Briefe aus Paraguay, mitgetheilt von Alexander v. Humboldt. Seitdem der Direktor der exekutiven Gewalt der Republik Paraguay, (Director supremo de la Republica), nach Grundſaͤtzen der ſpaniſchen Regierungskunſt, das Land geſchloſſen haͤlt, iſt es ſo ſelten, irgend eine Nachricht unmittelbar aus dieſem alten Jeſuiten-Reiche zu empfangen, daß man mit Jntereſſe alles liest, was in Anſicht der Dinge und der Begebenheiten geſchrieben iſt. Das jetzige Paraguay oder wie man in Buenos-Ayres, ſagt Alto-Paraguay, iſt gegen Oſten vom Parana, gegen Weſten vom Paraguay, gegen Norden von den Fluͤſſen Yvineima und Mbotetey begraͤnzt. Nach der ſchoͤnen Manuſcript-Karte des Miguel de Laſtarria von 1804 (Carta orografica del Vireynato de las Provincias del Rio de la Plata), die ich benutze, finde ich fuͤr den Flaͤcheninhalt des Landes an 7500 Quadratmeilen, deren 20 auf einen Grad gehen. Das Land iſt demnach ſo groß als England und Schottland zuſammen genommen, aber die ganze noͤrdliche Haͤlfte von Paraguay jenſeits des Rio Jpanes und der Berge von Maracayu iſt ohne Anbau, ſelbſt ohne Verſuch von Miſſions-Anſtalten. Das ſpaniſche Gouvernement und Dr. Francia, der in die Rechte deſſelben getreten iſt, rechnet als Graͤnz-Fluͤſſe gegen Mato-Groſſo und Cuyaba hin die Einmuͤndungen des Yvineima in den Parana (Br. 22° 25′) und des Mbotetey in Paraguay (Br. 19° 33′); dort liegen Nova Coimbra, das ſuͤdlichſte, 1775 gegruͤndete Preſidio (Br. 19° 55′) der Braſilianer und die Ruinen der zerſtoͤrten Stadt Xerez. Nach portugaliſchen Karten, die mir aus Rio Janeiro zugeſchickt worden ſind, behaupten die Braſilianer, daß ihr Beſitz ſich bis zum Fluß Chichuy (Xexuy) bei der alten Miſſion Belem (Br. 23° 32′) erſtreckte. Das verrufene Paraguay der Jeſuiten umfaßte mehr oͤſtliche Laͤnder an dem linken Ufer des Parana, und zwiſchen dem Parana, Uruguay und Jbicuy. Die Landeseinwohner bezeichnen dieſe durch Artigas verwuͤſtete Gegend mit dem Namen Unter-Paraguay (Baſſo-Paraguay) und die Ausdehnung deſſelben Namens gegen die Capitania San Paulo und Montevideo hin, hat in unſeren Karten und Erdbeſchreibungen zu vielen Verwirrungen Anlaß gegeben. Vor dem Kriege der Unabhaͤngigkeit und der Trennung der ſpaniſchen Kolonien von dem Mutterlande nannte man officiell 1) Gobierno de Montevideo das Kuͤſtenland bis zum Piratiny und Rio Negro; 2) Gobierno del Uruguay das Land zwiſchen dem Rio Negro und dem Uruguay-Fluſſe; 3) Gobierno de Corrientes y de Miſſiones das Land zwiſchen dem Uruguay, Curitiba oder Yguazu, Parana (von der Einmuͤndung des Curitiba bis zu der verkehrreichen Stadt Corrientes) und Rio Paraguay (abwaͤrts von Corrientes bis Buenos-Ayres); 4) Gobierno del Paraguay das Meſopotamien zwiſchen dem oͤſtlichen Ufer des Paraguay und dem weſtlichen Ufer des Parana. Die neueren politiſchen Ereigniſſe haben Graͤnzen und Nomenklatur zugleich veraͤndert. Es iſt hier hinlaͤnglich zu erinnern, daß Entre Rios das mit Buenos- Ayres konfoͤderirt gebliebene Gobierno de Corrientes genannt wird, in deſſen noͤrdlichem Theile die, unter den Jeſuiten ſo beruͤhmten, jetzt verheerten Miſſionen, Candelaria, Loreto und Santes Apoſtoles liegen; daß Provincia de Miſſiones jetzt das Land oͤſtlich vom Uruguay, zwiſchen dem Jbicuy, der Berggruppe