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Alexander von Humboldt: „Ueber die Urvölker von Amerika, und die Denkmähler welche von ihnen übrig geblieben sind. Vorgelesen in der Philomathischen Gesellschaft. Erstes Fragment“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1806-Ueber_die_Urvoelker-1> [abgerufen am 23.04.2024].

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Titel Ueber die Urvölker von Amerika, und die Denkmähler welche von ihnen übrig geblieben sind. Vorgelesen in der Philomathischen Gesellschaft. Erstes Fragment
Jahr 1806
Ort Berlin; Stettin
Nachweis
in: Neue Berlinische Monatschrift 15:3 (März 1806), S. 177–208 [angekündigte Fortsetzung nicht erschienen].
Postumer Nachdruck
Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, Sonntagsbeilage 2 (8. Januar 1882), Spalte 2; 3 (15. Januar 1882), Spalten 1–3.

„Ueber die Urvölker Amerikas und die Denkmäler, welche von ihnen übrig geblieben sind. Erstes Fragment, von Alexander v. Humboldt. Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der philomatischen Gesellschaft in Berlin im Januar 1806. Abdruck für Freunde“, in: Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik 7 (1885), S. 548–559.

Alexander von Humboldt, Das große Lesebuch, herausgegeben von Oliver Lubrich, Frankfurt/M.: Fischer 2009, S. 42–60.

Alexander von Humboldt, Ueber die Urvölker von Amerika und die Denkmähler welche von ihnen übrig geblieben sind. Anthropologische und ethnographische Schriften, herausgegeben von Oliver Lubrich, Hannover: Wehrhahn 2009, S. 7–24.
Entsprechungen in Buchwerken
Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur, Stuttgart und Tübingen: Cotta 1808, S. 94–100.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Antiqua für Fremdsprachiges; Auszeichnung: Kursivierung, Schwabacher; Fußnoten mit Asterisken; Schmuck: Initialen.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.47
Dateiname: 1806-Ueber_die_Urvoelker-1
Statistiken
Seitenanzahl: 32
Zeichenanzahl: 38887

|177|

Ueber die Urvoͤlker von Amerika, unddie Denkmaͤhler welche von ihnenuͤbrig geblieben ſind.Vorgeleſen in der Philomathiſchen Geſellſchaft.


Erſtes Fragment.

Wenn auch, dem Beruf meiner fruͤheren Ju-gend getreu, waͤhrend meines fuͤnfjaͤhrigen Auf-enthalts in dem neuen Kontinent mein Hauptau-genmerk auf die wundervollen Naturerſcheinungender Tropenlaͤnder gerichtet geweſen iſt, ſo habe ichdennoch jeden Augenblick der Muße benutzt, demlangſamen und dabei ſo geheimnißvollen Gangeder ſittlichen Bildung der Amerikaniſchen Stamm-voͤlker nachzuſpuͤren. Unterſuchungen dieſer Artfloͤßen ein allgemeines, rein menſchliches Intereſſeein. Aber einen vorzuͤglichen Reiz gewinnen ſieda, wo, neben einander ſtehend, die fremde Euro-paͤiſche Kultur gegen die einfache Rohheit der al-ten, in ihrem moraliſchen Fortſtreben gleichſamgehemmten, Urbewohner abſticht. Eine Neu-ſpaniſche Stadt, welche 68 000 Einwohner zaͤhlt, |178| und mit vielen Kuppeln geziert iſt, la Pueblade los Angeles, erhebt ſich am Fuß der Pira-mide von Cholula welche uns unbekannte Na-zionen, in den dunkelſten Zeiten des Alterthums,faſt aſtronomiſch-genau nach den vier Weltge-genden orientirt haben. In Mexiko ſelbſt, in demalten aus den Seen aufſteigenden Tenochtitlan,wo noch vor drei Jahrhunderten Prieſter ſichan dem Anblick der geſchlachteten Menſchen wei-deten, und wo chriſtlicher Fanatismus nachmal oftaͤhnlichen Blutdurſt geaͤußert hat: in der Berg-ſtadt Mexiko iſt der alte Opferſtein von Baſalt-porphyr, mit dem Triumph eines AztekiſchenKoͤnigs geziert, vor dem Hauptthor der Spani-ſchen Domkirche aufgeſtellt. Ueberall ſind dieungleichartigſten Monumente an einander graͤn-zend, und die entfernteſten Epochen menſchlichenKunſtfleißes beruͤhren ſich hier, wie die Natur-produkte fremder Welttheile welche der Europaͤi-ſche Anſiedler in einem Erdſtrich zuſammendraͤngt. Wenn ein aufmerkſamer Beobachter den Nilvom Delta aufwaͤrts, bis gegen Aſſuan (das alteSyene) ſchift, ſo ruht ſein Blick uͤberall auf un-geheuren Ueberreſten von Schleuſen, Daͤmmen,Pallaͤſten, und Tempeln. Die niedrigen Uferſind vegetazionsleer, und nur hie und da mitzerſtreuten Dattelpalmen und Sykomorfeigen be- |179| wachſen. Faſt erſcheint die Natur dort kleinlich,gegen die aufgethuͤrmten Rieſenwerke unterge-gangener Kunſt. Der Drang nach Geſchichte,das Intereſſe an den Ereigniſſen welche ſolch eineKultur hervorrufen und zerſtoͤren konnten, unter-druͤckt jede Frage uͤber die natuͤrliche Bildungdes Flußthals, uͤber die alten Waſſerbedeckungen,in denen der Floͤtzkalk bei Gize, der Sandſteinbei Theben, der Gneis bei Elephantina und denKatarakten ſich niederſchlug. Wie tief der Ein-druck iſt welchen in Niederaͤgypten die Kunſt macht,wie herrſchend daſelbſt dieſe uͤber die Natur iſt,lehrt uns die von Strabo *) aufbewahrte Prieſter-ſage, daß der Oolithenkalk der Piramiden einWerk der Menſchen, Zement mit eingeſtreutenSaamenhuͤlſen ſei. Nur in den Ebenen von Sa-kara, nur im Angeſicht ſo großer Werke der Bau-kunſt, konnte ſolch eine Hypotheſe erſonnen werden. Wie ganz anders iſt der fuͤhlende Menſchgeſtimmt, wenn er auf den ungeheuren Stroͤ-men von Suͤdamerika 800 oder 1000 Meilenweit ins Innere des Kontinents eindringt, oderdie wilden Berggehaͤnge der Andes durch-forſcht! Hier verſchwinden, gegen die maͤchtigereNatur, alle ſchwache Werke des aufkeimendenKunſtfleißes der Menſchen. Am Fuß ſchneebe-
*) Strabo lib. 17, pag. Caſaub. 808.
|180| deckter Vulkane, verbergen dichte Gebuͤſche vonbaumartigen Farrenkraͤutern, ſaftſtrotzende Heli-konien und hohe Faͤcherpalmen, den Boden.In menſchenleeren Strecken von einigen tauſendQuadratmeilen, leben nur Affen, Viverren, Ti-gerkatzen, und Krokodile. Verwilderte Piſang-ſtaͤmme und Melonenbaͤume ſind die einzigenSpuren, welche der durchziehende Wilde, fallser je dieſe Einoͤden betrat, zuruͤck ließ. Wennder Anblick des ſternenvollen Himmels in unſernRegionen die Phantaſie mit Bildern von Wel-ten fuͤllt, in denen Menſchen wohnen, ſo er-wacht dagegen in den einſamen Waldungen amCaſſiquiare und Atabapo die Idee einer Natur,in der die lebendigen Kraͤfte ſich nur erſt in zahl-loſen Pflanzengeſchlechtern entwickeln, ohne ſichſchaffend zum Gebilde des Menſchen zu erheben.
