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Alexander von Humboldt: „Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, von Alex. v. Humboldt. Erster Band. 16. Tübingen, in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Ueber die Wasserfälle des Orinoco bey Atures und Maypures“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1808-Ansichten_der_Natur_Wasserfaelle-01-neu> [abgerufen am 19.04.2024].

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Titel Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, von Alex. v. Humboldt. Erster Band. 16. Tübingen, in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Ueber die Wasserfälle des Orinoco bey Atures und Maypures
Jahr 1808
Ort Stuttgart; Tübingen
Nachweis
in: Morgenblatt für gebildete Stände 49 (26. Februar 1808), S. 193–195; 50 (27. Februar 1808), S. 197–199.
Postumer Nachdruck
Der Deutsche in der Landschaft, herausgegeben von Rudolf Borchardt, München: Verlag der Bremer Presse 1927, S. 141–149.
Entsprechungen in Buchwerken
Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur, Tübingen: Cotta 1808, S. 279–334.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Spaltensatz; Auszeichnung: Sperrung.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.64
Dateiname: 1808-Ansichten_der_Natur_Wasserfaelle-01-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 6
Spaltenanzahl: 11
Zeichenanzahl: 21244
Bilddigitalisate

Weitere Fassungen
Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, von Alex. v. Humboldt. Erster Band. 16. Tübingen, in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. Ueber die Wasserfälle des Orinoco bey Atures und Maypures (Stuttgart; Tübingen, 1808, Deutsch)
Der Orinoco (Brünn, 1818, Deutsch)
О водопадах рѣки Ориноко [O vodopadach rěki Orinoko] (Sankt Petersburg, 1818, Russisch)
O progach (kataraktach) rzéki Orenoko, przez Alexandra de Humboldt (Lwiw, 1819, Polnisch)
Die Knochenhöhle von Ataruipe in Amerika (Stralsund, 1828, Deutsch)
Sepulchral Cave in South America (Rochester, New York, 1834, Englisch)
Оринокскiе водопады [Orinokskie vodopady] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
О теченiи рѣки Ориноко [O tečenii rěki Orinoko] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
Sounds of Waters in the Night (Kendal, 1849, Englisch)
The Cataracts of Orinoco (Carlisle, 1849, Englisch)
Black Waters (Reading, 1849, Englisch)
Cataracts of the Orinoco (London, 1849, Englisch)
Cataracts of the Orinoco (Newcastle-upon-Tyne, 1850, Englisch)
Cataracts of the Orinoco (Edinburgh, 1852, Englisch)
|193| |Spaltenumbruch|

Anſichten der Natur mit wiſſenſchaft-lichen Erlaͤuterungen, von Alex. v. Hum-boldt. Erſter Band. 16. Tuͤbingen, in der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.

Der beruͤhmte Verfaſſer dieſer Anſichten druͤckt ſich inder Vorrede zu denſelben mit einer Beſcheidenheit aus, dieum ſo groͤßer erſcheint, je gelungener dieſe aͤſthetiſche Be-handlung naturhiſtoriſcher Gegenſtaͤnde iſt. Jeder Leſer, dereinen empfaͤnglichen Sinn fuͤr die Schoͤnheiten und Groͤßeder Natur hat, wird dieſe Reihe von Arbeiten mit deminnigſten Vergnuͤgen leſen und wiederleſen. Ueberall iſt auf den ewigen Einfluß hingewieſen, welchendie phyſiſche Natur auf die moraliſche Stimmung der Menſch-heit und auf ihre Schickſale ausuͤbt. „Bedraͤngten Gemuͤ-thern ſind, nach der Erklaͤrung des Verfaſſers, dieſe Blaͤttervorzugsweiſe gewidmet. Wer ſich herausgerettet aus derſtuͤrmiſchen Lebenswelle, folgt mir gern in das Dickicht derWaͤlder, durch die unabſehbaren Steppen und auf den hohenRuͤcken der Andeskette. Zu ihm ſpricht der weltrichtende Chor:
„Auf den Bergen iſt Freyheit! Der Hauch der Gruͤfte Steigt nicht hinauf in die reinen Luͤfte. Die Welt iſt vollkommen uͤberall, Wo der Menſch nicht hinkommt mit ſeiner Qual.“
Wer wollte nicht gern zu ſeinen Leſern gehoͤren! Als Probe theilen wir hier den Schluß des Aufſatzes mit:

Ueber die Waſſerfaͤlle des Orinocobey Atures und Maypures.