S. Xavier und der Miſſion San Angel heißt, wie Provincia Cisplatina die Strecke zwiſchen der Muͤndung des Plataſtromes, dem Uruguay, dem Jbicuy und der Capitania de Rio Grande. Dieſen portugaliſchen, oder vielmehr braſiliſchen Beſitz der Provincia de Miſſiones und Provincia Cisplatina erkennt die Republik Buenos-Ayres keinesweges als rechtmaͤßig an. Officiell bezeichnen die ſpaniſchen Amerikaner das ihnen entriffene Land mit dem Namen: La Banda oriental. Das ehemalige Vicekoͤnigreich des La Plata-Stromes, aus dem die Republik Buenos-Ayres ſich allmaͤhlig als Bundes-Staat geſtaltet, hat, nach meinen neueſten Berechnungen, 126,770 Quadrat-See-Meilen (zu 20 auf den Grad ). Es iſt demnach nur um [Formel] kleiner als das europaͤiſche Rußland, zaͤhlt aber bis jetzt nur noch 2,300000 Einwohner, waͤhrend daß in dem europaͤiſchen Rußland (mit Polen und Finland) uͤber 52 Millionen leben. Jch unterſcheide in dem neu ſich bildenden Bundesſtaate drei Landesſtrecken: Eine geographiſche Quadratmeile (zu 15 auf den Grad) hat 1 [Formel] Quadrat-See-Meilen. Die leztern ſind in dem ſpaniſchen Amerika die gebraͤuchlichſten. Noͤrdliche Region, das ehemalige Alto- Peru, von dem Tequieri und Mamori bis zum Pilcomayo, zwiſchen 13° und 21° ſuͤdl. Breite, zum Theil noch von den koͤniglich ſpaniſchen Truppen, unter Olareto’s Befehl, beſetzt ..... 37,020 Qdt. See- Meilen. Weſtliche Region, zwiſchen dem Pilcomayo, La Plata, Rio Negro und dem oͤſtlichen Abfall der Andeskette (mit den Staͤdten Tarija, Salta, Cordova, Santa Fe, San Luis de la Punta und Mendoza) ............. 66,518 Oeſtliche Region, das heißt das Land oͤſtlich von Paraguay und Parana (1s zwiſchen Uruguay und Parana oder Entre Rios 6848,; 2s zwiſchen dem Uruguay und der Meereskuͤſte, der Provincia Cisplatina 8960; 3s zwiſchen dem Rio Paraguay und Parana, das eigentliche Paraguay von Doktor Francia beherrſcht, 7424) ...... 23,232 Das alte Vicekoͤnigreich des La Plata-Stromes oder Buenos-Ayres ........ 126,770 Ueber die Bevoͤlkerung des Paraguay, welche in neueren Zeiten betraͤchtlich zugenommen hat, fehlt es ganz an genauen Nachrichten. Brackenridge in ſeinem trefflichen Werke (Voyage to South-America 1820 T. II. p. 47.) gab ſie zu 140,000 an, aber nach den Dokumenten, welche Hr. Rodney, der Kommiſſaͤr der nordamerikaniſchen Vereinigten Staaten an den Praͤſidenten nach Washington geſandt hat (Message From the President of the session of the fifteenth Congress p. 20. 41.) war dieſe Schaͤzzung ſelbſt fuͤr das Jahr 1818 zu gering. Die Zahl der Weißen und Meſtizen iſt ſehr betraͤchtlich in Paraguay. Die Bevoͤlkerung der Stadt Aſuncion (Br. 25° 20′ und 40′ oͤſtlich vom Meridian von Buenos-Ayres wird zu 12000 Einwohnern angegeben; in der Candelaria (Provinz Entre Rios) zaͤhlte man im Jahr 1817 an 5000 Seelen, in Buenos-Ayres 60,000. Buenos-Ayres iſt nicht durch abſolute Himmels-Beobachtungen beſtimmt, ſondern nur kronometriſch durch Uebertragung der Zeit von Montevideo. Der Meridian-Unterſchied von Buenos-Ayres und Montevideo wurde durch Malaspina’s Expedition zu 2° 10′ (Espinosa, Memorias de los Navigentes Españoles T. I. Costas de America p. 3. 6. 