Alexander von Humboldt’s Rede bei Eroͤffnung der Verſammlung deutſcher Naturforſcher und Aerzte. (Berlin, 18. Sept. 1828.) Wenn es mir durch Ihre ehrenvolle Wahl vergönnt iſt, dieſe Verſammlung zu eröffnen; ſo habe ich zuerſt eine Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen. Die Auszeichnung, welche dem zu Theil geworden, der noch nie Ihren denkwürdigen Vereinen beiwohnen konnte, iſt nicht der Lohn wiſſenſchaftlicher Beſtrebungen, einzelner ſchwachen Verſuche, in dem Drange der Erſcheinungen das Beharrende aufzuſinden, aus den ſchwindelnden Tiefen der Natur das dämmernde Licht der Erkenntniß zu ſchöpfen. Ein zarteres Gefühl hat Ihre Aufmerkſamkeit auf mich geleitet. Sie haben ausſprechen wollen, daß ich in vieljähriger Abweſenheit, ſelbſt in einem fernen Welttheile, nach gleichen Zwecken mit Ihnen hinarbeitend, Ihrem Andenken nicht fremd geworden bin. Sie haben meine Rückkunft gleichſam begrüßen wollen, um durch die heiligen Bande des Dankgefühls mich länger und inniger an das gemeinſame Vaterland zu feſſeln. Was aber kann das Bild dieſes gemeinſamen Vaterlandes erfreulicher vor die Seele ſtellen, als die Verſammlung, die wir heute zum erſten Male in unſern Mauern empfangen. Von dem heitern Neckarlande, wo Kepler und Schiller geboren wurden, bis zu dem letzten Saume der baltiſchen Ebenen; von dieſen bis gegen den Ausfluß des Rheins, wo, unter dem wohlthätigen Einfluß des Welthandels, ſeit Jahrhunderten, die Schätze einer exotiſchen Natur geſammelt und erforſcht wurden, ſind, von gleichem Eifer beſeelt, von einem ernſten Gedanken geleitet, Freunde der Natur zu dieſem Vereine zuſammengeſtrömt. Ueberall, wo die deutſche Sprache ertönt, und ihr ſinniger Bau auf den Geiſt und das Gemüth der Völker einwirkt; von dem hohen Alpengebirge Europa’s, bis jenſeits der Weichſel, wo, im Lande des Copernicus, die Sternkunde ſich wieder zu neuem Glanz erhoben ſieht; überall in dem weiten Gebiete deutſcher Nation, nennen wir unſer jedes Beſtreben, dem geheimen Wirken der Naturkräfte nachzuſpüren, ſei es in den weiten Himmelsräumen, dem höchſten Problem der Mechanik, oder in dem Innern des ſtarken Erdkörpers, oder in dem zartgewebten Netze organiſcher Gebilde. Von edlen Fürſten beſchirmt, hat dieſer Verein alljährig an Intereſſe und Umfang zugenommen. Jede Entfernung, welche Verſchiedenheit der Religion und bürgerlicher Verfaſſung erzeugen könnten, iſt hier aufgehoben. Deutſchland offenbart ſich gleichſam in ſeiner geiſtigen Einheit; und, wie Erkenntniß des Wahren und Ausübung der Pflicht der höchſte Zweck der Sittlichkeit ſind; ſo ſchwächt jenes Gefühl der Einheit keine der Banden, welche jedem von uns Religion, Verfaſſung und Geſetze der Heimath theuer machen. Eben dies geſonderte Leben der deutſchen Nation, dieſer Wetteifer geiſtiger Beſtrebungen, riefen (ſo lehrt es die ruhmvolle Geſchichte des Vaterlandes) die ſchönſten Blüthen der Humanität, Wiſſenſchaften und Kunſt hervor. Die Geſellſchaft deutſcher Naturforſcher und Aerzte hat, ſeit ihrer letzten Verſammlung, da ſie in München eine ſo gaſtliche Aufnahme fand, durch die ſchmeichelhafte Theilnahme benachbarter Staaten und