Von dem hohen Gebirgsſtock Cunavami aus, zwiſchenden Quellen der Fluͤſſe Sipapo und Ventuari, ſchiebt ſich |Spaltenumbruch| ein Granitruͤcken weit gegen Weſten, nach dem GebirgeUniama, vor. Von dieſem Ruͤcken flieſſen 4 Baͤche herab,welche die Katarakte von Maypures gleichſam begraͤnzen, andem oͤſtlichen Ufer des Orinoco der Sipapo und Sanariapo,an dem weſtlichen Ufer der Cameji und der Toparo. Wodas Dorf Maypures liegt, bilden die Berge einen weiten,gegen Suͤdweſten geoͤffneten Buſen. Der Strom fließt jetzt ſchaͤumend an dem oͤſtlichen Berg-Gehaͤnge hin. Aber fern in Weſten erkennt man das alteverlaſſene Ufer. Eine weite Grasflur dehnt ſich zwiſchenbeyden Huͤgelketten aus. In dieſer haben die Jeſuiten einekleine Kirche von Palmenſtaͤmmen gebaut. Die Ebene iſt kaum30 Fuß uͤber dem obern Waſſerſpiegel des Fluſſes erhaben. Der geognoſtiſche Anblick dieſer Gegend, die Inſelformder Felſen Keri und Oco, die Hoͤhlungen, welche die Fluthin dem erſtern dieſer Huͤgel ausgewaſchen, und welche mitden Loͤchern in der gegenuͤberliegenden Inſel Uivitari genauin gleicher Hoͤhe liegen — alle dieſe Erſcheinungen beweiſen,daß der Orinoco einſt dieſe ganze, jetzt trockene Bucht aus-fuͤllte. Wahrſcheinlich bildeten die Waſſer einen weiten See,ſo lange der noͤrdliche Damm Widerſtand leiſtete. Als derDurchbruch erfolgte, trat zuerſt die Grasflur, welche dieGuareken-Indianer bewohnen, als Inſel hervor. Vielleichtumgab der Fluß noch lange die Felſen Keri und Oco, die,wie Bergſchloͤſſer aus dem alten Strombette hervorragend,einen mahleriſchen Anblick gewaͤhren. Bey der allmaͤhligenWaſſerverminderung zogen die Waſſer ſich ganz an die oͤſtlicheBergkette zuruͤck. |194| |Spaltenumbruch| Dieſe Vermuthung wird durch mehrere Umſtaͤnde beſtaͤtigt.Der Orinoco hat naͤmlich, wie der Nil bey Philaͤ und Syene,die merkwuͤrdige Eigenſchaft, die roͤthlich-weiſſen Granit-Maſſen, die er Jahrtauſende lang benetzt, ſchwarz zu faͤrben.So weit die Waſſer reichen, bemerkt man am Felsufer einenbleyfarbenen, kohlenſtoffhaltigen Ueberzug, der kaum eineZehntellinie tief in das Innere des Geſteins eindringt.Dieſe Schwaͤrzung und die Hoͤhlungen, deren wir oben er-waͤhnten, bezeichnen den alten Waſſerſtand des Orinoco. Im Felſen Keri, in den Inſeln der Katarakten, in derHuͤgelkette Cumadaminari, die oberhalb der Inſel Tomofortlaͤuft, an der Muͤndung des Jao endlich, ſieht man jeneſchwarzen Hoͤhlungen 150 bis 180 Fuß uͤber dem heutigenWaſſerſpiegel erhaben. Ihre Exiſtenz lehrt (was uͤbrigensauch in Europa in allen Flußbetten zu bemerken iſt), daßdie Stroͤme, deren Groͤße noch jetzt unſre Bewunderungerregt, nur ſchwache Ueberreſte von der ungeheuren Waſſer-Menge der Vorzeit ſind. Selbſt den rohen Eingebornen der Guayana ſind dieſeeinfachen Bemerkungen nicht entgangen. Ueberall machtenuns die Indianer auf die Spuren des alten