140.); durch ſpaͤtere ſpaniſche Seekarten zu 2° 16′ angegeben. Triesnecker fand fuͤr Montevideo aus dem Merkur-Durchgange des 5. Nov. 1789 Laͤnge: 58° 32′ 30″ weſtlich von Paris, aus einer Sternbedeckung 58° 37′ 11″. Die wahre Laͤnge ſcheint in der That zwiſchen beiden Angaben zu liegen, denn ganz neuerlichſt hat, nach Manuſkript-Nachrichten, welche mir der Kontre-Admiral Herr de Roſſel mitgetheilt, der Kommandant der franzoͤſiſchen Korvette l’Aigrette (Herr Fouque) durch vortreffliche Kronometer den Meridian-Unterſchied von Montevideo und der Jnſel Anhatomirim zu 7° 34′ 18″ beſtimmt. Dieſe Jnſel iſt aber, nach Rouſſin’s Expedition, der ſicherſte Punkt der braſiliſchen Kuͤſte, und wird zu 51° 1′ 18″ angenommen, woraus fuͤr Montevideo 58° 35′ 36″, fuͤr Buenos-Ayres 60° 52′ 12″ folgen wuͤrde. (Das Deposito hidrografico de Madrid nahm ehemals als abſolute Laͤnge 60° 43′ an!) Nachſtehende Briefe, welche uͤber den jetzigen Zuſtand von Paraguay einiges Licht verbreiten, ſind von einem unternehmenden Manne, Herrn Grandſire geſchrieben. Dieſer wurde mir in dem Jahre 1823 von dem gelehrten Botaniker Herrn Mirbel (der unter der Staatsverwaltung des Duc de Cazes eine wichtige Stelle im Miniſterium des Jnnern bekleidete) als ein Reiſender vorgeſtellt, der den Entſchluß gefaßt haͤtte, nach Paraguay uͤber Corrientes vorzudringen, um meinem Freunde, Herrn Bonpland, den er ehemals in Buenos-Ayres ſehr genau gekannt, zu ſeiner endlichen Befreiung nuͤtzlich zu ſein. Eine ſolche Gelegenheit war nicht zu vernachlaͤſſigen, und ſo wenig Hoffnung ich auch hatte, daß dieſer Verſuch gelingen wuͤrde, ſo bot ich doch alles auf, was Herrn Grandſire’s ruͤhmliches Unternehmen beguͤnſtigen konnte. Jch verſchaffte ihm, gemeinſchaftlich mit Herrn Cuvier, Briefe des Jnſtituts, welche den Wunſch fuͤr Bonpland’s Ruͤckkunft aufs lebhafteſte ausdruͤckten. Der damalige Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten, Vicomte de Chateaubriand, empfahl auf meine Bitte Herrn Grandſire an den franzoͤſiſchen General-Konſul in Rio Janeiro. Jch ſchrieb ſelbſt einen langen ſpaniſchen Brief an den Diktator Doktor Francia. Herr Grandſire meldete mir ſeine Ankunft in Braſilien im Maͤrz 1824. Es hat gewiß nicht an ſeinem guten Willen und an ſeiner Thaͤtigkeit gelegen, wenn ſein Wunſch, Bonpland zu befreien, unerfuͤllt geblieben iſt. Jtapua in Paraguay, 18. Auguſt 1824. Sie haben aus meinem letzten Briefe aus Montevideo geſehen, daß ich die Hoffnung hatte, unmittelbar von Buenos-Ayres den Rio Paraguay aufwaͤrts und dann durch den Parana nach Candelaria zu gelangen; aber ein ungegruͤndeter Verdacht, daß meine Reiſe politiſche Zwecke habe, hat mich gehindert, dieſen Plan auszufuͤhren. Jch bin gezwungen worden Buenos-Ayres zu verlaſſen und habe in Montevideo bei dem braſiliſchen General-Gouverneur Le Coc, der Jhnen und Herrn Bonpland ſehr ergeben iſt, die freundlichſte Aufnahme gefunden. Von dort aus habe ich durch die Provincia Cisplatina die ſchwierige Reiſe nach Paraguay, wo der Doktor Francia jetzt unter dem Namen eines Diktators herrſcht, fortgeſetzt. Jch lebe noch immer der Hoffnung, durch meine angeſtrengteſten Bemuͤhungen, die Empfehlungen des Jnſtituts und Jhre an den Diktator gerichteten Briefe zur endlichen Befreiung ihres Freundes beizutragen. Jch habe hier erfahren, daß er die Gefangenſchaft mit mehr als 60 Perſonen theilt, unter