Academien, ſich eines beſondern Glanzes zu erfreuen gehabt. Stammverwandte Nationen haben den alten Bund erneuern wollen zwiſchen Deutſchland und dem gothiſch-ſcandinaviſchen Norden. Eine ſolche Theilnahme verdient um ſo mehr unſre Anerkennung, als ſie der Maſſe von Thatſachen und Meinungen, welche hier in einen allgemeinen, fruchtbringenden Verkehr geſetzt werden, einen unerwarteten Zuwachs gewährt. Auch ruft ſie in das Gedächtniß der Naturkundigenden erhebende Erinnerungen zurück. Noch nicht durch ein halbes Jahrhundert von uns getrennt, erſcheint Linné, in der Kühnheit ſeiner Unternehmungen, wie durch das, was er vollendet, angeregt und beherrſcht hat, als eine der großen Geſtalten eines früheren Zeitalters. Sein Ruhm, ſo glänzend er iſt, hat dennoch Europa nicht undankbar gegen Scheele’s und Bergmann’s Verdienſte gemacht. Die Reihe dieſer geſeierten Namen iſt nicht geſchloſſen geblieben; aber in der Furcht, edle Beſcheidenheit zu verletzen, darf ich hier nicht von dem Lichte reden, welches noch jetzt in reichſtem Maaße von dem Norden ausgeht; nicht der Entdeckungen erwähnen, welche die innere chemiſche Natur der Stoffe (im numeriſchen Verhältniß ihrer Elemente) oder das wirbelnde Strömen der elektro-magnetiſchen Kräfte enthüllen. Mögen die trefflichen Männer, welche durch keine Beſchwerden von Land- und Seereiſen abgehalten wurden, aus Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, England und Polen unſerm Vereine zuzueilen, andern Fremden, für kommende Jahre, die Bahn bezeichnen, damit wechſelsweiſe jeder Theil des deutſchen Vaterlandes den belebenden Einfluß wiſſenſchaftlicher Mittheilung aus den verſchiedenſten Ländern von Europa genieße. Wenn ich aber, im Angeſichte dieſer Verſammlung, den Ausdruck meiner perſönlichen Gefühle zurückhalten muß, ſo ſei es mir wenigſtens geſtattet, die Patriarchen vaterländiſchen Ruhmes zu nennen, welche die Sorge für ihr der Nation theures Leben von uns entfernt hält: Goethe, den die großen Schöpfungen dichteriſcher Phantaſie nicht abgehalten haben, den Forſcherblick in alle Tiefen des Naturlebens zu tauchen, und der jetzt, in ländlicher Abgeſchiedenheit, um ſeinen fürſtlichen Freund, wie Deutſchland um eine ſeiner herrlichſten Zierden, trauert; Olbers, der zwei Weltkörper da entdeckt hat, wo er ſie zu ſuchen gelehrt; den größten Anatomen unſeres Zeitalters, Soemmerring, der mit gleichem Eifer die Wunder des organiſchen Baues, wie der Sonnenfackeln und Sonnenflecken (Verdichtungen und Oeffnungen im wallenden Lichtmeere) durchſpäht; Blumenbach, auch meinen Lehrer, der durch ſeine Werke und das belebende Wort überall die Liebe zur vergleichenden Anatomie, Phyſiologie und geſammten Naturkunde angefacht, und wie ein heiliges Feuer, länger als ein halbes Jahrhundert, ſorgſam gepflegt hat. Konnte ich der Verſuchung widerſtehen, da die Gegenwart ſolcher Manner uns nicht vergönnt iſt, wenigſtens durch Namen, welche die Nachwelt wiederſagen wird, meine Rede zu ſchmücken? Dieſe Betrachtungen über den geiſtigen Reichthum des Vaterlandes, und die davon abhängige fortſchreitende Entwickelung unſers Inſtituts, leiten unwillkührlich auf die Hinderniſſe, die