In unſerm Kontinent, in Aegypten, und aufden Inſeln des Griechiſchen Meeres, haben diealten Reſte prachtvoller Baukunſt alle Reiſende,und leider ſelbſt diejenigen welche am wenigſtenzu dieſem Studium vorbereitet waren, auf hi-ſtoriſche Unterſuchungen geleitet. In dem NeuenKontinent dagegen, iſt bei dem Mangel vonDenkmaͤhlern, und der imponirenden Groͤße derNaturerſcheinungen, faſt alles Intereſſe aus-ſchließlich auf dieſe letzteren gerichtet geweſen. |181| Amerika hat unter denen die es beſuchten, einen Hernandez, einen Plumier, Jacquin, Swarz, und viele andere vortrefliche Naturforſcher auf-zuzaͤhlen. Aber mit der Geſchichte der Urvoͤlkerund den uͤbriggebliebenen Spuren ihrer Kulturhaben ſich in neuern Zeiten nur wenige Reiſendebeſchaͤftigt: Ich ſage: in neuern Zeiten; denn diefruͤheren Werke Spaniſcher Abenteurer und Moͤn-che, die eines Ojeda, Bernal Diaz, Garcilaſſo,Toribius von Benavent, Acoſta, und Torquemada, enthalten viele nuͤtzliche aber mit unkritiſchem Geiſteabgefaßte Nachrichten. Beſonders iſt ihren Meſ-ſungen wenig zu trauen: denn an Zahlen (ſeies Hoͤhe der Denkmaͤhler, oder Volksmenge,oder Verluſt des Feindes) ſcheiterte von jeherdie Wahrheitsliebe der Eroberer und der Entdec-ker. La Condamine, deſſen lebhafter Geiſt,mit vielen Huͤlfskenntniſſen ausgeruͤſtet, Alles um-faßte was er fuͤr die Wiſſenſchaften erſprießlichhielt, La Condamine, der neben ſeinen muͤhe-vollen aſtronomiſchen Beobachtungen, Pflanzenzeichnete, und die Amerikaniſchen Urſprachen ſtu-dirte, hat uns auch genauere Beſchreibungen ei-niger alten Peruaniſchen Monumente hinterlaſ-ſen. Der Gegenſtand der erſten Abhandlungwelche er unſrer Akademie bei ſeiner Aufnahmeals auswaͤrtiges Mitglied uͤberſandte, waren die |182| Ruinen des Inkapallaſtes von Cañar im Koͤ-nigreich Quito *); Ruinen, die ich 55 Jahrenach ihm wiederum, aber mit mehrerem ar-chitektoniſchen Detail, in ihrem gegenwaͤrti-gen Zuſtande gezeichnet habe, und eben jetzt inRom in Kupfer ſtechen laſſe. Auch die Werkeder vortreflichen Spaniſchen Aſtronomen Ulloa und Don Jorge Juan enthalten Abbildungen ei-niger Denkmaͤaͤler, allein weniger genau und oftſogar phantaſtiſch ergaͤnzt. Ich habe des Italiaͤniſchen Reiſenden GemelliCareri nicht gedacht, weil, was er von Mexikani-ſchen Alterthuͤmern mittheilt, bloß die hieroglyphi-ſche Malerei betrift, und eigentlich ſeinem Freundedem gelehrten Carlos de Siguenza, Profeſſor derMathematik in Mexiko, angehoͤrt. — Es iſt uͤbri-gens eine der kuͤhnſten Wirkungen des hiſtoriſchenSkeptizismus, wenn Robertſon und andreSchriftſteller es als eine beinah erwieſene Wahr-heit anſehen, daß dieſer Gemelli Careri, ſtattum die Welt zu reiſen, nie ſeine Heimat, Ita-lien, verlaſſen habe. Ich bin ihm durch das ganzeKoͤnigreich Neuſpanien, von Akapulko bis Veracruzhin, Schritt vor Schritt gefolgt, und ich geſtehe(mit dem Abt Clavigero) daß ich keinen genauernund wahrhaftern Reiſenden kenne als Gemelli.
*) Mém. de l’Acad. de Berlin, année 1746, pag. 435.
|183| Durch welchen Zauber, und aus welchen Quel-len ſchoͤpfend, haͤtte er die kleinſten Lokalverhaͤlt-niſſe, die Lage unbedeutender Doͤrfer, Zahl derAltaͤre in den Kirchen, und tauſend aͤhnlicheDinge wiſſen koͤnnen, wenn er nicht ſelbſt inMexiko geweſen waͤre?
