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Alexander von Humboldt: „Die Otomaken oder Erde fressenden Menschen in Cumana und Caraccas“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1807-Ueber_die_erdefressenden-17-neu> [abgerufen am 20.04.2024].

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https://humboldt.unibe.ch/text/1807-Ueber_die_erdefressenden-17-neu
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Titel Die Otomaken oder Erde fressenden Menschen in Cumana und Caraccas
Jahr 1818
Ort Brünn
Nachweis
in: Franz Sartori, Ueberlieferungen aus der neuen Welt, oder die Staaten, Colonien und Völker jenseits des Meeres, der Schauplatz gewaltiger Ereignisse, das Augenmerk von ganz Europa, 2 Bände, Brünn: Joseph Georg Traßler 1818, Band 1, S. [129]–134.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur; Antiqua für Fremdsprachiges; Schmuck: Initialen.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.58
Dateiname: 1807-Ueber_die_erdefressenden-17-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 6
Zeichenanzahl: 7522

Weitere Fassungen
Ueber die erdefressenden Otomaken (Stuttgart; Tübingen, 1807, Deutsch)
Ueber die erdefressenden Otomaken (München, 1807, Deutsch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Paris, 1808, Französisch)
Dei Popoli che mangiano terra (Mailand, 1808, Italienisch)
Berigt Aangaande Zekere Volken, die Aarde Eten (Haarlem, 1808, Niederländisch)
Sur les Peuples qui mangent de la Terre (London, 1808, Französisch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Brüssel, 1808, Französisch)
Die Gewohnheit der Indianer Erde zu essen (Hamburg, 1808, Deutsch)
Die Gewohnheit der Indianer, Erde zu essen (Berlin, 1808, Deutsch)
Gummi und Erde genießende Völker (Basel, 1809, Deutsch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Paris, 1809, Französisch)
Account of the Ottomacs, a People who eat Clay (Edinburgh, 1810, Englisch)
Sur les peuples qui mangent de la terre (Köln, 1810, Französisch)
An Account of The Ottomans, who eat clay (Lancaster, 1810, Englisch)
An Account of the Ottomacs, who eat clay (London, 1810, Englisch)
Отрывокъ изъ Обозрѣнiя степей, соч. славнаго Путешественника Гумбольдта [Otryvok iz Obozrěnija stepej, soč. slavnago Putešestvennika Gumbolʹdta] (Moskau, 1818, Russisch)
Die Otomaken oder Erde fressenden Menschen in Cumana und Caraccas (Brünn, 1818, Deutsch)
Die Otomaken oder erdefressenden Menschen in Cumana und Caraccas (Wien, 1818, Deutsch)
M. de Humboldt (Paris, 1823, Französisch)
Отомаки, питающiеся землею и камедью [Otomaki, pitajuščiesja zemleju i kamedʹju] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
Feeding upon Earth (Manchester, 1849, Englisch)
Aard-Eters (Amsterdam, 1849, Niederländisch)
Das Erdessen der Indianer (Stuttgart, 1852, Deutsch)
Aard-eters (Zierikzee, 1850, Niederländisch)
Earth-eating Indians (Ennis, 1850, Englisch)
Earth-eating Indians (Hereford, 1850, Englisch)
Des populations se nourrissant de terre glaise (Paris, 1851, Französisch)
Clay-Eaters of South America (Boston, Massachusetts, 1851, Englisch)
Delle genti che si nutriscono d’argilla (Mailand, 1851, Italienisch)
Erdeessende Menschen (Hildburghausen; New York City, New York, 1853, Deutsch)
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Die Otomaken oder Erde freſſendenMenſchen in Cumana undCaraccas.


(Nach Alexander von Humboldts Werken uͤberAmerika.)