Waſſerſtandesaufmerkſam. Ja in einer Grasflur bey Uruana liegt einiſolirter Granitfels, in welchen (laut der Erzaͤhlung glaub-wuͤrdiger Maͤnner) in 80 Fuß Hoͤhe Bilder der Sonne, desMondes und mannichfaltiger Thiere, beſonders Bilder vonKrokodilen und Boaſchlangen, faſt reihenweiſe eingegrabenſind. Ohne Geruͤſte kann gegenwaͤrtig niemand an jenerſenkrechten Wand hinaufſteigen, welche die aufmerkſamſteUnterſuchung kuͤnftiger Reiſenden verdient. In eben dieſerwunderbaren Lage befinden ſich die hieroglyphiſchen Stein-zuͤge in den Gebirgen von Uruana und Encaramada. Fragt man die Eingebohrnen, wie jene Zuͤge eingegra-ben werden konnten, ſo antworten ſie: es ſey zur Zeit derhohen Waſſer geſchehen, weil ihre Vaͤter damals in dieſerHoͤhe ſchifften. Ein ſolcher Waſſerſtand war alſo neuer, alsdie rohen Denkmaͤhler menſchlichen Kunſtfleiſſes. Er deutetauf einen Zuſtand der Erde, welcher mit demjenigen nichtverwechſelt werden muß, in dem der erſte Pflanzenſchmuckunſeres Planeten, in dem die rieſenmaͤßigen Koͤrper ausge-ſtorbener Landthiere, und die pelagiſchen Geſchoͤpfe einerchaotiſchen Vorwelt, in der erhaͤrtenden Erdrinde ihr Grabfanden. Der noͤrdlichſte Ausgang der Katarakten iſt durch dienatuͤrlichen Bilder der Sonne und des Mondes bekannt.Der Felſen Keri, deſſen ich mehrmals erwaͤhnt, hat naͤmlichſeine Benennung von einem fernleuchtenden weiſſen Flecken,in welchem die Indianer eine auffallende Aehnlichkeit mitder vollen Mondsſcheibe zu erkennen glauben. Ich habeſelbſt nicht dieſe ſteile Felswand erklimmen koͤnnen, aberwahrſcheinlich iſt der weiſſe Flecken ein maͤchtiger Quarzkno-ten, den zuſammenſcharrende Gaͤnge in dem graulichſchwar-zen Granite bilden. |Spaltenumbruch| Dem Keri gegenuͤber, auf dem baſaltaͤhnlichen Zwil-lingsberge der Inſel Ouivitari, zeigen die Indianer mitgeheimnißvoller Bewunderung eine aͤhnliche Scheibe, die ſieals das Bild der Sonne, Camoſi, verehren. Vielleichthat die geographiſche Lage beyder Felſen mit zu dieſer Be-nennung beygetragen, denn in der That fand ich Keri gegenAbend, und Camoſi gegen Morgen gerichtet. Sprachfor-ſcher werden in dem amerikaniſchen Worte Camoſi die Aehn-lichkeit mit Camosh, dem Sonnennamen in einem der phoͤ-niziſchen Dialekte, erkennen. Die Katarakten von Maypures beſtehen nicht, wie der140 Fuß hohe Fall des Niagara, in dem einmaligen Herab-ſtuͤrzen einer großen Waſſermaſſe. Sie ſind auch nicht Fluß-Engen, Paͤſſe, durch welche ſich der Strom mit beſchleunig-ter Geſchwindigkeit durchdraͤngt, wie der Pongo von Man-ſeriche im Amazonenfluße. Sie erſcheinen als eine zahlloſeMenge kleiner Kaskaden, die wie Staffeln auf einanderfolgen. Der Raudal, ſo nennen die Spanier dieſe Art vonKatarakten, wird durch einen Archipelagus von Inſeln undKlippen gebildet, welche das 8000 Fuß weite Flußbettedermaßen verengen, daß oft kaum ein 20 Fuß breites