Nur einem einzigen Manne hat die Ge-ſchichte Amerikaniſcher Urvoͤlker ein ſolches leb-haftes Intereſſe erwecken koͤnnen, daß er des-halb alle Familienverhaͤltniſſe aufgab, und (einBeiſpiel merkwuͤrdiger Aufopferung fuͤr die Wiſ-ſenſchaften) acht Jahre lang unter den duͤrftig-ſten Indianern lebte, um hiſtoriſche Hieroglyphender Azteken zu ſammeln. Der Cavaliere Botu-rini Bernaducci, aus Mailand gebuͤrtig, begannſeine hiſtoriſchen Unterſuchungen in Mexiko imJ. 1736. Niemand hat je einen groͤßern Schatzvon Materialien uͤber die Amerikaniſchen Stamm-voͤlker beſeſſen als er; aber, von einem damalargwoͤhniſchen Gouvernement ſeines Eigenthumsberaubt, ward er gefangen nach Spanien geſchleppt,wo er nach einigen mitgenommenen Manuſkripten,und leider mehr noch aus dem Gedaͤchtniß, denerſten Band ſeiner Mexikaniſchen Geſchichte aus-arbeitete. Unter den hieroglyphiſchen Fragmentenauf Aloe- oder Maguei-Papier, welche ich fuͤr diehieſige Bibliothek mitgebracht habe, befindet ſich |184| ein 15 Fuß langer Kodex, welcher wahrſcheinlicheinſt in dem Boturiniſchen Muſeum aufbewahrtward. Auf der Univerſitaͤt Mexiko exiſtiren, ſeitihrer erſten Gruͤndung im J. 1553, Lehrſtellenfuͤr die Aztekiſche und Otomitiſche Sprache, wiefuͤr die Mexikaniſchen Alterthuͤmer uͤberhaupt.Die Gruͤndung dieſer Lehrſtellen, in einem Lan-de wo faſt der Hauptſitz der AmerikaniſchenKultur war, und zu einer Zeit wo moͤnchiſcherFanatismus noch nicht alle Denkmaͤhler hatte zer-ſtoͤren oder verſtuͤmmeln koͤnnen, wuͤrde von demgroͤßten Intereſſe fuͤr die Menſchengeſchichte ge-weſen ſein, wenn die Maͤnner welche jene Lehr-ſtellen ausfuͤllten, nicht den wahren Zweck der-ſelben verkannt haͤtten. Die Profeſſur der Alter-thuͤmer iſt ſogar unbeſetzt geblieben, ſeitdem dieJuſtiztribunale in Mexiko in Streitigkeiten uͤber Guͤterbeſitz, Verwandtſchaft und Abgaben nichtmehr nach hieroglyphiſch-gemalten Urkunden zuſprechen haben. Dazu begnuͤgen ſich die itzigenLehrer der zwei Mexikaniſchen Hauptſprachen,angehende Geiſtliche ſo weit darin zu unterrich-ten, als fuͤr die Geheimniſſe des Beichtſtuhlsin Indianiſchen Doͤrfern erforderlich iſt. Ob dieOtomitiſche und Aztekiſche Sprache mit 15 oder18 in Neuſpanien noch uͤblichen Sprachen ver- |185| wandt iſt, ob mehrere derſelben (wie man oft nurzu voreilig behauptete) Dialekte einer unterge-gangenen ſind: das kuͤmmert ſie wenig; obgleichSprache, als das aͤlteſte und daurendſte Monu-ment menſchlicher Kultur, eine wichtige Quellehiſtoriſcher Unterſuchungen iſt. Bezeigt ſich aber die Univerſitaͤt Mexiko ſelbſtzu gleichguͤltig fuͤr die Kenntniß des Alterthums,ſo fuͤhlen ſich doch in allen Theilen von AmerikaPrivatmaͤnner von Zeit zu Zeit zu dieſem Stu-dium berufen. Ich darf hier mehrere meinerentfernten Freunde nennen: den Doktor Du-quesne, Kanonikus am Domkapitel zu Sta Fe deBogota, von dem ich eine merkwuͤrdige Abhand-lung uͤber einen ſiebenſeitigen kalendariſchen Inter-kalarſtein von Kieſelſchiefer bekannt machen wer-de; in Lima den Pater Cisneros, einen ehrwuͤr-digen achtzigjaͤhrigen Hieronymitermoͤnch, deſſenliberale Denkart ſich bei der Herausgabe einervortreflichen Monatſchrift, des Mercurio Peru-ano geaͤußert hat; in Mexiko den Padre Pi-chardo im Kloſter der Congregazion von San Fe-lipe Neri, und mehrere Andre. An dem letzternOrte waren, nicht gar lange vor meiner Ankunft,zwei uͤberaus gelehrte Maͤnner Velaſquez und Gama geſtorben, denen man ſehr genaue aſtro-nomiſche Beobachtungen und kritiſche Unterſu- |186| chungen uͤber die mythologiſchen Monumenteder Azteken verdankt. Beide beſaßen eine Fuͤllevon Kenntniſſen, welche in dem SpaniſchenAmerika wohl ſchwerlich erwartet werden. Ueber-all wo die eingeengte Menſchheit in ihren gei-ſtigen Fortſchritten gehindert iſt, erweckt in derEnergie Einzelner der Zwang ſelbſt eine morali-ſche Reakzion, welche zu den ſchoͤnſten und lebendig-ſten Kraftaͤußerungen fuͤhrt. Aber, was Geiſteszwang nur in einzelnenWiderſtrebenden erweckt, dazu ruft Alle willigvernunftmaͤßige Freiheit in den Nordamerikani-ſchen Freiſtaaten auf. Muͤhſam hat man dort je-den Grabhuͤgel am Miſſiſipi oder Ohio beſchrie-ben und abgezeichnet. Muͤhſam haben ſich dort Jefferſon, Madiſon, und Barton, alſo Staats-maͤnner, Biſchoͤfe, und Gelehrte, mit den Kana-diſchen Urſprachen, und ihrem Zuſammenhangemit den Nordaſiatiſchen *), und vorzuͤglich mitden Kaukaſiſchen Sprachen, beſchaͤftigt. Leiderſind aber von den wenigen Denkmaͤhlern, welchegegenwaͤrtig von den Amerikaniſchen Stammvoͤl-kern uͤbrig geblieben, die groͤßten und wichtigſtenauf der Gebirgskette der Andes in den Koͤnig-
*) New Views of the Origin of the Nations of America, 1798, by Benjamin Smith Barton, p. XCIX.
|187| reichen Peru, Quito, Mexiko, alſo gerade in dendem Nicht-Spanier bisher unzugaͤnglichſten Erd-ſtrichen, zerſtreut. Engliſche und Franzoͤſiſche Rei-ſende ( Dixon, Marchand, Vancoover, und An-dere) haben die ausfuͤhrlichſten Zeichnungen vonden geſchnitzten Thuͤrſchwellen an der Nordweſt-kuͤſte von Amerika, beſonders im Kanal Cox undin Cloak Bay geliefert; waͤhrend wir nicht ein-mal die Umriſſe von den koloſſalen Ruinen derBaukunſt in Cusco und Manſiche kennen. —Doch auch in den Spaniſchen Kolonieen regtſich, trotz der mannichfaltigen Hinderniſſe, derGeiſt der Unterſuchung. Zwar haben botaniſcheGaͤrten und chemiſche Laboratorien, welche in denHauptſtaͤdten mit wahrhaft koͤniglicher Freige-bigkeit angelegt ſind, dieſen Unterſuchungsgeiſtmehr auf naturhiſtoriſche Gegenſtaͤnde gerichtet;allein mit der Zeit wird das große und vortref-liche Inſtitut einer Kunſtakademie in Mexiko,bei den ausgezeichneten Anlagen der Einwohner,auch das Studium der einheimiſchen Alterthuͤmerbeleben. Schon itzt ſind Zoͤglinge der Maleraka-demie durch das ganze Land zerſtreut, von Gua-timala an bis tief in die noͤrdlichen ProvinzenNeubiskaya’s hinauf. Faſt uͤberall findet manGelegenheit, die neu entdeckten Denkmaͤhler ab-zeichnen oder ausmeſſen zu laſſen. Auch der große |188| Fleiß mit dem die Perſpektive auf der Bergaka-demie in Mexiko ſtudirt wird, traͤgt zu dieſerLeichtigkeit bei, da dieſe Anſtalt auf die entfern-teſten und iſolirteſten Punkte des Koͤnigreichswirkt. In der That ſind vor weniger Zeit dieRuinen des Trauerpallaſtes von Mitla, mit ſeinenzierlichen geſchmackvollen Maͤandriten und Ala-grecque (ein Werk der Amerikaniſchen Stamm-voͤlker), auf Befehl des Vizekoͤnigs, von Zoͤglin-gen der architektoniſchen Klaſſe der Kunſtakade-mie aufs genaueſte gezeichnet worden. Ein Frag-ment dieſer Zeichnung (denn das Ganze kann derGegenſtand eines eigenen ſehr intereſſanten Werkswerden) habe ich bereits in Kupfer ſtechen laſ-ſen, und es wird in einem der Atlaſſe welchemeine Reiſebeſchreibung begleiten ſollen, noch indieſem Jahre erſcheinen.
