Das Leben in der Schöpfung. Wenn der Menſch mit regſamem Sinne die Natur durchforſcht, oder in ſeiner Phantaſie die weiten Räume der organiſchen Schöpfung mißt, ſo wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner ſo tief und mächtig, als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt. Ueberall, ſelbſt am beeisten Pol ertönt die Luft von dem Geſange der Vögel, wie von dem Sumſen ſchwirrender Inſekten. Nicht die unteren Schichten allein, in welchen die verdichteten Dünſte ſchweben, auch die oberen ätheriſchreinen, ſind belebt. Denn ſo oft man den Rücken der peruaniſchen Cordilleren, oder, ſüdlich vom Leman-See, den Gipfel des weißen Berges beſtieg, hat man ſelbſt in dieſen Einöden noch Thiere entdeckt. Am Chimborazo, faſt zweimal höher als der Aetna, ſahen wir Schmetterlinge und andere geflügelte Inſekten. Wenn auch, von ſenkrechten Luftſtrömen getrieben, ſie ſich dahin, als Fremdlinge, verirrten, wohin unruhige Forſchbegier des Menſchen ſorgſame Schritte leitet, ſo beweiſet ihr Daſein doch, daß die biegſamere animaliſche Schöpfung ausdauert, wo die vegetabiliſche längſt ihre Gränze erreicht hat. Höher, als der Kegelberg von Teneriffa auf den ſchneebedeckten Rücken der Pyrenäen gethürmt, höher, als alle Gipfel der Andeskette, ſchwebte oft über uns der Cundur, der Rieſe unter den Geiern. Raubſucht und Nachſtellung der zartwolligen Vikumas, welche gemſenartig und heerdenweiſe in den beſchneiten Grasebenen ſchwärmen, locken den mächtigen Vogel in dieſe Region. Zeigt nun ſchon das unbewaffnete Auge den ganzen Luftkreis belebt, ſo enthüllt noch größere Wunder das bewaffnete Auge. Räderthiere, Brachionen und eine Schaar mikroskopiſcher Geſchöpfe heben die Winde aus den trocknenden Gewäſſern empor. Unbeweglich und in Scheintod verſenkt, ſchweben ſie in den Lüften, bis der Thau ſie zur nährenden Erde zurückführt, die Hülle löſt, die ihren durchſichtigen, wirbelnden Körper einſchließt und (wahrſcheinlich durch den Lebensſtoff, den alles Waſſer enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht. Neben den entwickelten Geſchöpfen trägt der Luftkreis auch zahlloſe Keime künftiger Bildungen, Inſekten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zur langen Herbſtreiſe geſchickt ſind. Selbſt den belebenden Staub, den, bei getrennten Geſchlechtern, die männlichen Blüthen ausſtreuen, tragen Winde und geflügelte Inſekten über Meer und Land den einſamen weiblichen zu. Wohin der Blick des Naturforſchers dringt, iſt Leben oder Keim zum Leben verbreitet. Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir getaucht ſind, und über deſſen Oberfläche wir uns nicht zu erheben vermögen, vielen organiſchen Geſchöpfen zur nothwendigſten Nahrung; ſo bedürfen dieſelben dabei doch noch einer gröberen Speiſe, welche nur der Boden dieſes gasförmigen Oceans darbietet. Dieſer Boden iſt zwiefacher Art. Den kleineren Theil bildet die trockene Erde, unmittelbar von Luft umfloſſen; den größeren Theil bildet das Waſſer, vielleicht einſt vor Jahrtauſenden durch elektriſches Feuer aus luftförmigen Stoffen zuſammengenommen, und jetzt unaufhörlich in der Werkſtatt der Wolken, wie in den pulſirenden Gefäßen der Thiere und Pflanzen, zerſetzt. Unentſchieden iſt es, wo größere Lebensfülle verbreitet ſei, ob auf dem Continent oder in dem unergründeten Meere. In dieſem erſcheinen gallertartige Seegewürme, bald lebendig, bald abgeſtorben, als leuchtende Sterne. Ihr Phosphorlicht wandelt die grünliche Fläche des unermeßlichen Oceans in ein Feuermeer um. Unauslöſchlich wird mir der Eindruck jener ſtillen Tropen-Nächte der Südſee bleiben, wo aus der duftigen Himmelsbläue das hohe Sternbild des Schiffes und das geſenkt untergehende Kreuz ihr mildes planetariſches