An den Küſten von Cumana, Neu-Barcellona und Caraccas, welche die Franziskaner-Möncheder Guayana auf ihrer Rückkehr aus den Miſſio-nen beſuchen, iſt die Sage von erdefreſſendenMenſchen am Orinoco verbreitet. Wir habenam 6ten Junius 1800 auf unſrer Rückreiſe vomRio Negro, als wir in 36 Tagen den Orinocoherabſchifften, einen Tag in der Miſſion zuge-bracht, die von den erdefreſſenden Otomaken be-wohnt wird. Das Dörfchen heißt, la Concep-tion di Uruana, und iſt ſehr mahleriſch an ei-nen Granitfelſen angelehnt. Die Erde, welchedie Otomaken verzehren, iſt ein fetter milderLetten, wahrer Töpferthon von gelblich grauer |130| Farbe mit etwas Eiſenoxyd gefärbt. Sie wäh-len ihn ſorgfältig aus, und ſuchen ihn in eignenBänken am Ufer des Orinoco und Meta. Sie unterſcheiden im Geſchmack eine Erdartvon der andern, denn aller Letten iſt ihnen nichtgleich angenehm. Sie kneten dieſe Erde in Ku-geln von 4 bis 6 Zoll Durchmeſſer zuſammen,und brennen ſie äußerlich bey ſchwachem Feuer,bis die Rinde röthlich wird. Beym Eſſen wirddie Kugel wieder befeuchtet. Dieſe Indianerſind größtentheils wilde, Pflanzenbau verab-ſcheuende, Menſchen. Es iſt ein Sprichwortunter den entfernteſten Nationen am Orinocovon etwas recht unreinlichem zu ſagen: »ſo ſchmu-tzig, daß es der Otomake frißt.« So lange derOrinoco und der Meta niedriges Waſſer haben,leben dieſe Menſchen von Fiſchen und Schild-kröten. Erſtere werden durch Pfeile erlegt, wennſie auf die Oberfläche des Waſſers kommen, eineJagd, bey der wir oft die große Geſchicklichkeitder Indianer bewundert haben. Schwellen dieStröme periodiſch an, ſo hört der Fiſchfang auf,denn im tiefen Flußwaſſer iſt ſo ſchwer als imtiefen Ozean zu fiſchen. In dieſer Zwiſchenzeit,die 2 bis 3 Monate dauert, ſieht man die Oto-maken ungeheure Quantitäten Erde verſchlingen. Wir haben in ihren Hütten große Vorräthedavon gefunden, pyramidale Haufen, in denendie Lettenkugeln zuſammengehäuft waren. Ein |131| Indianer verzehrt, wie uns der verſtändige MönchFray Ramon Bueno, aus Madrid gebürtig (der12 Jahre lang unter dieſen Indianern lebt) ver-ſichert, an einem Tage \( \frac{3}{4} \) bis \( \frac{5}{4} \) Pfund. Nachder Ausſage der Otomaken ſelbſt iſt dieſe Erde,in der Epoche der Regenzeit, ihre Hauptnah-rung. Sie eſſen indeß dabey hier und da (wennſie es ſich verſchaffen können) eine Eidexe, ei-nen kleinen Fiſch und eine Farrenkraut-Wur-zel. Ja ſie ſind nach dem Letten ſo lüſtern,daß ſie ſelbſt in der trocknen Jahreszeit, wennſie Fiſchnahrung genug haben, doch als Leckerbiſ-ſen täglich nach der Mahlzeit etwas Erde ver-zehren. Dieſe Menſchen haben eine dunkel ku-pferne Farbe. Sie ſind von unangenehmen tarta-riſchen Geſichtszügen, feiſt aber nicht dickbäu-chig. Der Franziskaner-Mönch, welcher als Miſſio-nair unter ihnen lebt, verſichert, daß er in demBefinden der Otomaken, während des Erdverſchlin-gens keine Veränderung bemerkte. — Dieß ſindeinfache Thatſachen. Die Indianer verzehren gro-ße Quantitäten Letten, ohne ihrer Geſundheitzu ſchaden, ſie halten dieſe Erde für Nahrungs-mittel, d. h. ſie fühlen ſich durch ihren Ge-nuß auf lange Zeit geſättiget. Sie ſchreiben die-ſe Sättigung dem Letten, nicht der anderweiti-gen ſparſamen Nahrung zu, welche ſie ſich ne-ben der Erde hier und da zu verſchaffen wiſſen.Befragt man den Otomaken nach ſeinem Winter- |132| vorrath (Winter heißt im heißen Südamerika dieRegenzeit), ſo zeigt er auf die Erdhaufen inſeiner Hütte. Aber eben dieſe einfachen Thatſa-chen entſcheiden gar noch nicht die Fragen: kannder Letten wirklich Nahrungsſtoff ſeyn? könnenErden ſich aſſimiliren? Oder dienen ſie nur alsBallaſt im Magen? dehnen ſie bloß die Wändedeſſelben aus und