ein größerer Umfang (die anwachſende Zahl der Mitarbeiter) der Ausführung eines ernſten wiſſenſchaftlichen Unternehmens ſcheinbar entgegenſtellen. Der Hauptzweck des Vereins (Sie haben es ſelbſt an ihrem Stiftungstage ausgeſprochen) beſtehet nicht, wie in andern Academien, die eine geſchloſſene Einheit bilden, in gegenſeitiger Mittheilung von Abhandlungen, in zahlreichen Vorleſungen, die alle zum Druck beſtimmt, nach mehr als Jahresfriſt in eignen Sammlungen erſcheinen. Der Hauptzweck dieſer Geſellſchaft iſt die perſönliche Annäherung derer, welche daſſelbe Feld der Wiſſenſchaften bearbeiten; die mündliche und darum mehr anregende Auswechſelung von Ideen, ſie mögen ſich als Thatſachen, Meinungen oder Zweifel darſtellen; die Gründung freundſchaftlicher Verhältniſſe, welche den Wiſſenſchaften Licht, dem Leben heitre Anmuth, den Sitten Duldſamkeit und Milde gewähren. Bei einem Stamme, der ſich zur ſchönſten geiſtigen Individualität erhoben hatte, und deſſen ſpäteſten Nachkommen, wie aus dem Schiffbruche der Völker gerettet, wir noch heute unſre bangen Wünſche weihen, in der Blüthezeit des helleniſchen Alterthums, offenbarte ſich am kräftigſten der Unterſchied zwiſchen Wort und Schrift. Nicht die Schwierigkeit des Ideenverkehrs allein, nicht die Entbehrung einer deutſchen Kunſt, die den Gedanken, wie auf Flügeln durch den Raum verbreitet und ihm lange Dauer verheißt, geboten damals den Freunden der Philoſophie und Naturkunde, Hellas, oder die doriſchen und joniſchen Colonien in Großgriechenland und Kleinaſien, auf langen Reiſen zu durchwandern. Das alte Geſchlecht kannte den Werth des lebendigen Wortes, den begeiſternden Einfluß, welchen durch ihre Nähe hohe Meiſterſchaft ausübt, und die aufhellende Macht des Geſprächs, wenn es unvorbereitet, frei und ſchonend zugleich, das Gewebe wiſſenſchaftlicher Meinungen und Zweifel durchläuft. Entſchleierung der Wahrheit iſt ohne Divergenz der Meinungen nicht denkbar, weil die Wahrheit nicht in ihrem ganzen Umfang, auf einmal, und von allen zugleich, erkannt wird. Jeder Schritt, der den Naturforſcher ſeinem Ziele zu nähern ſcheint, führt ihn an den Eingang neuer Labyrinthe. Die Maſſe der Zweifel wird nicht gemindert, ſie verbreitet ſich nur, wie ein beweglicher Nebelduft, über andre und andre Gebiete. Wer golden die Zeit nennt, wo Verſchiedenheit der Anſichten, oder, wie man ſich wohl auszudrücken pflegt, der Zwiſt der Gelehrten, geſchlichtet ſein wird, hat von den Bedürfniſſen der Wiſſenſchaft, von ihrem raſtloſen Fortſchreiten, eben ſo wenig einen klaren Begriff, als derjenige, welcher, in träger Selbſtzufriedenheit, ſich rühmt, in der Geognoſie, Chemie oder Phyſiologie, ſeit mehreren Jahrzehenten, dieſelben Meinungen zu vertheidigen. Die Gründer dieſer Geſellſchaft haben, in wahrem und tiefem Gefühle der Einheit der Natur, alle Zweige des phyſikaliſchen Wiſſens (des beſchreibenden, meſſenden und experimentirenden) innigſt mit einander vereinigt. Die Benennungen Naturforſcher und Aerzte ſind daher hier faſt ſynonym. Durch irdiſche Bande an den Typus niederer Gebilde gekettet, vollendet der Menſch die Reihe höherer Organiſationen. In