Wenn ich es wage, dieſe Verſammlung mitden Denkmaͤhlern der Amerikaniſchen Urvoͤlker zuunterhalten, ſo geſtehe ich gern, daß mein dies-maliger Aufenthalt in Italien nicht wenig dazubeigetragen hat, mich zu dieſen Unterſuchungenzu veranlaſſen. Ich habe das ſeltene Gluͤck ge-noſſen, innerhalb weniger als einem Jahre nichtbloß die koloſſalen Vulkane der Andeskette mitden feuerſpeienden Huͤgeln Europens, ſondernauch die koloſſalen und vollendeten Denkmaͤhler |189| Roͤmiſcher Kunſt mit den rohen Ueberbleibſelnder ſich entwickelnden Mexikaniſchen Kultur ver-gleichen zu koͤnnen. Dieſe Vergleichung entfernterLaͤnder und entfernter Zeitepochen menſchlicherBildung, dieſer Kontraſt zwiſchen dem Beginnender Kunſt bei der ſich anſiedelnden Menſchheitund ihrer hohen Vollendung im goldenen Zeit-alter der Griechen und Roͤmer, hat Ideen inmir lebendig gemacht, die ich in den oͤffentlichenSitzungen dieſer Geſellſchaft fragmentariſch zuentwickeln verſuchen werde. Natuͤrlich hebe ichnur das aus, was zu ſolch einem Zwecke geeignet,zu allgemeinen Reſultaten fuͤhrt, und in jedem ge-bildeten Menſchen Intereſſe erwecken kann. Allekleinliche Unterſuchungen, und das Detail derMeſſungen, bleiben meinem groͤßern Werke vor-behalten. Auch muß ich zum voraus harmoniſchgeſtimmte Ohren fuͤr den abſchreckenden MisklangMexikaniſcher und Peruaniſcher Namen um Nach-ſicht bitten. Tlakatkotl, Quaquaupitzahuak, und Ixtlikoxhitl, waren tapfere und beruͤhmte Koͤnigevon Azkapozalko. Daß ihre Namen ſo unlieblichlauten, iſt dem Geſchichtſchreiber eben ſo wenigzur Laſt zu legen, als daß er oft durch treueSchilderung politiſcher Schwaͤche oder energiſcherVerruchtheit einen moraliſchen Misklang erregt. Mit dem Ausdruck Amerikaniſcher Urvoͤlker |190| bezeichne ich diejenigen Nazionen, welche vor An-kunft der Spanier am Ende des 15ten und An-fang des 16ten Jahrhunderts im neuen Konti-nent angetroffen wurden. Ich ſage: der Spa-nier; denn die fruͤhere Entdeckung von Amerikaum das J. 1000, die Schiffahrten der Normaͤn-ner und Islaͤnder nach Wineland und Groͤnland,welche Torfaͤus in einem eigenen Werke beſchrie-ben, veraͤnderten nichts in dem Zuſtande Ameri-kaniſcher Urvoͤlker. Ein vortreflicher Geſchicht-ſchreiber des Nordens hat bereits erwieſen, daßdas Wort Urvolk, wenn es von den erſten Be-wohnern eines Landes gelten ſoll, keine hiſtori-ſche Bedeutung hat. Wir haben uͤber den Nor-den von Europa keine Gewißheit uͤber das neunteJahrhundert hinaus; und wir verlangen daß dieGeſchichte von Amerika bis zur Ankunft Aſiati-ſcher Voͤlkerſtaͤmme verfolgt werden koͤnne! Nur zu oft haben allgemein und mit Rechtbelobte Schriftſteller wiederholt: daß Amerika, injedem Sinne des Worts, ein neuer Kontinent ſei. Jene Ueppigkeit der Vegetazion, jene un-geheure Waſſermenge der Stroͤme, jene Unruhemaͤchtiger Vulkane, verkuͤndigen (ſagen ſie) daßdie ſtets erbebende noch nicht ganz abgetrockneteErde dort dem chaotiſchen Primordialzuſtande naͤ-her, als im alten Kontinent, ſei. Dieſe Ideen |191| haben mir, ſchon lange vor dem Antritt meinerReiſe, eben ſo unphiloſophiſch als den allgemeinanerkannten phyſiſchen Geſetzen widerſtreitend ge-ſchienen. Dieſe Bilder von Jugend und Unruhe,von zunehmender Duͤrre und Traͤgheit der altern-den Erde, koͤnnen nur bei denen entſtehen, dieſpielend nach Kontraſten zwiſchen den beiden He-miſphaͤren haſchen, und ſich nicht bemuͤhen dieKonſtrukzion des Erdkoͤrpers mit einem allgemei-nen Blick zu umfaſſen. Soll das ſuͤdliche Ita-lien neuerer als das noͤrdliche ſein, weil jenesdurch Erdbeben und vulkaniſche Erupzionen faſtfortdaurend beunruhigt wird? Was ſind uͤberdiesunſre itzigen Vulkane und Erdbeben fuͤr klein-liche Phaͤnomene, in Vergleich mit den Natur-revoluzionen die der Geognoſt in dem chaotiſchenZuſtande der Erde, bei dem Niederſchlag und derErſtarrung der Gebirgemaſſen, vorausſetzen muß?Verſchiedenheit der Urſachen muß in den entfern-ten Klimaten auch verſchiedenartige Wirkungender Naturkraͤfte veranlaſſen. In dem neuen Kon-tinent haben die Vulkane (ich zaͤhle deren itztnoch 54) ſich vielleicht darum laͤnger brennenderhalten, weil die hohen Gebirgeruͤcken, auf de-nen ſie ausgebrochen ſind, dem Meere naͤher lie-gen, und weil dieſe Naͤhe und der ewige Schneeder ſie bedeckt, auf eine noch nicht genug aufge- |192| klaͤrte Weiſe die Energie des unterirdiſchen Feuerszu modifiziren ſcheint. Dazu wirken Erdbeben undfeuerſpeiende Berge periodiſch. Itzt herrſcht phy-ſiſche Unruhe und politiſche Stille in dem NeuenKontinent, waͤhrend in dem Alten der verheerendeZwiſt der Voͤlker den Genuß der Ruhe in derNatur ſtoͤrt. Vielleicht kommen Zeiten, wo indieſem ſonderbaren Kontraſt zwiſchen phyſiſchenund moraliſchen Kraͤften ein Welttheil des andernRolle uͤbernimmt. Die Vulkane ruhen Jahrhun-derte ehe ſie von neuem toben, und die Idee daßin dem aͤlteren Lande ein gewiſſer Friede in derNatur herrſchen muͤſſe, iſt auf einem bloßen Spielunſrer