denen ſich einige Schweizer befinden, die in der Aſuncion (Hauptſtadt von Paraguay) ſich mit naturhiſtoriſchen Unterſuchungen beſchaͤftigen. Das Land iſt gegenwaͤrtig zum Handel blos den Unterthanen des Kaiſers von Braſilien geoͤffnet, und da der Diktator die Republik Buenos-Ayres beſchuldigt, ihm ſelbſt nach dem Leben getrachtet zu haben, ſo ſind ihm alle Reiſende verdaͤchtig, welche uͤber Corrientes eindringen wollen. Jch hoffe, da ich unter braſiliſchem Schutze hier (in Jtapua) anlange, meinen Zweck nicht zu verfehlen. Meine Ankunft iſt geſtern durch einen Kurier dem in Tranquiera kommandirendem General gemeldet worden, denn ehe nicht die Erlaubniß von dem Doktor Francia perſoͤnlich gegeben wird, kann ich von dieſem Graͤnzorte nicht weiter vorwaͤrts ſchreiten. Von San Borja bis hieher in der Provinz Entre Rios habe ich eine wahre Einoͤde gefunden. Die ganze Gegend iſt durch Artiga verheert; alle Kirchen, welche die Jeſuiten oͤſtlich von Parana gebaut hatten, und welche nach ihrer Vertreibung durch Miſſionen anderer Moͤnche unterhalten wurden, ſind verbrannt. Die Kinder der Jndier irren mit verwilderten Ziegen in den Waͤldern umher. Jch ſchicke Jhnen dieſen Brief uͤber San Borja, von wo aus ihn der Kommandant an den Hofkapellan des Kaiſers nach Rio Janeiro beſorgen wird. Jch habe auf dieſer Reiſe mich uͤberzeugt, daß die beiden Katarakten (Saltos) des Rio Uuruguay durch kleine Nebenkanaͤle vermieden werden koͤnnen, ſo daß Schifſfahrt mit Dampfboͤten kuͤnftig moͤglich ſein wird. Nachdem dieſer von den Portugalen geſchlagen, ſich nach Paraguay fluͤchtete, um dort neue Werbungen zu machen, wurde ihm vom Doktor Francia der Befehl gegeben, ſich in ein Kloſter zu begeben, in dem er jetzt noch ſeiner Freiheit beraubt iſt. Jtapua d. 10. Sept. 1824. Aus meinem letzten Briefe haben Sie geſehen, daß dem Diktator der Republik Paraguay, Don Gaspar Francia, meine Ankunft gemeldet worden iſt. Die Hoffnung, die ich hatte, bis zur Hauptſtadt zu gelangen, hat leider ſehr abgenommen. Der Diktator legt mir neun Fragen vor, alle politiſchen Jnhalts uͤber die Beſchluͤſſe, welche er den Kontinentalmaͤchten, in einem in Jtalien gehaltenen Kongreſſe, zuſchreibt und nach denen die independenten Provinzen unter ſpaniſche Botmaͤßigkeit zuruͤckgebracht werden ſollten. Er iſt voll Beſorgniß uͤber den franzoͤſiſchen Feldzug nach Spanien; er verlangt Antwort auf die feindlichen Abſichten, welche er dem Miniſter des Duc de Cazes gegen die Freiheit von Paraguay zuſchreibt. Er giebt vor, Herr Bonpland ſei mit Briefen eines indiſchen Chefs in der Provincia des Miſſiones (Francia’s aͤrgſtem Feinde) auf dem weſtlichen Ufer des Rio Parana geſehen worden, um den Plan von Jtapua aufzunehmen; er wiſſe nicht, ſelbſt in der Vorausſetzung, daß auch meine Reiſe wiſſenſchaftliche Zwecke habe, wie das franzoͤſiſche Jnſtitut oder irgend eine politiſche Macht in Europa ſich berechtigt glauben koͤnne, jemand nach Paraguay zu ſchicken, da allgemein bekannt ſei, daß das Land keinem Fremden geoͤffnet werden koͤnne. Sie ſehen aus dieſen bedenklichen Fragen, daß der Diktator die Angelegenheiten des alten Kontinents genau zu kennen glaubt. Jch habe geantwortet, meine Reiſe habe ſchlechterdings keinen Bezug auf politiſche Ereigniſſe. Jch habe