freyesFahrwaſſer uͤbrig bleibt. Die oͤſtliche Seite iſt gegenwaͤrtigweit unzugaͤnglicher und gefahrvoller, als die weſtliche. An dem Ausfluß des Cameji ladet man die Guͤter aus,um das leere Kanoe, oder, wie man hier ſagt, die Pira-gua, durch die des Raudals kundigen Indianer bis zurMuͤndung des Toparo zu fuͤhren, wo man die Gefahr fuͤruͤberwunden haͤlt. Sind die einzelnen Klippen oder Staffeln(jede derſelben wird mit einem eigenen Namen bezeichnet)nicht uͤber 2 bis 3 Fuß hoch, ſo wagen es die Eingebornen,ſich mit dem Kanoe herabzulaſſen. Geht aber die Fahrtſtromaufwaͤrts, ſo ſchwimmen ſie voran, ſchlingen nach vie-ler vergeblicher Anſtrengung ein Seil um die Felsſpitzen,welche aus dem Strudel hervorragen, und ziehen, mittelſtdieſes Seils, das Fahrzeug aufwaͤrts. Bey dieſer muͤhevollenArbeit wird das letztere oft gaͤnzlich mit Waſſer gefuͤllt oderumgeſtuͤrzt. Bisweilen, und dieſen Fall allein beſorgen die Einge-bornen, zerſchellt das Kanoe auf der Klippe. Mit bluti-gem Koͤrper ſuchen ſich dann die Lootſen dem Strudel zuentwinden, und ſchwimmend das Ufer zu erreichen. Wodie Staffeln ſehr hoch ſind, wo der Felsdamm das ganzeBette durchſetzt, wird der leichte Kahn aus Land gebracht,und am nahen Ufer auf untergelegten Baumzweigen, wieauf Walzen, eine Strecke fortgezogen. Die berufenſten und ſchwierigſten Staffeln ſind Purima-rimi und Manimi. Sie haben 9 Fuß Hoͤhe. Mit Erſtau-nen habe ich durch Barometermeſſungen gefunden (ein geo-detiſches Nivellement iſt wegen der Unzugaͤnglichkeit des Lo-kals, und bey der verpeſteten mit zahlloſen Mosquitos ge-fuͤllten Luft, nicht auszufuͤhren), daß das ganze Gefaͤlledes Raudals, von der Muͤndung des Cameji bis zu der des |195| |Spaltenumbruch| Toparo, kaum 28 bis 30 Fuß betraͤgt. Ich ſage: mit Er-ſtaunen; denn man erkennt daraus, daß das fuͤrchterlicheGetoͤſe und das wilde Aufſchaͤumen des Flußes Folge derVerengung des Bettes durch zahlloſe Klippen und Inſeln,Folge des Gegenſtromes iſt, den die Form und Lage derFelsmaſſen erregt. Von der Wahrheit dieſer Behauptung,von der geringen Hoͤhe des ganzen Gefaͤlles, uͤberzeugt manſich am beſten, wenn man aus dem Dorfe Maypures uͤberden Felſen Manimi zum Flußbette herabſteigt. Hier iſt der Punkt, wo man eines wundervollen Anblicksgenießt. Eine meilenlange ſchaͤumende Flaͤche bietet ſich aufeinmal dem Auge dar. Eiſenſchwarze Felsmaſſen ragenburgartig aus derſelben hervor. Jede Inſel, jeder Steiniſt mit uͤppiganſtrebenden Waldbaͤumen geſchmuͤckt. DichterNebel ſchwebt ewig uͤber dem Waſſerſpiegel. Durch diedampfende Schaumwolke dringt der Gipfel der hohen Pal-men. Wenn ſich im feuchten Dufte der Strahl der gluͤhen-den Abendſonne bricht, ſo beginnt ein optiſcher Zauber.Farbige Boͤgen verſchwinden und kehren wieder. Ein Spielder Luͤfte, ſchwankt das aͤtheriſche Bild. Umher auf den nackten Felſen, haben die