Einbildungskraft gegruͤndet. Eine Seiteunſers Planeten kann nicht aͤlter oder neuer alsdie andere ſein. Inſeln die von Vulkanen her-ausgeſchoben, oder von Korallenthieren allmaͤh-lich gebildet worden, wie die Azoren und vieleInſeln der Suͤdſee, ſind allerdings neuer als dieGranitmaſſen der Europaͤiſchen Zentralkette. Einkleiner Erdſtrich, der, wie Boͤhmen und vieleMondthaͤler, mit ringfoͤrmigen Gebirgen umge-ben iſt, kann durch parzielle Ueberſchwemmungenlange ſeeartig bedeckt ſein; und nach Abfluß die-ſer Binnenwaſſer, duͤrfte man den Boden indem die Pflanzen ſich allmaͤhlich anzuſiedeln be-ginnen, bildlich neueren Urſprungs nennen. Al- |193| lein Waſſerbedeckungen (wie der Geognoſt ſieſich bei Entſtehung der Floͤtzgebirge denkt) kannman ſich aus hydroſtatiſchen Geſetzen nur in al-len Welttheilen, in allen Klimaten, als gleich-zeitig exiſtirend vorſtellen. Das Meer kann dieunermeßlichen Ebenen am Orinoko und Amazo-nenſtrome nicht daurend uͤberſchwemmen, ohnezugleich unſre Baltiſchen Laͤnder zu verwuͤſten.Auch zeigt (wie ich bereits in meinem geognoſti-ſchen Gemaͤlde von Suͤdamerika *) entwickelthabe) die Folge und Identitaͤt der Floͤtzſchichtenin Karakkas, Thuͤringen, und Niederaͤgypten, daßjene großen Niederſchlaͤge auf dem ganzen Erd-boden gleichzeitig erfolgt ſind. Aber, faͤhrt der beſcheidnere Theil der Gegnerfort: iſt der neue Kontinent auch zugleich mitdem alten aus den chaotiſchen Meeren der Pri-mordialwelt hervorgetreten, haben auf beiden ſichauch gleichzeitig Thier- und Pflanzenformen ent-wickelt; ſo iſt doch das Menſchengeſchlecht in demerſteren neuer als in dem letzteren. Große voͤlligmenſchenleere Strecken, beſonders in dem Europagegenuͤberſtehenden Theile, Unkultur der Nazio-nen, Mangel politiſcher Verfaſſungen (zwei bisdrei ſehr neuſcheinende Staaten abgerechnet), loſe
*) Tableau géologique des régions équinoxialesde l’Amérique méridionale, 1800.
|194| Bande der Geſelligkeit, das Nichtdaſein gro-ßer Monumente der Baukunſt endlich, deutenuͤberall in Amerika auf die Jugend der Menſch-heit. Vielleicht mag das Alter der dortigen Stamm-voͤlker, das heißt ihre Exiſtenz in dem neuenWelttheil, kaum uͤber den Anfang chriſtlicherZeitrechnung hinausreichen.
Dieſe Gruͤnde fuͤr die Annahme einer ſpaͤ-tern Bevoͤlkerung von Amerika ſcheinen auf derHypotheſe zu beruhen, als habe das Menſchen-geſchlecht, wo es ſeit Jahrtauſenden exiſtire, ſichuͤberall moraliſch und politiſch ſo ſchnell entwic-keln muͤſſen, als in den gluͤcklichen aber engenErdſtrichen, deren Geſchichte uns am meiſten be-ſchaͤftigt: an den Ufern des Nils, zwiſchen demMittelmeer, dem Kaspiſchen See und dem Eu-phrat, oder auf der Griechiſchen Halbinſel. Wermit dem Europaͤiſchen und Aſiatiſchen Nordenbekannt iſt, ſieht im alten Kontinente ebenfallsungeheure Laͤnderſtrecken ohne Denkmaͤhler derKunſt, ohne Ruinen von Staͤdten, ohne politiſcheBande unter den Bewohnern. Eigentliche Ge-ſchichte des Nordens faͤngt, nach Schoͤning undSchloͤzer, auch erſt um das Jahr 1000 der chriſt-lichen Zeitrechnung an; und dennoch hat man esnie gewagt das Menſchengeſchlecht in Norwegenund Schweden als ſehr jung zu verrufen. Der |195| Schluß von der Barbarei der Nazionen auf ihre Neuheit, oder auf ihre ſpaͤtere Ankunft in ei-nem Lande, iſt in der That ein Fehlſchluß.Man vergißt, welch ein ſonderbarer Zuſammen-fluß von Begebenheiten dazu gehoͤrt um dieMenſchheit zu ſittlicher Kultur und Entwickelungihrer intellektuellen Faͤhigkeiten zu erwecken. Manhat ſcharfſinnig erwieſen, wie aus den hierogly-phiſchen Malereien wahre Hieroglyphen ohneBeziehung der Charaktere auf einander, aus denHieroglyphen Tonzeichen, und aus dieſen endlichLettern entſtehen koͤnnen. Aber man durchſuchealle Voͤlker des Erdbodens; und, erſtaunt, wirdman (wie noch neuerlichſt einer unſer groͤßtenAlterthumsforſcher Hr Zoega in ſeinem Obelis-kenwerke aus einander geſetzt hat) Zerlegungder Silben in Buchſtaben nur auf einem engenRaume, im ſuͤdweſtlichen Aſien, Aegypten unddem ſuͤdoͤſtlichen Europa, entdecken. In deruͤbrigen Welt ſcheint ſich das Menſchengeſchlechtſeit Jahrtauſenden nie zu dieſer letzten Stufeder Ideenmittheilung erhoben zu haben. — Al-lein die Unkultur, in der uns die AmerikaniſcheGeſchichte die aͤlteſten Urvoͤlker ſchildert, iſt auchin der That weniger groß, als Diejenigen an-geben welche fuͤr die ſogenannte Neuheit jenesKontinents ſtreiten. Wie man ehemal, von |196| der Großprahlerei der erſten Abenteurer und Er-oberer verleitet, zu glaͤnzende Ideen von der Gei-ſteskultur der Mexikaner und Peruaner hegte, ſoiſt man ſeit Pauw’s und Raynal’s Zeiten inden entgegengeſetzten Fehler verfallen. Als dieTulteker am Ende des ſechſten Jahrhunderts ihrnoͤrdliches Vaterland Huehuetlapallan verließen,finden wir ſchon unter ihnen ein zuſammengeſetz-tes Feudalſyſtem, hieroglyphiſche Gemaͤlde, Pira-miden mit kuͤnſtlich behauenen Porphyrtafeln ge-ziert, und ein wohl angeordnetes