Paraguay durchreiſen wollen, um auf den Punkt zu gelangen, wo durch den Rio Jauru- und den Madeira-Strom eine Verbindung zwiſchen dem Amazonen-Fluſſe und Rio de la Plata moͤglich ſei. Dieſer Zweck meiner Reiſe werde von dem Kaiſer von Braſilien, der mir Empfehlungen nach der Provinz Mato Groſſo gegeben, ganz beſonders beguͤnſtigt. Jch fuͤgte hinzu, daß ich der ſpaniſchen Sprache nicht maͤchtig, auf die mir, von dem Majordomo von Jtapua vorgelegten politiſchen Fragen ſchriftlich nicht zu antworten wage, daß ich aber dem Doktor Francia muͤndlich alle Auskunft geben wuͤrde. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß ich das Schickſal des armen Bonpland theilen werde; doch bin ich es der Wahrheit ſchuldig, zu ſagen, daß nach allem, was ich hier ſehe, ſeit 22 Jahren die Einwohner von Paraguay unter einer guten Adminiſtration, der gluͤcklichſten Ruhe genießen. Der Kontraſt mit den Laͤndern, die ich bis hieher durchſtrichen, iſt uͤberaus auffallend. Man reiſet in Paraguay ohne alle Waffen, die Thuͤren der Haͤuſer ſind kaum verſchloſſen, denn jeder Diebſtahl wird mit dem Tode beſtraft, ja der Eigenthuͤmer des Hauſes oder der Gemeinde, in welcher der Raub geſchehen iſt, werden zum Erſatz gezwungen. Bettler ſieht man gar nicht, alle Menſchen arbeiten. Jtapua hat 2000 Seelen, finden ſich Duͤrftige darunter, ſo wenden ſie ſich an den Diktator, der die Kinder dann auf Koſten des Staats erziehen laͤßt. Die Erziehung iſt ganz militaͤriſch; ſtatt der Glocke werden die Zoͤglinge durch Trommelſchlag in die Klaſſe berufen; faſt alle Einwohner koͤnnen leſen und ſchreiben und die Alkalden, welche jaͤhrlich von dem Volke gewaͤhlt werden, beſtimmen, wie lange die jungen Leute die Schule beſuchen ſollen. Der Doktor Francia wird mir als ein gebildeter Mann geſchildert, der der franzoͤſiſchen Sprache maͤchtig iſt. Er iſt 62 Jahr alt, aber noch immer uͤberaus thaͤtig, ſorgſam fuͤr die Eleganz ſeiner Kleidung. Dieſes herrliche Land kann einſt fuͤr den europaͤiſchen Handel ſehr wichtig werden, jetzt aber iſt es bloß den Einwohnern von Braſilien zugaͤnglich. Zwoͤlf bis funfzehn Kaufleute dieſer Nation unterhalten allein den Verkehr mit der Provinz Mato Groſſo. Der Diktator iſt ſehr gereitzt uͤber allen Tadel, welchen das Gouvernement von Buenos-Ayres in europaͤiſchen Zeitungen uͤber ihn (wie er behauptet) verbreiten laͤßt. Jch habe geſtern Gelegenheit gehabt, einen Landmann zu ſehen, welcher Bonplands naͤchſter Nachbar iſt und ihn taͤglich ſieht. Er verſichert, daß es ihm wohlgehe, daß er Laͤndereien beſitze, die ihm der Doktor Francia gegeben, er die Arzneikunſt ausuͤbe, ſich mit der Diſtillation von Brandwein aus Honig beſchaͤftige, und daß er noch immer, wie ſeine taͤglich zunehmenden Sammlungen bezeugen, leidenſchaftlich Pflanzen ſammle und beſchreibe. Es iſt mir nicht erlaubt worden, Briefe an ihn gelangen zu laſſen. Er iſt nicht in S. Anna bei Corrientes, ſondern in S. Anna unfern Candelaria aufgehoben worden. Das Klima iſt hier uͤberaus angenehm, ja bisweilen ſo kalt, daß es dieſe Nacht gefroren hat...... (Jch finde nach der ſchoͤnen Manuſkript-Karte von Lastarria, daß Jtapua unter 27° 22′ ſuͤdlicher Breite an dem weſtlichen Ufer des Rio Parana liegt, faſt Candelaria gegenuͤber. Was Herr Grandſire