rieſelnden Waſ-ſer in der langen Regenzeit Inſeln von Dammerde zuſam-mengehaͤuft. Mit Droſeren, mit ſilberblaͤttrigen Mimoſenund mannichfaltigen Kraͤutern geſchmuͤckt, bilden ſie Blu-menbeete mitten auf dem oͤden Geſtein. Sie rufen bey demEuropaͤer das Andenken an jene Pflanzengruppen zuruͤck,welche die Alpenbewohner Courtils nennen; Granitbloͤckemit Bluͤthen bedeckt, die einſam aus den Savoyiſchen Glet-ſchern hervorragen. In blauer Ferne ruht das Auge auf der GebirgsketteCunavami, einem langgedehnten Bergruͤcken, der prallig ineinem abgeſtumpften Kegel ſich endigt. Den letztern (Ca-litamini iſt ſein indiſcher Name) ſahen wir bey untergehen-der Sonne wie in roͤthlichem Feuer gluͤhen. Dieſe Erſchei-nung kehrt taͤglich wieder. Niemand iſt je in der Naͤhedieſer Berge geweſen. Vielleicht ruͤhrt der Glanz von einerſpiegelnden Abloͤſung des Talk- oder Glimmerſchiefers her. (Der Beſchluß folgt.) |Spaltenumbruch| |197| |Spaltenumbruch|

Anſichten der Natur mit wiſſenſchaftlichenErlaͤuterungen, von A. v. Humboldt. (Beſchluß.)

Waͤhrend der 5 Tage, welche wir in der Naͤhe derKatarakten zubrachten, war es uns auffallend, wie man dasGetoͤſe des tobenden Stroms dreymal ſtaͤrker bey Nacht alsbey Tage vernimmt. Bey allen europaͤiſchen Waſſerfaͤllenbemerkt man die naͤmliche Erſcheinung. Was kann dieUrſache derſelben in einer Einoͤde ſeyn, wo nichts die Ruheder Natur unterbricht? Wahrſcheinlich der Strom aufſtei-gender warmer Luft, welcher der Fortpflanzung des Schalleshinderlich iſt, und welcher nach der naͤchtlichen Erkaͤltungder Erdrinde aufhoͤrt. Die Indianer zeigten uns Spuren von Wagengeleiſen.Sie reden mit Bewunderung von den gehoͤrnten Thieren,Ochſen, die zur Zeit, als hier die Jeſuiten ihr Bekehrungs-Geſchaͤft trieben, die Kanoes auf Wagen auf dem linkenOrinoco-Ufer von der Muͤndung des Cameji zu der desToparo zogen. Die Fahrzeuge blieben damals beladen, undwurden nicht wie jetzt durch das beſtaͤndige Stranden undHinſchieben auf den rauhen Klippen abgenutzt. Der Situationsplan, welchen ich von der umliegendenGegend entworfen habe, zeigt, daß ſelbſt ein Kanal vonCameji zum Toparo eroͤffnet werden kann. Das Thal, inwelchem jene waſſerreichen Baͤche flieſſen, iſt ſanftverflaͤcht.Der Kanal, deſſen Ausfuͤhrung ich dem Generalgouverneurvon Venezuela im Sommer 1800 vorgeſchlagen, wuͤrde, als |Spaltenumbruch| ein ſchiffbarer Seitenarm des Fluſſes, das alte gefahrvolleStrombette entbehrlich machen. Der Raudal von Atures iſt ganz dem von Maypuresaͤhnlich; wie dieſer eine Inſelwelt, zwiſchen welcher derStrom ſich in einer Laͤnge von 3—4000 Toiſen durchdraͤngt;ein Palmengebuͤſch, mitten aus dem ſchaͤumenden Waſſer-Spiegel hervortretend. Die berufenſten Staffeln der Kata-rakte liegen zwiſchen den Inſeln Avaguri und Javariveni,zwiſchen Suripamana und Uirapuri. Als wir, Hr. Bonpland und ich, von den Ufern