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Alexander von Humboldt: „Erdeessende Menschen“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1807-Ueber_die_erdefressenden-30-neu> [abgerufen am 19.04.2024].

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https://humboldt.unibe.ch/text/1807-Ueber_die_erdefressenden-30-neu
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Titel Erdeessende Menschen
Jahr 1853
Ort Hildburghausen; New York City, New York
Nachweis
in: Meyer’s Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Naturkunde, 102 Bände, Hildburghausen/New York: Bibliographisches Institut/Herrmann J. Meyer [o. J., ca. 1853–1855], Band 47 [o. J., ca. 1853], S. [90]–94.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur; Antiqua für Fremdsprachiges; Auszeichnung: Sperrung.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.58
Dateiname: 1807-Ueber_die_erdefressenden-30-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 5
Zeichenanzahl: 8918

Weitere Fassungen
Ueber die erdefressenden Otomaken (Stuttgart; Tübingen, 1807, Deutsch)
Ueber die erdefressenden Otomaken (München, 1807, Deutsch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Paris, 1808, Französisch)
Dei Popoli che mangiano terra (Mailand, 1808, Italienisch)
Berigt Aangaande Zekere Volken, die Aarde Eten (Haarlem, 1808, Niederländisch)
Sur les Peuples qui mangent de la Terre (London, 1808, Französisch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Brüssel, 1808, Französisch)
Die Gewohnheit der Indianer Erde zu essen (Hamburg, 1808, Deutsch)
Die Gewohnheit der Indianer, Erde zu essen (Berlin, 1808, Deutsch)
Gummi und Erde genießende Völker (Basel, 1809, Deutsch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Paris, 1809, Französisch)
Account of the Ottomacs, a People who eat Clay (Edinburgh, 1810, Englisch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Köln, 1810, Französisch)
An Account of The Ottomans, who eat clay (Lancaster, 1810, Englisch)
An Account of the Ottomacs, who eat clay (London, 1810, Englisch)
Отрывокъ изъ Обозрѣнiя степей, соч. славнаго Путешественника Гумбольдта [Otryvok iz Obozrěnija stepej, soč. slavnago Putešestvennika Gumbolʹdta] (Moskau, 1818, Russisch)
Die Otomaken oder Erde fressenden Menschen in Cumana und Caraccas (Brünn, 1818, Deutsch)
Die Otomaken oder erdefressenden Menschen in Cumana und Caraccas (Wien, 1818, Deutsch)
M. de Humboldt (Paris, 1823, Französisch)
Отомаки, питающiеся землею и камедью [Otomaki, pitajuščiesja zemleju i kamedʹju] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
Feeding upon Earth (Manchester, 1849, Englisch)
Aard-Eters (Amsterdam, 1849, Niederländisch)
Das Erdessen der Indianer (Stuttgart, 1852, Deutsch)
Aard-eters (Zierikzee, 1850, Niederländisch)
Earth-eating Indians (Ennis, 1850, Englisch)
Earth-eating Indians (Hereford, 1850, Englisch)
Des populations se nourrissant de terre glaise (Paris, 1851, Französisch)
Clay-Eaters of South America (Boston, Massachusetts, 1851, Englisch)
Delle genti che si nutriscono d’argilla (Mailand, 1851, Italienisch)
Erdeessende Menschen (Hildburghausen; New York City, New York, 1853, Deutsch)
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Erdeeſſende Menſchen.

(Von Alex. v. Humboldt.) An den Küſten von Cumana, Neu-Barcelona und Ca-racas, welche die Franciskaner-Mönche der Guyana aufihrer Rückkehr aus den Miſſionen beſuchen, iſt die Sagevon erdefreſſenden Menſchen am Orinoco weit ver-breitet. Wir haben (am 6. Junius 1800) auf unſererRückreiſe vom Rio Negro, als wir in 36 Tagen den Ori-noco herabſchifften, einen Tag in der Miſſion zugebracht,die von den erdefreſſenden Otomaken bewohnt wird. DasDörfchen heißt la Concepcion de Uruana, und iſtſehr maleriſch an einem Granitfelſen angelehnt. Seinegeographiſche Lage fand ich unter 7° 8′ 3″ nördl. Breiteund nach einer chronometriſchen Beſtimmung 4h 38′ 38″weſtl. Länge von Paris. Die Erde, welche die Oto-maken verzehren, iſt ein fetter milder Letten, wahrer Tö-pferthon von