verſcheuchen ſie auf dieſe Weiſeden Hunger? Über alle dieſe Fragen kann ichnicht entſcheiden. Auffallend iſt es, daß der ſonſtſo überaus leichtgläubige und unkrittiſche Pater Gumilla das Erdefreſſen als ſolches geradezu läug-net. Er behauptet, die Lettenkugeln ſeyen mitMaysmehl und Krokodillfett innigſt gemenget.Aber der Miſſionair Fray Ramon Bueno undunſer Freund und Reiſegefährte, der Laien-Bruder Fray Juan Gonzalez, den das Meer anden afrikaniſchen Küſten mit einem Theil unſe-rer Sammlungen verſchlang, haben uns beydeverſichert, daß die Otomaken den Letten nie mitKrokodillfett beſtreichen. Von beygemiſchtem Mehlhaben wir vollends in Uruana gar nichts gehört.Die Erde, welche wir mitgebracht, und welcheHerr Vauquelin chemiſch unterſucht hat, iſt ganzrein und ungemengt. Sollte Gumilla, ausVerwechſelung heterogener Thatſachen, auf dieBrodbereitung aus der langen Schote einer Inga-Art anſpielen wollen? Dieſe Frucht wird aller-dings in die Erde vergraben, damit ſie früher zu |133| rotten beginne. — Daß übrigens die Otomakendurch den Genuß ſo vieler Erde nicht erkranken,ſcheint mir beſonders auffallend. Iſt dieſes Volkſeit vielen Generationen an dieſen Reiz gewöhnt?In allen Tropenländern haben die Menſchen einewunderbare, faſt unwiederſtehliche Begier Erdezu verſchlingen, und zwar nicht ſogenannte alka-liſche (Kalkerde) um etwa Säuren zu neutrali-ſiren, ſondern fetten ſtarkriechenden Letten. Kin-der muß man oft einſperren, damit ſie nach friſch-gefallenem Regen nicht ins Freye laufen und Erdeeſſen. Die indianiſchen Weiber, die am Magdalenen-Fluße im Dörfchen Banco Töpfe drehen, fahren,wie ich mit Verwunderung geſehen, während derArbeit mit großen Portionen Letten nach dem Mun-de. Außer den Otomaken erkranken die Indivi-duen aller andern Völkerſtämme, wenn ſie dieſerſonderbaren Neigung nach dem Genuße des Let-tens nachgeben. In der Miſſion San Borja fan-den wir das Kind einer Indianerin, das, nachAusſage der Mutter, faſt nichts als Erde genie-ßen wollte, dabey aber auch ſchon ſkelletartigabgezehrt war. Warum iſt in den gemäßigtenund kalten Zonen dieſe krankhafte Begierde nachErde um ſo viel ſeltner und faſt nur auf Kin-der und ſchwangere Frauen eingeſchränkt? Ja,man darf behaupten, daß in den Tropenländernaller Welttheile das Erdeſſen einheimiſch ſey. In Guinea eſſen die Neger eine gelbliche Erde, |134| welche ſie Caouac nennen. Werden ſie als Skla-ven nach Weſtindien gebracht, ſo ſuchen ſie ſichdort eine ähnliche zu verſchaffen. Sie verſicherndabey, das Erdeſſen ſey in ihrem afrikaniſchenVaterlande ganz unſchädlich. Aber der Caouac der amerikaniſchen Inſeln macht die Sklavenkrank. Daher war das Erdeeſſen dort verboten,ob man gleichwohl 1751 in Martinique heimlichErde (un tuf rouge, jaunâtre) auf den Märk-ten verkaufte. Auf der Inſel Java, zwiſchenSoutabaya und Samarang ſah Labillardiere inDörfern kleine viereckige Kuchen verkaufen.Die Eingebornen nennen ſie Tanaampo. Als erſie näher unterſuchte, fand er, daß es Kuchenvon röthlichen Letten waren, welche gegeſſenwerden. Die Einwohner von Neu-Caledonieneſſen, um ihren Hunger zu ſtillen, fauſtgroßeStücke von zerreiblichem Speckſtein, in dem Vauquelin einen nicht unbeträchtlichen Kupferge-halt gefunden. In Popayan und in mehrernTheilen von Peru wird Kalkerde, als Eßwaarefür die Indianer auf dem Markte verkauft. Die-ſer Kalk wird mit der Cocca (den Blättern des Crytroxilon peruvianum) genoſſen. So findenwir das Erdeeſſen, welches die Natur eher denBewohnern des dürren Nordens beſtimmt zu habenſchien, in der ganzen heißen Zone unter den trä-gen Menſchenraçen verbreitet, welche die herrlich-ſten und fruchtbarſten Theile der Welt inne haben.