desRio Negro zuruͤckkehrten, wagten wir es, die letzte oderuntere Haͤlfte des Raudals von Atures mit dem beladenenKanoe zu paſſiren. Wir ſtiegen mehrmals auf den Klippenaus, die, als Daͤmme, Inſel mit Inſel verbinden. Baldſtuͤrzen die Waſſer uͤber dieſe Daͤmme weg, bald fallen ſiemit dumpfem Getoͤſe in das Innere derſelben. Daher ſindoft ganze Strecken des Flußbettes trocken, weil der Stromſich durch unterirdiſche Kanaͤle einen Weg bahnt. Hier niſtendie goldgelben Klippenhuͤhner (Pipra rupicola), einer derſchoͤnſten Voͤgel der Tropenwelt, mit doppelter beweglicherFederkrone, ſtreitbar wie der oſtindiſche Haushahn. Im Raudal von Canucari bilden aufgethuͤrmte Granit-Kugeln den Felsdamm. Wir krochen dort in das Innereeiner Hoͤhle, deren feuchte Waͤnde mit Conſerven und leuch-tendem Biſſus bedeckt waren. Mit fuͤrchterlichem Getoͤſerauſchte der Fluß hoch uͤber uns weg. Wir fanden zufaͤlligGelegenheit, dieſe große Naturſcene laͤnger, als wir wuͤnſch-ten, zu genieſſen. Die Indianer hatten uns naͤmlich mitten |198| |Spaltenumbruch| in der Katarakte verlaſſen. Das Kanoe ſollte eine ſchmaleInſel umſchiffen, um uns, nach einem langen Umwege, ander untern Spitze derſelben wiederum aufzunehmen. An-derthalb Stunden lang harrten wir, bey fuͤrchterlichem Ge-witterregen. Die Nacht brach ein; wir ſuchten vergebensSchutz zwiſchen den kluͤftigen Granitmaſſen. Die kleinenAffen, welche wir Monate lang in geflochtenen Kaͤfigen mituns fuͤhrten, lockten durch ihr klagendes Geſchrey Krokodileherbey, deren Groͤße und bleygraue Farbe ein hohes Alterandeuteten. Ich wuͤrde dieſer im Orinoco ſo gewoͤhnlichenErſcheinung nicht erwaͤhnen, haͤtten uns nicht die Indianerverſichert, kein Krokodil ſey je in den Katarakten geſehenworden. Ja im Vertrauen auf ihre Behauptung hattenwir es mehrmals gewagt, uns in dieſem Theile des Fluſſeszu baden. Indeſſen nahm die Beſorgniß, daß wir durchnaͤßt, undvon dem Donner des Waſſerſturzes betaͤubt, die lange Tro-pennacht mitten im Raudal durchwachen muͤßten, mit jedemAugenblicke zu, bis die Indianer mit unſerm Kanoe er-ſchienen. Sie hatten die Staffel, auf der ſie ſich herablaſſenwollten, bey allzuniedrigem Waſſerſtande unzugaͤnglich gefun-den. Die Lootſen waren genoͤthigt geweſen, in dem Labyrinthvon Kanaͤlen ein zugaͤnglicheres Fahrwaſſer zu ſuchen. Am ſuͤdlichen Eingange des Raudals von Atures, amrechten Ufer des Fluſſes, liegt die unter den Indianernweit berufene Hoͤhle von Ataruipe. Die Gegend umher hateinen großen und ernſten Natur-Charakter, der ſie gleichſamzu einem Nationalbegraͤbniſſe eignet. Man erklimmt muͤh-ſam, ſelbſt nicht ohne Gefahr herabzurollen, eine ſteile,voͤllig nackte Granitwand. Es wuͤrde kaum moͤglich ſeyn,auf der glatten Flaͤche feſten Fuß zu faſſen, traͤten nichtgroße Feldſpathkriſtalle, der Verwitterung trotzend, zolllangaus dem Geſteine hervor. Kaum