Die Knochenhöhle von Ataruipe in Amerika. (Aus Alexander von Humboldt's neuesten Schriften.) Am südlichen Eingange des Raudals von Atures, am rechten Ufer des Flusses, liegt die, unter den Indianern weit berufene Höhle von Ataruipe. Die Gegend umher hat einen großen und ernsten Naturcharacter, der sie gleichsam zu einem Nationalbegräbnisse eignet. Man erklimmt mühsam, selbst nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine steile, völlig nackte Granitwand. Es würde kaum möglich seyn, auf der glatten Fläche festen Fuß zu fassen, träten nicht große Feldspathkristalle, der Verwitterung trotzend, zolllang aus dem Gesteine hervor. Kaum ist die Kuppe erreicht, so wird man durch eine weite Aussicht über die umliegende Gegend überrascht. Aus dem schäumenden Flußbette erheben sich mit Wald geschmückte Hügel. Jenseit des Stromes, über das westliche Ufer hinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur des Meta. Am Horizont erscheint wie drohend aufziehendes Gewölk das Gebirge Uniama. So die Ferne; aber nahe umher ist alles öde und eng. Im tiefgefurchten Thale schweben einsam der Geier und die krächzende Caprimulge. An der nackten Felswand schleicht ihr schwindender Schatten hin. Dieser Kessel ist von Bergen begränzt, deren abgerundete Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Durchmesser dieser Kugeln beträgt 40 bis 50 Fuß. Sie scheinen die Unterlage nur in einem einzigen Punkte zu berühren, eben, als müßten sie, bei dem schwächsten Erdstoße, herabrollen. Der hintere Theil des Felsthals ist mit dichtem Laubholze bedeckt. An diesem schattigen Orte öffnet sich die Höhle von Ataruipe; eigentlich nicht eine Höhle, sondern ein Gewölbe, eine weit überhängende Klippe, eine Bucht, welche die Wasser, als sie einst diese Höhe erreichten, ausgewaschen haben. Dieser Ort ist die Gruft eines vertilgten Völkerstammes. Wir zählten ohngefähr 600 wohlerhaltene Skelette, in eben so vielen Körben, welche von den Stielen des Palmenlaubes geflochten sind. Diese Körper, die die Indianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckiger Säcke, die nach dem Alter des Verstorbenen von verschiedener Größe sind. Selbst neugeborene Kinder haben ihre eigene Mapire. Ihre Skelette sind so vollständig, daß keine Rippe, keine Phalange fehlt. Die Knochen sind auf dreierlei Weise zubereitet; theils gebleicht, theils mit Onoto, dem Pigment der Bixa Orellana, rothgefärbt, theils mumienartig zwischen wohlriechendem Harze in Pisangblätter eingeknetet. Die Indianer versichern, man grabe den frischen Leichnam auf einige Monate in feuchte Erde, welche das Muskelfleisch allmählig verzehre; dann scharre man ihn aus, und schabe mit scharfen Steinen den Rest des Fleisches von den Knochen ab. Dies sey noch der Gebrauch mancher Horden der Guayana. Neben den Mapires oder Körben findet man auch Urnen von halbgebranntem Thone, welche die Knochen von ganzen Familien zu enthalten scheinen. Die größern dieser Urnen sind 3 Fuß hoch und 51/2 Fuß lang, von angenehmer ovaler Form, grünlich, mit Henkeln in Gestalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obern Rande mit Meandern und Labyrinthen geschmückt. Diese Verzierungen sind ganz denen ähnlich, welche die Wände des mexikanischen Pallastes bei Mitla bedecken. Man findet sie unter allen Zonen, auf den verschiedensten Stuffen menschlicher Kultur; unter Griechen und Römern, am sogenannten Tempel des Deus rediculus bei Rom, wie auf den Schildern der Otahaiter; überall, wo rythmische Wiederholung regelmäßiger Formen dem Auge schmeichelte. Die Ursachen dieser Aehnlichkeiten beruhen, wie ich an einem andern Orte entwickelt habe, mehr auf psychischen Gründen, auf der innern Natur unserer Geistesanlagen, als sie Gleichheit der Abstammung und altes Verkehr der Völker beweisen. Unsere Dolmetscher konnten keine sichere Auskunft über das Alter dieser Gefäße geben. Die mehrsten Skelette schienen indeß nicht über hundert Jahr alt zu seyn. Es geht die Sage unter den Guareken-Indianern, die tapferen Aturer haben sich, von menschenfressenden Kariben bedrängt, auf die Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnsitz, in welchem der bedrängte Völkerstamm und mit ihm seine Sprache unterging. In dem unzugänglichsten Theile des Raudals befinden sich ähnliche Grüfte; ja es ist wahrscheinlich, daß die letzte Familie der Aturer erst spät ausgestorben sey. Denn in Maypures (ein sonderbares Factum) lebt noch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten, daß man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der Aturer rede. Wir verließen die Höhle bei einbrechender Nacht, nachdem wir mehrere Schädel und das vollständige Skelett eines bejahrten Mannes, zum größten Aergerniß unserer indianischen Führer, gesammelt hatten. Einer dieser Schädel ist von Herrn Blumenbach in seinem vortrefflichen kraniologischen Werke abgebildet worden. Das Skelett selbst ist, wie ein großer Theil unserer Sammlungen, in einem Schiffbruch untergegangen, der an der afrikanischen Küste unserm Freunde und ehemaligen Reisegefährten, dem jungen Franziskanermönch, Juan Gonzalez, das Leben kostete. Wie im Vorgefühl dieses schmerzhaften Verlustes, in ernster Stimmung entfernten wir uns von der Gruft eines untergegangenen Völkerstammes. Es war einer der heitern und kühlen Nächte, die unter den Wendekreisen so gewöhnlich sind. Mit farbigen Ringen umgeben, stand die Mondscheibe hoch im Zenith. Sie erleuchtete den Saum des Nebels, der in scharfen Umrissen, wolkenartig den schäumenden Fluß bedeckte. Zahllose Insekten gossen ihr röthliches Phosphorlicht über die krautbedeckte Erde. Von lebendigem Feuer glühte der Boden, als habe die sternvolle Himmelsdecke sich auf die Grasflur niedergesenkt. Rankende Bignonien, duftende Vanille, und gelbblühende Banisterien schmücken den Eingang der Höhle. Ueber dem Grabe rauschen die Gipfel der Palmen. So sterben dahin die Geschlechter der Menschen. Es verhallt die rühmliche Kunde der Völker. Doch wenn jede Blüthe des Geistes welkt, wenn im Sturm der Zeiten die Werke schaffender Kunst zerstieben, so entsprießt ewig neues Leben aus dem Schooße der Erde. Rastlos entfaltet ihre Knospen die zeugende Natur -- unbekümmert ob der frevelnde Mensch (ein nie versöhntes Geschlecht) die reifende Frucht zertritt.