Sonnenjahr.Wo ſieht man in Skandinavien gleichzeitig aͤhn-liche Spuren der Menſchenkultur? Der Ausdruck: ſpaͤtere Bevoͤlkerung einesWelttheils, ſetzt zudem noch das Auswanderndes neuentſtandenen Menſchengeſchlechts aus ei-ner beſtimmten Gegend voraus; ſei es, daß derhohe noch ungemeſſene Gebirgsruͤcken von Tibet,oder nach Samſkredaniſchen Sagen die Quel-len des Ganges (bei Sirinagar am Himalige-birge), oder die Ufer des Tigris, oder endlichwie Diejenigen wollen die ſich mit aͤgyptiſchenAlterthuͤmern beſchaͤftigen, die Hoͤhen von Ha-beſch, die Wiege der Menſchheit waren. Aſiati-ſche Mythen, die allerdings einen ehrwuͤrdigenCharakter des Alterthums an ſich tragen, habendieſe Idee von einer Zentralverbreitung der Voͤl- |197| ker unter uns faſt allgemein gemacht. Wie koͤn-nen aber Mythen und Tradizion uͤber Bege-benheiten entſcheiden, die nicht geſchichtlich ge-wußt werden koͤnnen, oder die, wie Alles wasden Urſprung der Dinge betrift, uͤber alle Ge-ſchichte hinausreichen! Echt hiſtoriſche Unterſuchungen beginnen da-her nie von der erſten Bevoͤlkerung eines Lan-des; und ſo wenig ich es fuͤr unwahrſcheinlichhalte, daß viele Staͤmme Amerikaniſcher Urvoͤl-ker uͤber die Beringsſtraße oder die Aleutiſchen Inſeln aus dem noͤrdlichen Aſien heruͤber kamen,ſo wenig kenne ich eine einzige Thatſache, welchezu dieſer Annahme apodiktiſch zwaͤnge. Die Formdes Amerikaniſchen Schaͤdels iſt in der Geſtaltder zygomatiſchen Fortſaͤtze, der Nichtung derFaziallinie, und der faſt hundsartigen Kriſta desStirnbeins, von dem Tatariſchen Schaͤdel we-ſentlich verſchieden, obgleich dieſem mehr als demder Neger verwandt. Der noͤrdlichſte Theil des neuen Kontinents, Groͤnland, Labrador, und dasgroße Weſtland bis an den Mackenziefluß, iſtvon Eskimos bewohnt, einer kleinen kurzleibigenMenſchenrace, die wir in den Europaͤiſchen undAſiatiſchen Polarlaͤndern, in den Lappen und Samo-jeden wiederholt finden, und deren Exiſtenz, wiedie Thalform des Atlantiſchen Ozeans zwiſchen |198| Amerika und Europa, auf einen ehemaligen all-gemeinen Zuſammenhang aller Welttheile gegenNorden zu, hinweiſet. Die Urvoͤlker des neuenKontinents kannten die mehlreichen Zerealien nicht,welche im alten Kontinent dem Menſchengeſchlechtſeit ſeiner erſten Kindheit uͤberall zu folgen ſchei-nen. Die Amerikaniſchen Sprachen haben eineſchwache Verwandtſchaft mit denen der KuriliſchenInſeln, um die Nordſpitze von Aſien, mit derSprache der Tſchuktſchen, Koraͤken und Kamtſcha-dalen, oder der Europaͤiſchen Lapplaͤnder. DieAehnlichkeit welche mehrere Amerikaniſche Denk-maͤhler mit Oſtindiſchen, ja ſelbſt mit Aegypti-ſchen haben, eine Aehnlichkeit auf die wir inder Folge wieder zuruͤckkommen werden, bewei-ſet vielleicht mehr die Einfoͤrmigkeit des Ganges,welchen der menſchliche Kunſtſinn in allen Zonenund zu allen Zeiten in ſeiner ſtufenweiſen Ent-wickelung befolgt hat, als Nazionalverwandtſchaft,oder Abſtammung aus Inneraſien. So wie esin der Naturkunde Sitte war, Alles bald ausAlkalien und Saͤuren, bald aus Elektrizitaͤt,bald aus Waͤrmeſtof, bald aus Oxygen zu erklaͤ-ren; ſo hat derſelbe Vereinfachungstrieb Veran-laſſung gegeben, alle Menſchenkultur bald ausVorderaſien, bald aus China, bald von denSkythen, bald aus Tibet, bald aus Aegypten ab- |199| zuleiten. Unterſucht man die Gruͤnde dieſer Be-hauptungen mit ernſter Genauigkeit, ſo ſiehtman, daß die aͤlteſten Sagen der Menſchheitwohl in der Form (und dies aus pſychiſchenGruͤnden), keinesweges aber in der Materieſelbſt, in der geographiſchen Beſtimmung des er-ſten Kulturſitzes mit einander uͤbereinkommen.In Aegypten zum Beiſpiel deutet die aͤlteſteMythe von dem Kampf zweier Menſchenracen,der Aethiopiſchen und Arabiſchen, der Zwiſt zwi-ſchen Oſiris dem ſchwarzen Bakchus, und dem Pe-luſium gruͤndenden Typhon oder dem blonden Fuͤr-ſten Baby *) auf eine groͤßere Kultur in Suͤden,alſo auf Gegenden die weit vom Euphrat undTigris entfernt ſind. Unter den Hindus gehtdagegen die Sage, daß der Gott Rama Acker-bau und Kuͤnſte aus dem Lande Apodya **) brachte, ein Land welches die Samkſrit noͤrd-lich vom Himaligebirge ſetzt. In dieſem Ge-birge ſelbſt, und in Tibet, ſucht man dagegen(neueren Reiſenden zufolge) den Urſprung derMenſchenkultur an den ſuͤdlichen Ufern des Gan-ges. So widerſprechend iſt der Glaube der Voͤl-ker uͤber Gegenſtaͤnde, uͤber welche bildliche Vor-
*) Zoega de Obel. p. 577.**) Fra Paolino da S. Bartolomeo Syſtem. Brach-man. p. 137.
|200| ſtellungen und Privatphantaſieen Einzelner ſichnur zu oft in das Gewand uralter Sagen ge-kleidet haben. Ueberhaupt, wenn von Urvoͤlkerndie Rede iſt, ſollte man neueren Geſchichtforſcherndie Vorſicht des Tazitus anempfehlen, der, woer von den verſchiedenen Menſchenracen auf Brit-tannien und von ihrer wahrſcheinlichen Abkunftredet, mit den ſkeptiſchen Worten endigt: Cae-terum, Britanniam qui mortales initio co-luerint, indigenae an advecti, ut inter Bar-baros parum compertum *).