von der Kanalverbindung zwiſchen dem Amazonen- und Plata-Strome ſagt, bezieht ſich auf die Naͤhe der drei großen Fluͤſſe Topayos, Madeira und Paraguay, ſuͤdweſtlich von dem niedrigen Gebirge Parecis. Der Guaverè oder Jtenes fließt in den Madeira, der Jauru in den Paraguay-Strom. Suͤdlich von Santa Barbara nahet ſich der Aguapehi ſo ſehr dem Rio Alegre, daß der Jſthmus nur 5322 portugaliſche Braças breit iſt. Auf dieſem Punkte wollte man, unter der Staatsverwaltung des Grafen von Barca, einen Kanal graben. Die Stadt Villabella, dieſem Jſthmus nahe, auf dem rechten Ufer des Guaporè, oder Jtenes, etwas oberhalb der Einmuͤndung des Sarare, kann einſt fuͤr das Verkehr der Voͤlker im Jnnern von Amerika von großer Wichtigkeit werden. Wenn man bedenkt, daß der Amazonenſtrom mit dem Orinoko durch den Caſſiquiare zuſammenhaͤngt, ſo erſicht man, daß das Durchgraben des Jſthmus von Villabella eine Flußverbindung zwiſchen dem Delta des Orinoko (der Jnſel Trinidad gegenuͤber) und Buenos-Ayres oder der Muͤndung des Rio de la Plata bewirken wuͤrde. Auf dieſe Weiſe koͤnnte in mehr als tauſend Meilen Laͤnge ganz Suͤdamerika durchſchifft werden, wenn nicht mannigfaltige Katarakten (Saltos) den Handelsverkehr erſchwerten. Die Lokalverhaͤltniſſe um Villabella kenne ich aus der Manuſkript-Karte von Braſilien, die Herr Silva Pontes Leme 1804 in Rio Janeiro aus 76 Spezial-Karten zuſammengetragen hat). Curitiba d. 20. Nov. 1824. Der Name des Orts erinnert, nach Herrn Auguſte de Saint- Hilaire, an die nahen Gebuͤſche von Auraucaris und iſt zuſammengeſetzt von curii und tiba. Er bedeutet: Gruppe von Nadelholz. Der Diktator von Paraguay hat mir nicht erlauben wollen, durch ſein Land zu reiſen; ich habe den 14. Sept. Jtapua verlaſſen nach einem Aufenthalt von 3 Wochen. Von San Borja aus (an dem oͤſtlichen Ufer des Uruguay) habe ich von neuem an den Doktor Francia geſchrieben, und ihm auf das lebhafteſte die Gruͤnde entwickelt, aus denen Herrn Bonpland’s Befreiung ſeiner eigenen Politik nuͤtzlich ſein wuͤde. Jch habe nicht gewagt, ihm Jhren Brief zu ſchicken, weil bei ſeiner großen Reitzbarkeit zu befuͤrchten iſt, daß jede fremde Einmiſchung ihm verdaͤchtig werde. Jch lebe noch immer der Hoffnung, Jhrem theuren Reiſegefaͤhrten, der nie den Diktator ſelbſt hat ſehen koͤnnen, doch noch nuͤtzlich zu ſein. Jch denke bis Nueva Coimbra in der Provinz Cuyaba vorzudringen. Wenn ich von den Quellen des Madeira-Stroms zuruͤckkomme, ſo wird vielleicht auf dieſem Wege, von Norden her, der Doktor Francia kein Bedenken tragen, mich zu ſich zu laſſen, da ihm nicht die Braſilianer, aber alle verhaßt ſind, welche den Weg uͤber Buenos-Ayres und Corrientes nehmen. Jch habe auf dem Wege hieher durch faſt undurchdringliche Waͤlder viel gelitten, vielleicht ſo viel als Sie ſelbſt in den Waͤldern des Orinoko. Die Buͤcher, welche ich in Jhrem Namen dem Doktor Francia ſchenken ſollte, habe ich in San Borja dem Gouverneur der Provincia de las Miſſiones verehrt, einem Manne, der ſich beeifert, jedem wiſſenſchaftlichen Reiſenden angenehm zu ſein. Haͤtte ich dieſe Buͤcher laͤnger behalten, ſo wuͤrden ſie bei der Naͤſſe, der ich taͤglich ausgeſetzt bin, unfehlbar verrotten. Jn den hieſigen Waͤldern von Curitiba ſpricht man uͤberall von der weißen