Bruchſtücke aus der Rede Alexander’s v. Humboldt bey Eröffnung der Verſammlung deutſcher Naturforſcher u. Aerzte in Berlin, am 28. Sept. 1828 Eine allgemeine Ueberſicht der Verhandlungen des Vereins in Berlin enthält Nr. 275 d. Bl. d. R. Allg. Anz. d. D. 2. B. 1828. Von dem heitern Neckarlande, wo Kepler und Schiller geboren wurden, bis zu dem letzten Saume der baltiſchen Ebenen; von dieſen bis gegen den Ausfluß des Rheins, wo, unter dem wohlthätigen Einfluß des Welthandels, ſeit Jahrhunderten die Schätze einer exotiſchen Natur geſammelt und erforſcht wurden, ſind, von gleichem Eifer beſeelt, von einem ernſten Gedanken geleitet, Freunde der Natur zu dieſem Vereine zuſammen geſtrömt. Ueberall, wo die deutſche Sprache ertönt und ihr ſinniger Bau auf den Geiſt und das Gemüth der Völker einwirkt; von dem hohen Alpengebirge Europa’s bis jenſeits der Weichſel, wo, im Lande des Kopernikus, die Sternkunde ſich wieder zu neuem Glanze erhoben ſieht; überall in dem weiten Gebiete deutſcher Nation nennen wir unſer jedes Beſtreben, dem geheimen Wirken der Naturkräfte nachzuſpüren, ſey es in den welten Himmelsräumen, dem höchſten Problem der Mechanik, oder in dem Innern des ſtarren Erdkörpers, oder in dem zart gewebten Netze organiſcher Gebilde. Von edlen Fürſten beſchirmt, hat dieſer Verein alljährlich an Intereſſe und Umfang zugenommen. Jede Entfernung, welche Verſchiedenheit der Religion und bürgerlicher Verfaſſung erzeugen könnte, iſt hier aufgehoben. Deutſchland offenbart ſich gleichſam in ſeiner geiſtigen Einheit; und, wie Erkenntniß des Wahren und Ausübung der Pflicht der höchſte Zweck der Sittlichkeit ſind, ſo ſchwächt jenes Gefühl der Einheit keine der Banden, welche jedem von uns Religion, Verfaſſung und Geſetze der Heimath theuer machen. Eben dieß geſonderte Leben der deutſchen Nation, dieſer Wetteifer geiſtiger Beſtrebungen, riefen (ſo lehrt es die ruhmvolle Geſchichte des Vaterlandes) die ſchönſten Blüthen der Humanität, Wiſfenfchaft und Kunſt hervor. Die Geſellſchaft deutſcher Naturforſcher und Aerzte hat ſeit ihrer letzten Verſammlung, da ſie in München eine ſo gaſtliche Aufnahme fand, durch die ſchmeichelhafte Theilnahme benachbarter Staaten und Academien ſich eines beſonderen Glanzes zu erfreuen gehabt. Stammverwandte Nationen haben den alten Bund erneuen wollen zwiſchen Deutſchland und dem gothiſch ſcandinaviſchen Norden. Eine ſolche Theilnahme verdient um ſo mehr unſere Anerkennung, als ſie der Maſſe von Thatſachen und Meinungen, welche hier in einen allgemeinen, fruchtbringenden Verkehr geſetzt werden, einen unerwarteten Zuwachs gewährt. Auch ruft ſie in das Gedächtniß der Naturkundigen erhebende Erinnerungen zurück. Noch nicht durch ein halbes Jahrhundert von uns getrennt, erſcheint Linné, in der Kühnheit ſeiner Unternehmungen, wie durch das, was er vollendet, angeregt und beherrſcht hat, als eine der großen Geſtalten eines früheren Zeitalters. Sein Ruhm, ſo glänzend er iſt, hat dennoch Europa nicht undankbar gegen Scheele’s und Bergmann’s Verdienſte gemacht. Die Reihe dieſer gefeierten Namen iſt nicht geſchloſſen geblieben; aber in der Furcht, edle Beſcheidenheit zu verletzen, darf ich hier nicht von dem Lichte reden, welches noch jetzt in reichſtem Maße von dem Norden ausgeht; nicht der Entdeckungen erwähnen, welche die innere chemiſche Natur der Stoffe (im numeriſchen Verhältniſſe ihrer Elemente) oder das wirbelnde Strömen der electromagnetiſchen Kräfte enthüllen. Mögen die trefflichen Männer, weiche durch keine Beſchwerden von Land- und Seereiſen abgehalten wurden, aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, England und Polen unſerm Vereine zuzueilen, andern Fremden für kommende Jahre die Bahn bezeichnen, damit wechſelsweiſe jeder Theil des deutſchen Vaterlandes den belebenden Einfluß wiſſenſchaftlicher Mittheilung aus den verſchiedenſten Ländern von Europa genieße. Wenn ich aber im Angeſichte dieſer Verſammlung den Ausdruck meiner perſönlichen Gefühle zurückhalten muß, ſo ſey es mir wenigſtens geſtattet, die Patriarchen vaterländiſchen Ruhmes