Giebt es keinen hiſtoriſchen oder philoſophi-ſchen Grund, das Menſchengeſchlecht im NeuenKontinent fuͤr neuer als im Norden von Eu-ropa oder Aſien zu halten, ſo verlieren auch alleGruͤnde ihr Gewicht, welche man aus der will-kuͤrlichen Vorausſetzung dieſer Neuheit gegen dasAlter der erſten Denkmaͤhler Amerikaniſcher Ur-voͤlker hergenommen hat. Mitten in den Waͤl-dern des Orinoko um Kaikara und Uruana habeich Granitfelſen geſehen, welche mit eingegrabe-nen hieroglyphiſchen Bildern bedeckt ſind. DieſeBilder finden ſich in Hoͤhen und an Bergen, zudenen man jetzt nur mit Schwierigkeit gelangenkann. Zweihundert Meilen von der Meeres-kuͤſte entfernt, weit oberhalb der Katarakten von
*) Tac. Agric. cap. II.
|201| Maypure und Atures, in der großen Einoͤde zwi-ſchen den vier Fluͤſſen Caſſiquiare, Atabapo, Ori-noko, und Guainia oder Rio Negro, in einerGrasebene wo jetzt kein menſchliches Weſen ath-met, ſind in den iſolirten Syenit- und Gneis-felſen ebenfalls Figuren von Thieren, Waffen,Hausgeraͤth, und viele uns voͤllig unverſtaͤndli-che Sinnbilder ausgehauen. Umher, auf mehrals 40 000 Quadratmeilen, finden ſich nur no-madiſche Staͤmme, welche auf der tiefſten Stufemenſchlicher Bildung, unbekleidet, ein thieriſchesLeben fuͤhren, und kaum von der Moͤglichkeithieroglyphiſche Bilder in harten Felsmaſſen ein-zugraben eine Idee haben. Alſo waren dieſeEinoͤden einſt bevoͤlkert, und von Nazionen be-voͤlkert, deren Kultur weit uͤber die der itzigenGenerazionen erhaben war. In welche Zeitpe-riode aber dieſe untergegangene Kultur faͤllt, auswelchem Jahrhundert dieſe Bilderfelſen oder dieGrabhuͤgel in Teneſſee ſind, iſt unmoͤglich itzt zuentſcheiden. Wagen es doch die ItaliaͤniſchenAlterthumsforſcher nicht, die Epoche der von Pe-tit-Radel neulich erlaͤuterten Zyklopeiſchen Mo-numente auf der Apenninenkette anzugeben!
Geſchichte faͤngt im neuen Kontinent erſtmit der Nazion, welche ihre Begebenheiten inhieroglyphiſchen Gemaͤlden aufzubewahren wuß- |202| te, das heißt vom 7ten Jahrhundert der chriſt-lichen Zeitrechnung an, da die Tulteker zuerſtin Anahuak (dem itzigen Mexiko) erſchienen.Kein Monument Amerikaniſcher Urvoͤlker dasuͤber dieſe ſpaͤte Periode hinaus faͤllt, kann da-her eigentlich hiſtoriſch erlaͤutert werden; und ſohat die Geſchichte des neuen Welttheils dieſeAehnlichkeit mehr mit der des Europaͤiſchen Nor-dens, wo die aͤlteſten Denkmaͤhler die Runen-ſteine ſind, Denkmaͤhler welche Rudbeck’s Phan-taſie bis zur Suͤndfluthsepoche hinaufſchob, dieaber nach Schloͤzers Unterſuchungen *) aus demſechſten Jahrhundert herſtammen. Das Peruaniſche Reich, dasjenige nehmlichwelches die Spanier zerſtoͤrten, hatte bekannt-lich einen fruͤhern Anfang als das Aztekiſchedes Montezuma. Mankokapak und Mama Okol-lo ſollen, nach Quipus-Rechnung, ihre wunder-volle Erſcheinung im Anfang des 12ten Jahr-hunderts gemacht haben, dahingegen die StadtMexiko erſt im J. 1325 erbaut wurde. Waraber auch der Mexikaniſche Staat neuer als derPeruaniſche, ſo fuͤhrt uns doch die hieroglyphi-ſche Chronologie der Mexikaner (freilich ſchwan-kend und dunkel, wie alle erſte Chronologie der
*) Doch neuerlichſt angegriffen in Winteri Dis-sert. de Origine linguae Suecanae, part. 2, p. 37.
|203| Urvoͤlker) bis ins ſechſte Jahrhundert der chriſt-lichen Zeitrechnung hinauf, alſo in eine fruͤhereEpoche als die Peruaniſchen Denkſchnuͤre. DieSagen der Inkas, die der Muyskas im altenKundinamarka (dem itzigen Koͤnigreich Neugre-nada) zeigen uns das Menſchengeſchlecht in vielekleine Staͤmme vertheilt, doch ackerbauend, undvon fremden ploͤtzlich auftretenden Wundermaͤn-nern in ſehr zuſammengeſetzte, der Entwickelungder Individuen hinderliche, politiſche Verfaſſungen(eigentliche Theokratieen) eingeengt. Dieſe Geſetz-geber ſtiegen alle von der Andeskette herab, allekamen von Oſten, und Mankokapak erſchien inder hohen Gebirgsebene am großen See von Ti-tihaka, einer Ebene die wir in der Folge als denSitz einer uralten aber fruͤh untergegangenen Kul-tur werden kennen lernen. Der in Europa we-nig bekannte, dem Manko Kapak aͤhnliche Bo-chika, der Stifter des Sonnentempels von So-gamuxi, im itzigen Koͤnigreich Santa Fe, kamuͤber das Gebirge aus den oͤſtlichen Grasflurendes Meta: alſo aus einer Gegend, wo Jahr-hunderte nachher das Menſchengeſchlecht in faſtthieriſcher Rohheit angetroffen ward. In denSuͤdamerikaniſchen Sagen wird nichts von Voͤl-kerzuͤgen, die aus Einem Punkte ausgehen, vomVerdraͤngen und Vorſchieben der Nazionen ge- |204|meldet. Ganz anders ſieht es dagegen in der etwashoͤher hinaufſteigenden Geſchichte Nordamerika-niſcher Staaten aus. In dieſer geht die Fluthder Voͤlker von Norden nach Suͤden. Ein Stammverdraͤngt den andern, und zwingt dieſen ent-weder die Herrſchaft des Eroberers zu ertragen,oder ſuͤdlicher zu entfliehen. Vom 6ten biszum 13ten Jahrhundert, von den Tultekern anbis zu den Alkohuern und Azteken, dauert dieſeBewegung fort. Man glaubt in der Mexikani-ſchen Geſchichte die Erzaͤhlung der großen Euro-paͤiſchen Voͤlkerwanderung zu leſen, in welcherdie nehmliche Horde vom Don bis an den Gua-dalquivir oder bis zu dem Afrikaniſchen Atlas vordrang.