Licht ausgoſſen, und wo zugleich in der ſchäumenden Meeresfluth die Delphine ihre leuchtenden Furchen zogen. Aber nicht der Ocean allein, auch die Sumpfwaſſer verbergen zahlloſe Gewürme von wunderbarer Geſtalt. Unſerem Auge faſt unerkennbar ſind die Cyclidien, die gefranzten Trichoden und das Heer der Naiden, theilbar durch Aeſte, wie die Lemna , deren Schatten ſie ſuchen. Von mannichfaltigen Luftgemengen umgeben und mit dem Lichte unbekannt, athmen die gefleckte Askaris, welche die Haut des Regenwurms, die ſilberglänzende Leukophra, welche das Innere der Ufer-Naide und ein Pentaſtoma, welches die weitzellige Lunge der tropiſchen Klapperſchlange bewohnt. So ſind auch die verborgenſten Räume der Schöpfung mit Leben erfüllt. Wir wollen hier beſcheiden bei den Geſchlechtern der Pflanzen verweilen; denn auf ihrem Daſein beruht das Daſein der thieriſchen Schöpfung. Unabläſſig ſind ſie bemüht, den rohen Stoff der Erde organiſch an einander zu reihen und vorbereitend, durch lebendige Kraft, zu miſchen, was nach tauſend Umwandlungen zur regſamen Nervenfaſer veredelt wird. Derſelbe Blick, den wir auf die Verbreitung der Pflanzendecke heften, enthüllt uns die Fülle des thieriſchen Lebens, das von jener genährt und erhalten wird. Ungleich iſt der Teppich gewebt, den die blüthenreiche Flora über den nackten Erdkörper ausbreitet; dichter, wo die Sonne höher an dem nie bewölkten Himmel emporſteigt; lockerer gegen die trägen Pole hin, wo der wiederkehrende Froſt bald die entwickelte Knospe tödtet, bald die reifende Frucht erhaſcht. Doch überall darf der Menſch ſich der nährenden Pflanzen erfreuen. Trennt im Meeresboden ein Vulkan die kochende Fluth und ſchiebt plötzlich (wie einſt zwiſchen den griechiſchen Inſeln) einen ſchlackigen Fels empor; oder erheben (um an eine friedlichere Naturerſcheinung zu erinnern) die einträchtigen Lithophyten ihre zelligen Wohnungen, bis ſie nach Jahrtauſenden über den Waſſerſpiegel hervorragend abſterben und ein flaches Corallen-Eiland bilden: ſo ſind die organiſchen Kräfte ſogleich bereit, den todten Fels zu beleben. Was den Samen ſo plötzlich herbeiführt, ob wandernde Vögel oder Winde oder die Wogen des Meeres, iſt bei der großen Entfernung der Küſten ſchwer zu entſcheiden. Aber auf dem nackten Steine, ſobald ihn zuerſt die Luft berührt, bildet ſich in den nordiſchen Ländern ein Gewebe ſammtartiger Faſern, die dem unbewaffneten Auge als farbige Flecken erſcheinen. Einige ſind durch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt begränzt; andere ſind in Furchen durchſchnitten und in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt ſich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun und das bläuliche Grau der Leprarien verwandelt ſich nach und nach in ein ſtaubartiges Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke fließen in einander und auf dem dunkeln Grunde bilden ſich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiße. So lagert ſich ſchichtenweiſe ein organiſches Gewebe auf das andere, und wie das ſich anſiedelnde Menſchengeſchlecht beſtimmte Stufen der ſittlichen Cultur durchlaufen muß, ſo iſt die allmählige Verbreitung der Pflanzen an beſtimmte phyſiſche Geſetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben, da überzogen einſt zarte Flechten das erdenloſe Geſtein. Laubmooſe, Gräſer, krautartige Gewächſe und Sträucher füllen die Kluft der langen, aber ungemeſſenen Zwiſchenzeit aus. Was im Norden Flechten und Mooſe, das bewirken in den Tropen Portulaca, Gomphrenen und andere niedrige Uferpflanzen. Die Geſchichte der Pflanzendecke und ihre allmählige Ausbreitung über die öde Erdrinde hat ihre Epochen, wie die Geſchichte des ſpätern Menſchengeſchlechts. Alexander v. Humboldt.