gelblichgrauer Farbe, mit etwas Eiſenoxydgefärbt. Sie wählen ihn ſorgfältig aus, und ſuchen ihnin eigenen Bänken am Ufer des Orinoco und Meta. Sieunterſcheiden im Geſchmack eine Erdart von der anderen,denn aller Leiten iſt ihnen nicht gleich angenehm. Siekneten dieſe Erde in Kugeln von 4 bis 6 Zoll Durchmeſſerzuſammen, und brennen ſie äußerlich bei ſchwachem Feuer,bis die Rinde röthlich wird. Beim Eſſen wird die Kugel |91| wieder befeuchtet. Dieſe Indianer ſind größtentheils wilde,Pflanzenbau verabſcheuende Menſchen. Es iſt ein Sprüch-wort unter den entfernteſten Nationen am Orinoco, vonetwas recht Unreinlichen zu ſagen: ſo ſchmutzig, daß esder Otomake frißt. So lange der Orinoco und der Meta niedriges Waſ-ſer haben, leben dieſe Menſchen von Fiſchen und Schild-kröten. Erſtere werden durch Pfeile erlegt, wenn ſie aufdie Oberfläche des Waſſers kommen: eine Jagd, bei derwir oft die große Geſchicklichkeit der Indianer bewunderthaben. Schwellen die Ströme periodiſch an, ſo hört derFiſchfang auf; denn im tiefen Flußwaſſer iſt es ſo ſchwer,als im tiefen Ocean zu fiſchen. In dieſer Zwiſchenzeit,die 2 bis 3 Monate dauert, ſieht man die Otomaken un-geheuere Quantitäten Erde verſchlingen. Wir haben in ih-ren Hütten große Vorräthe davon gefunden: pyramidaleHaufen, in denen die Lettenkugeln zuſammengehäuft waren.Ein Indianer verzehrt, wie uns der verſtändige MönchFray Ramon Bueno, aus Madrid gebürtig (der 12Jahre lang unter dieſen Indianern gelebt), verſicherte, aneinem Tage ¾ bis \( \frac{5}{4} \) Pfund. Nach der Ausſage derOtomaken ſelbſt iſt dieſe Erde in der Epoche der Regenzeitihre Hauptnahrung. Sie eſſen indeß dabei hier und da(wenn ſie es ſich verſchaffen können) eine Eidechſe, einenkleinen Fiſch und eine Farnkraut-Wurzel. Ja, ſie ſind nachdem Letten ſo lüſtern, daß ſie ſelbſt in der trockenen Jah-reszeit, wenn ſie Fiſchnahrung genug haben; doch als Lek-kerbiſſen täglich nach der Mahlzeit etwas Erde verzehren. Dieſe Menſchen haben eine dunkel kupferbraune Farbe.Sie ſind von unangenehmen tatariſchen Geſichtszügen, feiſt,aber nicht dickbäuchig. Der Franciskaner-Mönch, welcherals Miſſionar unter ihnen lebte, verſicherte, daß er in demBefinden der Otomaken während des Erde-Verſchlingenskeine Veränderung bemerkte. Die einfachen Thatſachen ſindalſo dieſe: Die Indianer verzehren große Quantitäten Let-ten, ohne ihrer Geſundheit zu ſchaden; ſie ſelbſt halten die |92| Erde für einen Nahrungsſtoff, d. h. ſie fühlen ſich durchihren Genuß auf lange Zeit geſättigt. Sie ſchreiben dieſeSättigung dem Letten, nicht der anderweitigen ſparſamen Nah-rung zu, welche ſie neben der Erde ſich hier und da zuverſchaffen wiſſen. Befragt man den Otomaken nach ſei-nem Wintervorrath (Winter pflegt man im heißen Süd-amerika die Regenzeit zu nennen), ſo zeigt er auf die Erd-haufen in ſeiner Hütte. Aber dieſe einfachen Thatſachenentſcheiden noch gar nicht die Fragen: Kann der Lettenwirklich Nahrungsſtoff ſeyn? Können Erden aſſimilirt wer-den? oder dienen ſie nur als Ballaſt im Magen? Deh-nen ſie bloß die Wände deſſelben aus, und verſcheuchen ſieauf dieſe Weiſe den Hunger? Ueber alle dieſe Fragen kannich nicht entſcheiden. Auffallend iſt es, daß der ſonſt ſoüberaus leichtgläubige und unkritiſche Pater Gumilla das Erdefreſſen als ſolches geradezu leugnet. Er behauptet,die Lettenkugeln ſeyen mit Maismehl und Krokodilfett in-nigſt vermengt. Aber der Miſſionar Fray Ramon Bueno und unſer Freund und Reiſegefährte, der Laienbruder Fray Juan Gonzaley, den das Meer an den afrikaniſchen Kü-ſten mit einem Theil unſerer Sammlungen verſchlang, ha-ben uns beide verſichert, daß die Otomaken den Letten niemit Krokodilfett mengen. Vom beigemiſchten Mehl habenwir vollends in Uruana gar nichts gehört. Die Erde, welche wir mitgebracht und welche Vauque-lin chemiſch unterſucht hat, iſt ganz rein und ungemengt.Sollte Gumilla, aus Verwechſelung heterogener Thatſachen,auf die Brodbereitung aus der langen Schote einer Juga-Art auſpielen wollen? Dieſe Frucht wird allerdings in dieErde