Da die erſte Mexikaniſche Nazion, von wel-cher die durch die Spanier beſiegten Azteken Nach-richt hatten, die Tulteker waren, und da mit die-ſen zuerſt hieroglyphiſche Jahrbuͤcher in Anahuakerſchienen, ſo ſchrieb man den Tultekern natuͤr-lich nicht nur die Erfindung dieſer hiſtoriſchenMalerei zu; ſondern auch noch itzt nennen dieEingebornen in Mexiko alle Denkmahle, die einGepraͤge des hoͤchſten Alterthums an ſich tragen,Tultekiſche Denkmahle. Boturini und einige an-dre Schriftſteller haben die Idee in Gang ge-bracht, daß die Tulteker, welche, nach einer gro- |205| ßen Peſt, die Gebirgsebnen von Tenochtitlan ver-ließen und dann auf einmal in der Geſchichteverſchwinden, uͤber die Landenge nach Panamazogen, und endlich in Suͤden als Peruaner er-ſchienen. Die angeruͤhmte Sanftheit ihrer Sit-ten, die ſchuldloſen Opfer von Fruͤchten welcheſie der Sonne brachten, ihr Trieb ungeheureSteinmaſſen zu bewegen und aufzuthuͤrmen, dieGroͤße welche alle Monumente haben die manihnen zuſchreibt, koͤnnten dieſer Hypotheſe aller-dings einige Wahrſcheinlichkeit geben. Sie ſtuͤrztaber voͤllig, wie ſo manche aͤhnliche, zuſammen,wenn man ſie chronologiſch unterſucht, und ſichnicht von den zufaͤlligen Uebereinſtimmungen blen-den laͤßt, welche ſich uͤberall bei dem Anfangmenſchlicher Bildung finden. Die verheerendePeſt in Anahuak (vielleicht der Matlazahuatlder Indianer, ein Typhus der mit dem gelbenFieber einige Aehnlichkeit hat, ſich aber nicht aufdie weiße oder kaukaſiſche Menſchenrace fort-pflanzt) herrſchte um die Mitte des 11ten Jahr-hunderts, wahrſcheinlich genau ums Jahr 1051.Alſo verſchwanden die Tulteker in Mexiko nur100 Jahre fruͤher als Mankokapak in der ſuͤd-lichen Hemiſphaͤre das Peruaniſche Reich ſtiftete.Und lange vor dieſem myſtiſchen Geſetzgeber, wel-cher der neuen Welt das erſte fuͤrchterliche Bei- |206| ſpiel von Religionskriegen gab, bluͤhete ſchon imNorden und Suͤden zugleich eine nicht unbe-traͤchtliche Kultur. Die großen Gebirgsebenen von Tiahuana-ku ſcheinen der Sitz fruͤher Menſchenbildung inSuͤdamerika geweſen zu ſein. Hier fand Inka Mayta Kapak, als er unter ſchrecklichem Blut-vergießen die Provinz Callao eroberte, koloſſaleGebaͤude, einen von Menſchenhaͤnden aufgefuͤhr-ten Berg, Ruinen von Staͤdten, und zwei un-foͤrmliche Statuen. Die Eingebornen ſagten ſchondamal, ſie wuͤßten nicht wer Urheber dieſer Ge-baͤude ſei. Sie glaubten (wie die Araber un-ſerm Niebuhr von den Piramiden um Gize er-zaͤhlten), ein Zauberer habe in einer Nacht alledieſe Wunderwerke hervorgerufen. Dies beweiſt,daß bereits zu der Zeit alle Spuren von demUrſprunge dieſer alten Ueberreſte verloren gegan-gen waren. Der Spaniſche Abenteurer Diegode Alcobazar ſah nahe bei Tiahuanaku an demSee von Chikuito aͤhnliche Gebaͤude, und zahl-loſe ungeheuer große aber unfoͤrmliche Statuenvon Maͤnnern und Weibern die ihre Kinder inden Armen trugen (faſt wie die Monumente derOſterinſel). Die Peruaner erzaͤhlten, dies ſeienMenſchen die durch raͤchende Zauberer in Steineverwandelt worden waͤren, weil ſie einen armen |207| durchwandernden Fremdling, ſtatt ihn zu beher-bergen, todtgeſchlagen haͤtten: eine Mythe, diean aͤhnliche Aſiatiſche, und nach dem großen Ge-ſchichtforſcher Johann von Muͤller an aͤhnlicheSchweizeriſche im Saanenlande erinnert, undderen Erfindung gewiß dem moraliſchen Gefuͤhledieſer Voͤlker Ehre macht. Garcilaſſo, deſſen Fa-milienſtolz geneigt iſt, alle Kultur ſeinen Ahnherrnden Inkas zuzuſchreiben, geſteht doch ſelbſt daßdie große Feſtung bei Cuſco die noch uͤbrig iſt,eine Nachahmung der aͤltern Gebaͤude von Ti-ahuanaku geweſen ſei. Reiſende haben mich ver-ſichert, daß um den See Chukuito noch jetzt un-geheuer große behauene Steinmaſſen und Mau-ren geſehen werden, eine Nachricht welche Al-cobazar’s Erzaͤhlung zu beglaubigen ſcheint. BeiTruxillo an der Kuͤſte der Suͤdſee bin ich Stun-denlang in den Ruinen der Stadt Manſiche um-hergeritten: Ruinen, die einen Flaͤchenraum ein-nehmen der nicht viel geringer als der von Ber-lin iſt, und welche ebenfalls vor der Ankunft derInkas exiſtirten. — So ſieht man alſo, daß zuderſelben Zeit als die Tulteker in Mexiko Pi-ramiden bauten und ſie mit Porphyrtafeln beklei-deten, in der ſuͤdlichen Hemiſphaͤre andre Voͤl-ker bereits zu einer aͤhnlichen Kultur gelangt wa-ren. So iſt die Menſchheit im Neuen Konti- |208| nent, in den entfernteſten Punkten zugleich, zubildendem Kunſtfleiß erwacht. Wie die Werke dieſer Kultur gegenwaͤrtigbeſchaffen ſind, wird uns in einer folgenden Ab-handlung beſchaͤftigen.

Al. von Humboldt.