Der Kuhbaum. »Unter den vielen merkwürdigen Erſcheinungen,« ſagt Humbolt in ſeiner Reiſebeſchreibung, »die ſich mir auf meiner Reiſe darbothen, gab es in der That wenige, die einen ſo ſtarken Eindruck auf mich gemacht haben, als der Kuhbaum (palo de vaca). Alles, was auf Milch und Getreide Bezug hat, erweckt in uns eine Theilnahme, die nicht bloß in der phyſiſchen Kenntniß der Dinge zu ſuchen iſt, ſondern ſich mit einer andern Reihe von Begriffen und Gefühlen verknüpft ꝛc. Prächtige Wälder, majeſtätiſche Flüſſe, und hohe, mit ewigem Schnee bekleidete Berge ſind nicht die Gegenſtände, die wir hier bewundern. Einige wenige Tropfen einer vegetabiliſchen Flüſſigkeit prägen uns den Begriff der Macht und Fruchtbarkeit der Natur ein. Auf dem ausgedörrten Abhange eines Felſens wächſt ein Baum mit dürren, lederartigen Blättern, deſſen große holzige Wurzeln kaum in den Boden eindringen; denn mehrere Monate werden ſeine Blätter durch keinen Regenſchauer angefeuchtet; Aeſte und Zweige ſehen wie todt und verwittert aus; bohrt man aber den Stamm an, ſo fließt eine ſüße und nahrhafte Milch aus demſelben. Bey Sonnenaufgang iſt dieſe Milch am ergiebigſten. Zu dieſer Zeit ſieht man Schwarze und Eingeborne von allen Seiten herbeyſtrömen; jeder iſt mit einem großen Napfe zur Aufnahme der Milch verſehen, die an ihrer Oberfläche gelb wird und ſich verdickt. Einige leeren die Gefäße auf der Stelle aus, während andere die Milch für ihre Kinder mitnehmen. Man glaubt die Familie eines Hirten zu erblicken, welcher die Milch ſeiner Heerden vertheilt.