China-Rinde, Quinquina blanca . — Nach Herrn Auguſte de Saint-Hilaire ein Solanum. Jch fuͤge dieſen Briefen aus Paraguay einen Auszug aus dem Argus bei, einem politiſchen Journale, welches in Buenos-Ayres gedruckt wird. Corrientes d. 9. Febr. 1822. Jm November v. J. haben wir bereits unſere Zweifel geaͤußert uͤber die Frage: ob Herr Bonpland ſtatt gegen Norden nach Corrientes zu gehen, nicht nuͤtzlichere Unterſuchungen fuͤr die Naturkunde machen wuͤrde, wenn er die bisher ſo unbekannten patagoniſchen Laͤnder im Suͤden, jenſeits des Rio Salado gegen Rio Colrado et Rio Negro hin, zwiſchen dem 36 und 40° ſuͤdl. Breite durchreiſte. Dort haͤtte er Sicherheit und Ruhe gefunden, ſtatt des blutigen Zwiſtes, des Mißtrauens und des menſchlichen Elendes, von dem jetzt noch die Landesſtrecke zwiſchen dem Uruguay und Parana bedraͤngt iſt: Unſere Beſorgniſſe ſind, wie die Erfahrung gelehrt, leider nur zu rechtmaͤßig geweſen. Am 8. Dezember iſt auf Befehl des Doktors Francia, des maͤchtigen Herrn (Gran Señor) von Paraguay, ein Haufen Paraguayos (Einwohner der ehemaligen Jeſuitermiſſionen) in das indiſche Dorf Santa Anna eingefallen, um Herrn Bonpland geſangen zu nehmen, ſeine Pflanzungen von Mate (Yerba del Paraguay) zu zerſtoͤren und das Vieh nebſt den Menſchen uͤber den Parana hinuͤber zu ſetzen. Man kann keine andere Urſache dieſes ſchrecklichen Vorfalls errathen, als daß der Gran Señor de Paraguay gefuͤrchtet hat, die Stadt Corrientes (die zur Republik Buenos-Ayres gehoͤrt) werde durch Herrn Bonpland’s ruͤhmliche Bemuͤhung einſt an den Handel mit inlaͤndiſchem Thee Theil nehmen. Da die Verſuche, welche von Braſilien aus zu Herrn Bonpland’s Befreiung gemacht worden ſind, bisher keinen gluͤcklichen Erfolg gehabt haben, ſo iſt jetzt alle meine Hoffnung auf die edeln Bemuͤhungen des englaͤndiſchen Gouverneurs gegruͤndet. Der Staatsminiſter George Canning hat mir wiederholende Nachricht von den Schritten mitgetheilt, die der englaͤndiſche Geſchaͤftstraͤger bei der Republik Buenos- Ayres, Herr Parish, verſucht hat. Es iſt dieſem Geſchaͤftstraͤger bereits gegluͤckt, die englaͤndiſchen Unterthanen in Freiheit zu ſetzen. Er dringt jetzt, in Briefen an den Diktator, auf die Auslieferung meines Freundes, der ſich, wie er ſchreibt, in Santa Roſa (ſuͤdlich von dem Rio Tibiquari etwa 40 Seemeilen von der Hauptſtadt Aſuncion) aufhaͤlt. Herr Parish iſt uͤberzeugt, daß Bonpland’s Gefangennehmung keinen andern Grund gehabt habe, als die gluͤckliche Anlage von Pflanzungen des Paraguay-Thee’s (Arvore do Mate oder da congonha). Der Strauch iſt nach Auguſte de S. Hilaire’s Unterſuchung, Ilex Mate, von Cossine Peragua des Linné gaͤnzlich verſchieden. Man doͤrrt die ſteifen Blaͤtter und jungen Zweige am Feuer und zerſtampft ſie zu Pulver, daher der Aufguß (um das Pulver von der Fluͤſſigkeit zu trennen) durch kleine ſilberne Roͤhren, die in eine Kugel mit vielen kleinen Oeffnungen endigen, eingeſchluͤrft wird. So habe ich den Gebrauch des Mate in Peru verbreitet gefunden, und die Laͤnder an der Suͤdſeekuͤſte ſind, bei dem ſtrengen Verbot der Ausfuhr aus Paraguay, ſehr verlegen, ſich dieſes Beduͤrfniß des Luxus, welches ihnen uͤberaus nothwendig geworden iſt, zu verſchaffen. Paris d. 28. Jun. 1825. Alexander v. Humboldt.