iſt die Kuppe erreicht, ſo wird man durch eineweite Ausſicht uͤber die umliegende Gegend uͤberraſcht. Ausdem ſchaͤumenden Flußbette erheben ſich mit Wald geſchmuͤckteHuͤgel. Jenſeits des Stromes, uͤber das weſtliche Uferhinweg, ruht der Blick auf der unermeßlichen Grasflur desMeta. Am Horizont erſcheint, wie drohend aufziehendesGewoͤlk, das Gebirge Uniama. So die Ferne; aber naheumher iſt alles oͤde und eng. Im tief gefurchten Thaleſchweben einſam der Geyer und die kraͤchzenden Caprimulge.An der nackten Felswand ſchleicht ihr ſchwindender Schat-ten hin. Dieſer Keſſel iſt von Bergen begraͤnzt, deren abgerundeteGipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Durchmeſſerdieſer Kugeln betraͤgt 40 bis 50 Fuß. Sie ſcheinen die Unter-lage nur in einem einzigen Punkte zu beruͤhren, eben alsmuͤßten ſie, bey dem ſchwaͤchſten Erdſtoße, herabrollen. Der hintere Theil des Felsthals iſt mit dichtem Laubholzebedeckt. An dieſem ſchattigen Orte oͤffnet ſich die Hoͤhlevon Ataruipe; eigentlich nicht Hoͤhle, ſondern ein Gewoͤlbe, |Spaltenumbruch| eine weit uͤberhaͤngende Klippe, eine Bucht, welche dieWaſſer, als ſie einſt dieſe Hoͤhe erreichten, ausgewaſchenhaben. Die Hoͤhle ſelbſt iſt die Gruft eines vertilgtenVoͤlkerſtammes. Wir zaͤhlten ungefaͤhr 600 wohlerhalteneSkelette, in eben ſo vielen Koͤrben, welche von den Stielendes Palmenlaubes geflochten ſind. Dieſe Koͤrbe, die dieIndianer Mapires nennen, bilden eine Art viereckiger Saͤcke,die nach dem Alter des Verſtorbenen von verſchiedener Groͤßeſind. Selbſt neugeborne Kinder haben ihre eigenen Mapire.Ihre Skelette ſind ſo vollſtaͤndig, daß keine Rippe, keinePhalange fehlt. Die Knochen ſind auf dreyerlei Weiſe zubereitet; theilsgebleicht, theils mit Onoto, dem Pigment der Bixa orel-lana, rothgefaͤrbt, theils mumienartig zwiſchen wohlriechen-dem Harze in Piſangblaͤtter eingeknetet. Die Indianer verſichern, man grabe den friſchen Leich-nam auf einige Monate in feuchte Erde, welche das Mus-kelfleiſch allmaͤhlig verzehre; dann ſcharre man ihn aus, undſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des Fleiſches von denKnochen ab. Dies ſey noch der Gebrauch mancher Hordender Guayana. Neben den Mapires oder Koͤrben findet manauch Urnen von halbgebranntem Thone, welche die Knochenvon ganzen Familien zu enthalten ſcheinen. Die groͤßern dieſer Urnen ſind 3 Fuß hoch und 5 1∫2 Fußlang, von angenehmer ovaler Form, gruͤnlich, mit Henkelnin Geſtalt von Krokodilen und Schlangen, an dem obernRande mit Meandern und Labyrinthen geſchmuͤckt. DieſeVerzierungen ſind ganz denen aͤhnlich, welche die Waͤndedes mexikaniſchen Pallaſtes bey Mitla bedecken. Man findetſie unter allen Zonen, auf den verſchiedenſten Stufen menſch-licher Kultur; unter Griechen und Roͤmern, am ſogenann-ten Tempel des Deus rediculus bey Rom, wie auf denSchildern der