zu nennen, welche die Sorge für ihr der Nation theueres Leben von uns entfernt hält: Göthe, den die großen Schöpfungen dichteriſcher Phantaſie nicht abgehalten haben, den Forſcherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen, und der jetzt, in ländlicher Abgeſchiedenheit, um ſeinen fürſtlichen Freund, wie Deutſchland um eine ſeiner herrlichſten Zierden, trauert; Olbers, der zwey Weltkörper da entdeckt hat, wo er ſie zu ſuchen gelehrt; den größten Anatomen unſers Zeitalters, Sömmerring, der mit gleichem Eifer die Wunder des organiſchen Baues, wie der Sonnenfackeln und Sonnenflecke (Verdichtungen und Oeffnungen im wallenden Lichtmeere) durchſpäht; Blumenbach, auch meinen Lehrer, der durch ſeine Werke und das belebende Wort überall die Liebe zur vergleichenden Anatomie, Phyſiologie und geſammten Naturkunde angefacht, und wie ein heiliges Feuer länger als ein halbes Jahrhundert ſorgſam gepflegt hat. Konnte ich der Verſuchung widerſtehen, da die Gegenwart ſolcher Männer uns nicht vergönnt iſt, wenigſtens durch Namen, welche die Nachwelt wiederſagen wird, meine Rede zu ſchmücken? Der Hauptzweck dieſer Geſellſchaft iſt die perſönliche Annäherung derer, welche daſſelbe Feld der Wiſſenſchaften bearbeiten; die mündliche und darum mehr anregende Auswechſelung von Ideen, ſie mögen ſich als Thatſachen, Meinungen oder Zweifel darſtellen; die Gründung freundſchaftlicher Verhältniſſe, welche den Wiſſenſchaften Licht, dem Leben heitere Anmuth, den Sitten Duldſamkeit und Milde gewähren. Bey einem Stamme, der ſich zur ſchönſten geiſtigen Individualität erhoben hatte, und deſſen ſpäteſten Nachkommen, wie aus dem Schiffbruche der Völker gerettet, wir noch heute unſere bangen Wünſche weihen, in der Blüthezeit des helleniſchen Alterthums, offenbarte ſich am kräftigſten der Unterſchied zwiſchen Wort und Schrift. Nicht die Schwierigkeit des Ideenverkehrs allein, nicht die Entbehrung einer deutſchen Kunſt, die den Gedanken wie auf Flügeln durch den Raum verbreitet, und ihm lange Dauer verheißt, geboten damals den Freunden der Philoſophie und Naturkunde, Hellas oder die doriſchen und joniſchen Colonien in Großgriechenland und Kleinaſien auf langen Reiſen zu durchwandern. Das alte Geſchlecht kannte den Werth des lebendigen Wortes, den begeiſternden Einfluß, welchen durch ihre Nähe hohe Meiſterſchaft ausübt, und die aufhellende Macht des Geſprächs, wenn es unvorbereitet, frey und ſchonend zugleich das Gewebe wiſſenſchaftlicher Meinungen und Zweifel durchläuft. Entſchleierung der Wahrheit iſt ohne Divergenz der Meinungen nicht denkbar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen Umfange, auf einmahl und von Allen zugleich erkannt wird. Jeder Schritt, der den Naturforſcher ſeinem Ziele zu nähern ſcheint, führt ihn an den Eingang neuer Labyrinthe. Die Maſſe der Zweifel wird nicht gemindert, ſie verbreitet ſich nur wie ein beweglicher Nebelduft über andere und andere Gebiete. Wer golden die Zeit nennt, wo Verſchiedenheit der Anſichten, oder, wie man ſich wol auszudrücken pflegt, der Zwiſt der Gelehrten geſchlichtet ſeyn wird, hat von den Bedürfniſſen der Wiſſenſchaft, von ihrem raſtloſen Fortſchreiten, eben ſo wenig einen klaren Begriff, als Derjenige, welcher in träger Selbſtzufriedenheit ſich rühmt, in der Geognoſie, Chemie oder Phyſiologie ſeit mehreren Jahrzehnten dieſelben Meinungen zu vertheidigen. Die Gründer dieſer Geſellſchaft haben, in wahrem und tiefem Gefühle der Einheit der Natur, alle Zweige des phyſikaliſchen Wiſſens (des beſchreibenden, meſſenden und experimentirenden), innigſt mit einander vereinigt. Die Benennungen: Naturforſcher und Aerzte, ſind daher hier faſt ſynonym. Durch irdiſche Bande und an den Typus niederer Gebilde gekettet, vollendet der Menſch die Reihe höherer Organiſationen. In ſeinem phyſiologiſchen und pathologiſchen Zuſtande bietet er kaum eine eigene Claſſe von Erſcheinungen dar. Was ſich auf dieſen hohen Zweck des ärztlichen Studiums bezieht, und ſich zu allgemeinen naturwiſſenſchaftlichen Anſichten erhebt, gehört vorzugsweiſe für dieſen Verein.