte Schneefläche war so ausgedehnt, dass wir die Steine früher aus dem Gesichte verloren, als sie zur Ruhe kamen. Der Mangel von Schnee sowohl auf der Grate, die uns leitete, als auf den Felsen zu unserer Rechten gegen Osten, darf weniger der Steilheit der Gesteinmassen und dem Windstosse, als offenen Klüften zuzuschreiben seyn, welche die warme Luft der tiefern Erdschichten aushauchen. Bald fanden wir das weitere Steigen dadurch schwieriger, dass die Bröcklichkeit des Gesteins beträchtlich zunahm. An einzelnen sehr steilen Staffeln musste man die Hände und Füsse zugleich anwenden, wie dies bei allen Alpenreisen so gewöhnlich ist. Da das Gestein sehr scharfkantig war, so wurden wir, besonders an den Händen, schmerzhaft verletzt. In noch höherem Maasse haben wir, Leopold von Buch und ich, nahe am Crater des obsidianreichen Pics von Teneriffa von diesen Verletzungen gelitten. Ich hatte dazu (wenn es anders einem Reisenden erlaubt ist, so unwichtige Einzelnheiten zu erwähnen), seit mehreren Wochen eine Wunde am Fusse, die durch die Anhäufung der Niguas (Pulex penetrans) veranlasst und durch feinen Staub von Bimsstein, bei Messungen im Llano de Tapia, sehr vermehrt worden war. Der geringe Zusammenhang des Gesteins auf dem Kamm machte nun grössere Vorsicht nöthig, da viele Massen, die wir für anstehend hielten, lose in Sand gehüllt lagen. Wir schritten hinter einander und um so langsamer fort, als man die Stellen prüfen musste, die unsicher schienen. Glücklicherweise war der Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu erreichen, die letzte unserer Bergreisen in Südamerika, daher die früher gesammelten Erfahrungen uns leiten und mehr Zuversicht auf unsere Kräfte geben konnten. Es ist ein eigener Charakter aller Excursionen in der Andeskette, dass oberhalb der ewigen Schneegrenze weisse Menschen sich in den bedenklichsten Lagen stets ohne Führer, ja ohne alle Kenntniss der Oertlichkeit befinden. Man ist hier überall zuerst. Der Sandfloh, la Chique der französischen Colonisten von Westindien, ein Insect, das sich unter die Haut des Menschen eingräbt, und, da der Eiersack des befruchteten Weibchens beträchtlich anschwillt, Entzündung erregt. Wir konnten den Gipfel auch auf Augenblicke nicht mehr sehen, und waren daher doppelt neugierig zu wissen, wie viel uns zu ersteigen übrig bleiben möchte. Wir öffneten das Gefässbarometer an einem Punkte, wo die Breite des Kammes erlaubte, dass zwei Personen bequem neben einander stehen konnten. Wir waren erst 17300 Fuss hoch, also kaum zweihundert Fuss höher, als wir drei Monate zuvor, einen ähnlichen Kamm erklimmend, auf dem Antisana gewesen waren. Es ist mit Höhenbestimmungen bei dem Bergsteigen, wie mit Wärmebestimmungen im heissen Sommer. Man findet mit Verdruss das Thermometer nicht so hoch, den Barometerstand nicht so niedrig, als man es erwartete. Da die Luft, trotz der Höhe, ganz mit Feuchtigkeit gesättigt war, so trafen wir nun das lose Gestein und den Sand, der die Zwischenräume desselben ausfüllt, überaus nass. Die Luft war noch 2°,8 über dem Gefrierpunkt. Kurz vorher hatten wir an einer trocknen Stelle, das Thermometer drei Zoll tief in den Sand eingraben können. Es hielt sich auf + 5°,8. Das Resultat dieser Beobachtung, die ohngefähr in 2860 Toisen Höhe angestellt wurde, ist sehr merkwürdig, denn bereits 400 Toisen tiefer, an der Grenze des ewigen Schnees, ist nach vielen und sorgfältig von Boussingault und mir gesammelten Beobachtungen die mittlere Wärme der Atmosphäre nur + 1°,6. Die Temperatur der Erde zu + 5°,8 muss daher der unterirdischen Wärme des Doleritberges, ich sage nicht der ganzen Masse, sondern den aus dem Inneren aufsteigenden Luftströmen zugeschrieben werden. Nach