Otaheiter; uͤberall, wo rhythmiſche Wieder-holung regelmaͤßiger Formen dem Auge ſchmeichelte. DieUrſachen dieſer Aehnlichkeiten beruhen, wie ich an einemandern Orte entwickelt habe, mehr auf pſychiſchen Gruͤnden,auf der innern Natur unſerer Geiſtesanlagen, als ſie Gleich-heit der Abſtammung und altes Verkehr der Voͤlker beweiſen. Unſere Dolmetſcher konnten keine ſichere Auskunft uͤberdas Alter dieſer Gefaͤße geben. Die mehrſten Skeletteſchienen indeß nicht uͤber 100 Jahr alt zu ſeyn. Es gehtdie Sage unter den Guareken-Indianern, die tapferen Atu-rer haben ſich, von menſchenfreſſenden Kariben bedraͤngt, aufdie Klippen der Katarakten gerettet; ein trauriger Wohnſitz,in welchem der bedraͤngte Voͤlkerſtamm und mit ihm ſeineSprache unterging. In dem unzugaͤnglichſten Theile desRandals befinden ſich aͤhnliche Gruͤfte; ja es iſt wahrſchein-lich, daß die letzte Familie der Aturer erſt ſpaͤt ausgeſtorbenſey. Denn in Maypures (ein ſonderbares Faktum) lebtnoch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten,daß man ihn darum nicht verſtehe, weil er die Sprache derAturer rede. |199| |Spaltenumbruch| Wir verließen die Hoͤhle bey einbrechender Nacht, nach-dem wir mehrere Schaͤdel und das vollſtaͤndige Skelett einesbejahrten Mannes, zum groͤßten Aergerniß unſerer indiani-ſchen Fuͤhrer, geſammelt hatten. Einer dieſer Schaͤdel iſtvon Herrn Blumenbach in ſeinem vortrefflichen kranio-logiſchen Werke abgebildet worden. Das Skelett aber iſt,wie ein großer Theil unſerer Sammlungen, in einem Schiff-bruch untergegangen, der an der afrikaniſchen Kuͤſte unſermFreunde und ehemaligen Reiſegefaͤhrten, dem jungen Fran-ziskanermoͤnch, Juan Gonzalez, das Leben koſtete. Wie im Vorgefuͤhl dieſes ſchmerzhaften Verluſtes, inernſter Stimmung, entfernten wir uns von der Gruft einesuntergegangenen Voͤlkerſtammes. Es war eine der heiternund kuͤhlen Naͤchte, die unter den Wendekreiſen ſo gewoͤhn-lich ſind. Mit farbigen Ringen umgeben, ſtand die Mond-ſcheibe hoch im Zenith. Sie erleuchtete den Saum desNebels, der in ſcharfen Umriſſen, wolkenartig, den ſchaͤu-menden Fluß bedeckte. Zahlloſe Inſekten goſſen ihr roͤthli-ches Phosphorlicht uͤber die krautbedeckte Erde. Von leben-digem Feuer gluͤhte der Boden, als habe die ſternvolleHimmelsdecke ſich auf die Grasflur niedergeſenkt. RankendeBignonien, duftende Vanille, und gelbbluͤhende Baniſterienſchmuͤcken den Eingang der Hoͤhle. Ueber dem Grabe rau-ſchen die Gipfel der Palmen. So ſterben dahin die Geſchlechter der Menſchen. Es verhalltdie ruͤhmliche Kunde der Voͤlker. Doch wenn jede Bluͤthedes Geiſtes welkt, wenn im Sturm der Zeiten die Werkeſchaffender Kunſt zerſtieben, ſo entſprießt ewig neues Lebenaus dem Schooße der Erde. Raſtlos entfaltet ihre Knospendie zeugende Natur — unbekuͤmmert, ob der frevelnde Menſch(ein nie verſoͤhntes Geſchlecht) die reifende Frucht zertritt.