vergraben, damit ſie früher zu rotten beginne. Daßdie Otomaken durch den Genuß ſo vieler Erde nicht erkran-ken, ſcheint mir beſonders auffallend.. Iſt dieſes Volk ſeitvielen Generationen an dieſen Reiz gewöhnt? In allen Tropenländern haben die Menſchen eine wun-derbare, faſt unwiderſtehliche Begierde Erde zu verſchlingen,und zwar nicht ſogenannte alkaliſche (Kalkerde), um etwa |93| Säuren zu neutraliſiren, ſondern fetten, ſtark riechendenLetten. Kinder muß man oft einſperren, damit ſie nachfriſch gefallenem Regen nicht in’s Freie laufen und Erdeeſſen. Die indianiſchen Weiber, welche am Magdalenen-fluſſe im Dörfchen Banco Töpfe drehen, fahren, wie ichmit Verwunderung beobachtet, während der Arbeit mitgroßen Portionen Letten nach dem Munde. Auch die Wölfefreſſen im Winter Erde, beſonders Letten. Es wäre ſehrwichtig, die Exkremente aller erdefreſſenden Menſchen undThiere genau zu unterſuchen. Außer den Otomaken er-kranken die Individuen aller anderen Volksſtämme, wennſie dieſer ſonderbaren Neigung nach dem Genuß des Let-tens lange nachgeben. In der Miſſion San Borja fandenwir das Kind einer Indianerin, das nach Ausſage der Mut-ter faſt nichts als Erde genießen wollte, dabei aber auchſchon ſkeletartig abgezehrt war. Warum iſt in den gemäßigten und kalten Zonen dieſekrankhafte Begierde nach Erde um ſo viel ſeltener, und faſtnur auf Kinder und ſchwangere Frauen eingeſchränkt? Mandarf dagegen behaupten, daß in den Tropenländern allerWelttheile das Erde-Eſſen einheimiſch ſey. In Guineaeſſen die Neger eine gelbliche Erde, welche ſie Cacuac nennen. Werden ſie als Sklaven nach Weſtindien gebracht,ſo ſuchen ſie ſich dort eine ähnliche zu verſchaffen. Sieverſichern dabei, das Erde-Eſſen ſey in ihrem afrikaniſchenVaterlande ganz unſchädlich. Dagegen macht der Cacuacder amerikaniſchen Inſeln die Sklaven krank. Deshalbwar längſt das Erde-Eſſen auf den Antillen verboten, obman gleichwohl 1751 in Martinique heimlich Erde (un tufrouge, jaunâtre) auf den Märkten verkaufte. Auf der In-ſel Java zwiſchen Surabaya und Samarang ſah Labil-lardière in den Dörfern kleine viereckige röthliche Kuchenverkaufen. Die Eingeborenen nennen ſie tana ampo (tanah bedeutet in malayiſcher und javaniſcher Sprache Erde).Als er ſie näher unterſuchte, fand er, daß es Kuchen vonröthlichem Letten waren, welche gegeſſen werden. Der eß- |94| bare Letten von Samarang iſt neuerlichſt (1847) in Ge-ſtalt gekräuſelter, zimmtartiger Röhren von Mohnike nach Berlin geſchickt und von Ehrenberg unterſuchtworden. Es iſt ein Süßwaſſer-Gebilde, auf Tertiärkalkaufgeſetzt, aus mikroſkopiſchen Magenthieren (Gallionella,Navicula) und Phytolitharien beſtehend. Die Einwohnervon Neu-Kaledonien eſſen, um ihren Hunger zu ſtillen,fauſtgroße Stücke von zerreiblichem Speckſtein, in dem Vau-quelin dazu noch einen nicht unbeträchtlichen Kupfergehaltgefunden. In Popayan und in mehreren Theilen von Peruwird Kalkerde als Eßwaare für die Indianer in den Stra-ßen feil geboten. Dieſer Kalk wird mit der Coca (denBlättern des Erythroxylon peruvianum) genoſſen. Sofinden wir das Erde-Eſſen in der ganzen heißen Zone un-ter trägen Menſchenracen verbreitet, welche die herrlichſtenund fruchtbarſten Theile der Welt bewohnen. Aber auchaus dem Norden ſind durch Berzelius und Retzius Nachrichten gekommen, denen zufolge im äußerſten Schwe-den Infuſorien-Erde zu Hunderten von Wagenladungenjährlich als Brodmehl, mehr noch aus Liebhaberei (wie manTabak raucht) denn aus Noth, von dem Landvolk gegeſſenwird. In Finnland miſcht man dergleichen Erden hier undda zum Brode. Es ſind leere Schalen von Thierchen, ſoklein und zart, daß ſie beim Zuſammenbeißen der Zähnenicht bemerkt werden, füllend ohne eigentliche Nahrung.In Kriegszeiten erwähnen die Chroniken und archivariſchenDokumente oft des Genuſſes der Infuſorienerde unter demunbeſtimmten und allgemeinen Namen Bergmehl: ſo im30jährigen Kriege in Pommern (bei Camin), in der Lau-ſitz (bei Muskau), im Deſſauiſchen (bei Klieken); ſpäter,1719 und 1733, in der Feſtung Wittenberg.