einer Stunde vorsichtigen Klimmens wurde der Felskamm weniger steil, aber leider! blieb der Nebel gleich dick. Wir fingen nun nach und nach an, alle an grosser Ueblichkeit zu leiden. Der Drang zum Erbrechen war mit etwas Schwindel verbunden und weit lästiger als die Schwierigkeit zu athmen. Ein farbiger Mensch (Mestize aus San Juan) hatte uns bloss aus Gutmüthigkeit keinesweges aber in eigennütziger Absicht, nicht verlassen wollen. Es war ein kräftiger, armer Landmann, der mehr litt, als wir. Wir bluteten aus dem Zahnfleisch und aus den Lippen. Die Bindehaut (tunica conjunctiva) der Augen war bei allen ebenfalls mit Blut unterlaufen. Diese Symptome der Extravasate in den Augen, des Blutausschwitzens am Zahnfleisch und an den Lippen, hatten für uns nichts Beunruhigendes, da wir aus mehrmaliger früherer Erfahrung damit bekannt waren. In Europa hat Herr Zumstein schon auf einer weit geringern Höhe am Monte Rosa zu bluten angefangen. Spanische Krieger kamen bei Eroberung der Aequinoctialregion von Amerika (während der Conquista) nicht über die untere Grenze des ewigen Schnees, also wenig über die Höhe des Montblanc hinaus, und doch spricht schon Acosta in seiner Historia natural de las Indias, einer Art physischer Erdbeschreibung, die man ein Meisterwerk des 16ten Jahrhunderts nennen kann, umständlich "von Ueblichkeiten und Magenkrampf" als schmerzhaften Symptomen der Bergkrankheit, die darin der Seekrankheit analog ist. Auf dem Vulcan von Pichincha fühlte ich einmal, ohne zu bluten, ein so heftiges Magenübel von Schwindel begleitet, dass ich besinnungslos auf der Erde gefunden wurde, als ich mich eben auf einer Felsmauer über der Schlucht von Verde-Cuchu, von meinen Begleitern getrennt hatte, um electrometrische Versuche an einem recht freien Punkte anzustellen. Die Höhe war gering, unter 13800 Fuss. Am Antisana aber, auf der beträchtlichen Erhebung von 17022 Fuss, blutete unser junge Reisegefährte Don Carlos Montufar sehr stark aus den Lippen. Alle diese Erscheinungen sind nach Beschaffenheit des Alters, der Constitution, der Zartheit der Haut, der vorhergegangenen Anstrengung der Muskelkraft sehr verschieden, doch für einzelne Individuen sind sie eine Art Maass der Luftverdünnung und absoluten Höhe, zu welcher man gelangt ist. Nach meinen Beobachtungen in den Cordilleren zeigen sie sich an weissen Menschen bei einem Barometerstande zwischen 14 Zoll und 15 Zoll 10 Linien. Es ist bekannt, dass die Angaben der Höhen, zu denen die Luftschiffer behaupten sich erhoben zu haben, gewöhnlich wenig Glauben verdienen, und wenn ein sicherer und überaus genauer Beobachter, Herr Gay-Lussac, der am 16ten September 1804 die ungeheure Höhe von 21600 Fuss erreichte, (also zwischen den Höhen des Chimborazo und des Illimani) kein Bluten erlitt, so ist dies vielleicht dem Mangel der Muskelbewegung zuzuschreiben. Nach dem jetzigen Stande der Eudiometrie erscheint die Luft in jenen hohen Regionen eben so sauerstoffreich als in den unteren; aber da in dieser dünnen Luft, bei der Hälfte des Barometerdrucks, dem wir gewöhnlich in den Ebenen ausgesetzt sind, bei jedem Athemzuge, eine geringere Menge Sauerstoff von dem Blute aufgenommen wird, so ist allerdings begreiflich, wie ein allgemeines Gefühl der Schwäche eintreten kann. Warum diese Asthenie, wie im Schwindel, vorzugsweise Ueblichkeit und Lust zum Erbrechen erregt, ist hier nicht zu erörtern, so wenig als zu beweisen, dass das Ausschwitzen des Blutes (das Bluten aus Lippen, Zahnfleisch und Augen), was auch nicht alle Individuen auf so grossen Höhen erfahren, keinesweges durch Aufhebung eines "mechanischen Gegendrucks" auf das Gefäss-System befriedigend erklärt werden kann. Es wäre vielmehr die Wahrscheinlichkeit des Einflusses eines verminderten Luftdruckes auf Ermüdung bei Bewegung der Beine in sehr luftdünnen Regionen zu untersuchen, da, nach der denkwürdigen Entdeckung zweier geistreichen Forscher, Wilhelm und Eduard Weber, das schwebende Bein, am Rumpfe hangend, bloss durch den Druck der atmosphärischen Luft gehalten und getragen wird. Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. 1836. §. 64. S. 147--160. Neuere, von den Gebrüdern Weber zu Berlin angestellte Versuche haben den Satz: dass das Bein in der Beckenpfanne von dem Druck der atmosphärischen Luft getragen wird, vollkommen bestätigt. Die Nebelschichten, die uns hinderten entfernte Gegenstände zu sehen, schienen plötzlich, trotz der totalen Windstille, vielleicht durch elektrische Processe, zu zerreissen. Wir erkannten einmal wieder, und zwar ganz nahe, den domförmigen Gipfel des Chimborazo. Es war ein ernster grossartiger Anblick. Die Hoffnung, diesen ersehnten Gipfel zu erreichen, belebte unsere Kräfte aufs neue. Der Felskamm, der nur hier und da mit dünnen Schneeflocken bedeckt war, wurde etwas breiter; wir eilten sicheren Schrittes vorwärts, als auf einmal eine Art Thalschlucht von etwa 400 Fuss Tiefe und 60 Fuss Durchmesser unserem Unternehmen eine unübersteigliche Grenze setzte. Wir sahen deutlich jenseits des Abgrundes unseren Felskamm in derselben Richtung fortsetzen, doch zweifle ich, dass er bis zum Gipfel selbst führt. Die Kluft war nicht zu umgehen. Am Antisana konnte freilich Herr Bonpland nach einer sehr kalten Nacht, eine beträchtliche Strecke des ihn tragenden Schnees durchlaufen. Hier war der Versuch nicht zu wagen, wegen Lockerheit der Masse; auch machte die Form des Absturzes das Herabklimmen unmöglich. Es war 1 Uhr Mittags. Wir stellten mit vieler Sorgfalt das Barometer auf, es zeigte 13 Z. 112/10 L. Die Temperatur der Luft war nun 1°,6 unter dem Gefrierpunkt, aber nach einem mehrjährigen Aufenthalt in den heissesten Gegenden der Tropenwelt schien uns diese geringe Kälte erstarrend. Dazu waren unsere Stiefel ganz von Schneewasser durchzogen, denn der Sand, der bisweilen den Grath bedeckte, war mit altem Schnee vermengt. Wir hatten nach der La Place'schen Barometerformel, eine Höhe von 3016 Toisen, genauer von 18097 Pariser Fuss erreicht. Wäre La Condamine's Angabe der Höhe des Chimborazo, wie sie auf der noch in Quito, im Jesuiter- Collegio, aufbewahrten Steintafel aufgezeichnet ist, die richtige, so fehlten uns noch bis zum Gipfel senkrecht 1224 Fuss oder die dreimalige Höhe der Peterskirche zu Rom. La Condamine und Bouguer sagen ausdrücklich, dass sie am Chimborazo nur bis 2400 Toisen Höhe gelangt waren, aber am Corazon, einem der malerischsten Schneeberge (Nevados) in der nahen Umgebung von Quito, rühmen sie sich das Barometer auf 15 Zoll 10 Linien gesehen zu haben. Sie sagen, dies sey "ein tieferer Stand als je ein Mensch bisher habe beobachten können." An dem oben beschriebenen Punkte des Chimborazo war der Luftdruck um fast zwei Zoll geringer, geringer auch, als da, wo sechzehn Jahre später, 1818, sich Capitain Gerard am höchsten im Himalayagebirge, auf dem Tarhigang erhoben hat. In einer Taucherglocke bin ich in England einem Luftdruck von 45 Zoll fast eine Stunde lang ausgesetzt gewesen. Die Flexibilität der menschlichen Organisation erträgt demnach Veränderungen im Barometerstande, die 31 Zoll betragen. Doch sonderbar möchte die physische Constitution des Menschengeschlechts allmälig umgewandelt werden, wenn grosse kosmische Ursachen solche Extreme der Luftverdünnung oder Luftverdichtung permanent machten. Wir blieben kurze Zeit in dieser traurigen Einöde, bald wieder ganz in Nebel gehüllt. Die feuchte Luft war dabei unbewegt. Keine