Das Erdbeben von Caracas. Die ganze Nordküſte von Süd-Amerika iſt häufigen Erdbeben ausgeſetzt, und ſchon manchmal haben die zahlreichen Vulkane, welche ſich auf den Weſtindiſchen Inſeln befinden, ihren verderblichen Einfluß bis nach der Küſte des feſten Landes ausgedehnt. Die Stadt Caracas, nur einige Meilen von der Küſte des Antillen-Meeres gelegen, hatte ſchon in früheren Jahren heftige Erderſchütterungen erlitten; doch lebten ihre Bewohner in Sicherheit dahin; aber im Dezember 1811 ſollten ſie aus dieſer Sorgloſigkeit durch einen Erdſtoß von beträchtlicher Heftigkeit aufgeſchreckt werden. Drei volle Monate gingen hin, ohne daß hier eine neue Erſchütterung erfolgt wäre. — Aber am 26. März, am grünen Donnerſtage des Jahres 1812, ſollte die Stadt den Untergang der Sonne nicht mehr ſehen. Das Volk, welches am Morgen noch zu den Gotteshäuſern geeilt war, ahnte nicht das ſchreckliche und nahe Ende, als um 4 Uhr Nachmittags plötzlich die Glocken ertönten. Es war Gottes, nicht der Menſchen Hand, die ſie zum Grabgeläute der Stadt ertönen ließ. Eine 10 bis 12 Sekunden lange Erſchütterung ſchreckte das Volk auf. Bald glaubte man, die Gefahr ſei vorüber, als ſich plötzlich ein unterirdiſcher Donner, ſtärker und anhaltender, als das Rollen der Gewitter in dieſer Jahreszeit, hören ließ. Die Erde ſchien zu kochen und flüſſig zu werden. Stöße erfolgten auf Stöße in ſich durchkreuzenden Richtungen, von Norden nach Süden, von Oſten nach Weſten, von unten nach oben. Dieſen gleichzeitigen, ſich durchkreuzenden Bewegungen konnte Nichts widerſtehen. In einer Viertel-Minute war Caracas ein Schutthaufen, der 9 bis 10,000 ſeiner Bewohner begraben hatte. Zwei Kirchen, die mehr als 130 Fuß Höhe hatten, und deren Schiff durch 12 bis 15 Fuß dicke Pfeiler getragen wurde, lagen in einen Trümmerhaufen verwandelt, und von den Pfeilern und Säulen war kein Stück mehr kenntlich. Das Hinſtrömen der Menge zur Kirche war ſo groß geweſen, daß 4 bis 5000 Perſonen unter ihrem eingeſtürzten Gewölbe begraben lagen. Eine Kaſerne war beinahe vom Erdboden verſchwunden; es ſtand ein Regiment Linientruppen unter den Waffen, das ſich zur Prozeſſion begeben wollte; nur Einzelne retteten ſich, die Andern wurden unter den Trümmern begraben, worein ſich das Gebäude plötzlich verwandelt hatte. Neun Zehntheile der Stadt wurden plötzlich zerſtört, und die Häuſer, welche nicht einſtürzten, waren ſo zerriſſen, daß ſie nicht mehr bewohnt werden konnten. Furchtbar war das Loos Derer, die ſo plötzlich und unvermuthet vom Tode überfallen wurden; noch furchtbarer aber war das der Menge von Unglücklichen, die verwundet, an ihren Gliedern zerſchmettert, die Ihrigen überleben mußten, und dann aus Mangel an Pflege und Nahrung dennoch umkamen. Eine finſtere, dicke Staubwolke, die ſich anfangs über die Stadt erhoben, und die Luft gleich einem dicken Nebel erfüllt und verdunkelt hatte, ſchlug ſich gegen Abend zur Erde nieder; die Luft wurde rein, die Erde ruhig und die Nacht ſtill und ſchön. Der faſt volle Mond beleuchtete die Schreckensſcene, die mit Trümmern und Leichen bedeckte Erde, und den namenloſen Jammer der Unglücklichen. Mütter trugen die Leichen ihrer Kinder im Arme, in der Hoffnung, ſie wieder in’s Leben zu bringen; jammernde Familien durchwühlten die Schutthaufen, die am Morgen noch eine reich blühende, belebte Stadt waren, um einen Bruder, einen Freund zu ſuchen, deſſen Schickſal unbekannt war. Die unter dem Schutte begrabenen Verwundeten riefen die Vorübergehenden laut flehend um Hülfe an; über 2000 wurden hervorgezogen. Nie hat wol das Mitleid ſich rührender, erfinderiſcher gezeigt, als in den Anſtrengungen, dieſen Unglücklichen, deren Seufzer man hörte, Hülfe zu verſchaffen. Man mußte ſie mit den Händen herausgraben, denn es mangelte an allen Werkzeugen zur Hinwegräumung des Schuttes. Betten, Leinwand zum Verbande der Wunden, Arzneien, Nahrungsmittel, alle Gegenſtände der erſten Bedürfniſſe waren verſchüttet, das Waſſer im Innern der Stadt war ſogar ſelten geworden, da die Erdſtöße theils die Brunnenleitungen zerſchlagen, theils die Quellen verſtopft hatten. Es war unmöglich, ſo viele tauſend Todte zu begraben; deshalb wurde verordnet, für die Verbrennung zu ſorgen. Mitten im Schutte der Häuſer wurden Scheiterhaufen für die Unglücklichen errichtet, und dieſes Geſchäft dauerte mehrere Tage. Unter dieſem allgemeinen Jammer vollzog das Volk die religiöſen Gebräuche, mit welchen man am erſten den Zorn des Himmels zu beſänftigen hoffte. Einige ſtellten feierliche Prozeſſionen an, bei welchen ſie Leichengeſänge ertönen ließen; Andere, von Geiſtesverwirrung befallen, beichteten laut auf der Straße. Rückerſtattungen wurden von Leuten verheißen, die man keines Diebſtahls ſchuldig wußte; Familien, die lange in Feindſchaft mit einander gelebt, verſöhnten ſich in dem Gefühle gemeinſamen Unglücks. — Ach! ſo iſt das Gemüth des ſchwachen Menſchen beſchaffen! Jahre lang wandeln wir unter den Freuden des Lebens umher und empfangen tauſend Wohlthaten aus der Hand des Vaters im Himmel: ſie rühren unſer Herz nicht und führen uns weder zur Gottesfurcht, noch zur Beſſerung. Nur die Schrecken der Natur und des Unglücks können uns erſchüttern. [100.]