ſeinem phyſiologiſchen und pathologiſchen Zuſtande bietet er kaum eine eigene Claſſe von Erſcheinungen dar. Was ſich auf dieſen hohen Zweck des ärztlichen Studiums bezieht, und ſich zu allgemeinen naturwiſſenſchaftlichen Anſichten erhebt, gehört vorzugsweiſe für dieſen Verein. So wichtig es iſt, nicht das Band zu löſen, welches die gleichmäßige Erforſchung der organiſchen und unorganiſchen Natur umfaßt; ſo werden dennoch der zunehmende Umfang und die allmählige Entwickelung dieſes Inſtituts die Nothwendigkeit fühlen laſſen, außer den gemeinſchaftlichen öffentlichen Verſammlungen, denen dieſe Halle beſtimmt iſt, auch ſectionsweiſe ausführlichere Vorträge über einzelne Disciplinen zu halten. Nur in ſolchen engeren Kreiſen, nur unter Männern, welche Gleichheit der Studien zu einander hinzieht, ſind mündliche Discuſſionen möglich. Ohne dieſe Art der Erörterung, ohne Anſicht der geſammelten, oft ſchwer zu beſtimmenden, und darum ſtreitigen Naturkörper, würde der freimüthige Verkehr wahrheitſuchender Männer eines belebenden Princips beraubt ſein. Unter den Anſtalten, welche in dieſer Stadt zur Aufnahme der Geſellſchaft getroffen worden ſind, hat man vorzüglich auf die Möglichkeit einer ſolchen Abſonderung in Sectionen Rückſicht genommen. Die Hoffnung, daß dieſe Vorkehrungen ſich Ihres Beifalls erfreuen werden, legt mir die Pflicht auf, hier in Erinnerung zu bringen, daß, obgleich ihr Vertrauen zweien Reiſenden zugleich die Geſchäftsführung übertragen hat, doch nur einem allein, meinem edlen Freunde, Herrn Lichtenſtein, das Verdienſt ſorgſamer Vorſicht und raſtloſer Thätigkeit zukommt. Den wiſſenſchaftlichen Geiſt achtend, der die Geſellſchaft deutſcher Naturforſcher und Aerzte beſeelt, und die Nützlichkeit ihres Beſtrebens anerkennend, iſt das königliche Miniſterium des Unterrichts, ſeit vielen Monaten, jedem unſrer Wünſche mit der aufopferndſten Bereitwilligkeit zuvorgekommen. In der Nähe der Verſammlungsorte, welche auf dieſe Weiſe für ihre allgemeinen und beſondern Arbeiten vorbereitet worden, erheben ſich die Muſeen, welche der Zergliederungskunſt, der Zoologie, der Oryktognoſie und der Gebirgskunde gewidmet ſind. Sie liefern dem Naturforſcher einen reichen Stoff der Beobachtung und vielfache Gegenſtände kritiſcher Discuſſionen. Der größere Theil dieſer wohlgeordneten Sammlungen zählt, wie die Univerſität zu Berlin, noch nicht zwei Decennien; die älteſten, zu welchen der botaniſche Garten (einer der reichſten in Europa) gehört, ſind in dieſer Periode nicht blos vermehrt, ſondern gänzlich umgeſchaffen worden. Der frohe und lehrreiche Genuß, den ſolche Inſtitute gewähren, erinnert mit tiefem Dankgefühle, daß ſie das Werk des erhabenen Monarchen ſind, der, geräuſchlos, in einfacher Größe, jedes Jahr dieſe Königsſtadt mit neuen Schätzen der Natur und der Kunſt ausſchmückt, und, was einen noch höheren Werth hat, als dieſe Schätze ſelbſt, was dem preußiſchen Volke jugendliche Kraft und inneres Leben und gemüthvolle Anhänglichkeit an das alte Herrſcherhaus giebt, der ſich huldreich jedem Talente zuneigt, und freier Ausbildung des Geiſtes vertrauensvoll ſeinen königlichen Schutz verleiht.