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Alexander von Humboldt: „Das Leben in der Schöpfung“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1806-Fragment_aus_der-14-neu> [abgerufen am 19.04.2024].

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Permalink:
https://humboldt.unibe.ch/text/1806-Fragment_aus_der-14-neu
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Titel Das Leben in der Schöpfung
Jahr 1843
Ort Darmstadt
Nachweis
in: Friedrich Zimmermann (Hrsg.), Deutsches Lesebuch in Poesie und Prosa zunächst zum Gebrauche der unteren und mittleren Klassen von Gymnasien und Realschulen. In drei Cursen, 3 Bände, Darmstadt: Jonghaus 1843, Band 3, S. 333–336.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.42
Dateiname: 1806-Fragment_aus_der-14-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 4
Zeichenanzahl: 7464

Weitere Fassungen
Fragment aus der am 30sten Jan. 1806 in der öffentlichen Sitzung der Königl. Akademie gehaltenen Vorlesung: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Berlin, 1806, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, von Alexander von Humboldt. Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der königl. preuss. Akademie der Wissenschaften am 30 Januar 1806. 29 S. 8. (Jena, 1806, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Weimar, 1806, Deutsch)
Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen von Alexander von Humboldt. Zwey Bände. Zweyte verbesserte und vermehrte Ausgabe. Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1826. 12. (Stuttgart; Tübingen, 1827, Deutsch)
Die Fülle des Lebens in der Natur (Wien, 1828, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (London, 1830, Deutsch)
Ueber die Verbreitung und den verschiedenen Charakter des organischen Lebens, besonders der Pflanzen (Frankfurt am Main, 1831, Deutsch)
Ueber die Verbreitung und Mannigfaltigkeit des organischen Lebens, besonders der Pflanzen (Paris; Strasbourg, 1831, Deutsch)
О растенiяхъ [O rastenijach] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
О повсемѣстномъ разлитiи жизни [O povseměstnom razlitii žizni] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Berlin, 1837, Deutsch)
Alexander von Humboldt (London, 1843, Deutsch)
Alexander von Humboldt (Stuttgart, 1843, Deutsch)
Das Leben in der Schöpfung (Darmstadt, 1843, Deutsch)
Das Leben in der Schöpfung (Breda, 1843, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Berlin, 1843, Deutsch)
Alexander von Humboldt (Berlin, 1844, Deutsch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Leipzig, 1843, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (München, 1845, Deutsch)
Beauties of Tropical Vegetation (Bradford, 1849, Englisch)
Beautiful Flowering Trees (Manchester, 1850, Englisch)
Beautiful Flowering Trees (Canterbury, 1850, Englisch)
Universal Diffusion of Life (Boston, Massachusetts, 1850, Englisch)
Vext-Fysiognomik (Helsinki, 1850, Schwedisch)
Beautiful Flowering Trees (Racine, Wisconsin, 1850, Englisch)
Der Pflanzenwuchs in den Tropen (London, 1850, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Stuttgart; Tübingen, 1850, Deutsch)
Beautiful Flowering Trees (Boston, Massachusetts, 1851, Englisch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Frankfurt am Main, 1851, Deutsch)
Histoire de la couche végétale du globe (Paris, 1852, Französisch)
La physionomie des plantes (Liège, 1852, Französisch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Wien, 1853, Deutsch)
Das Leben in der Schöpfung (Leipzig, 1853, Deutsch)
Physiognomik der Pflanzenformen (Berlin, 1853, Deutsch)
Die Physiognomik der Gewächse (Hildburghausen; New York City, New York, 1853, Deutsch)
Physiognomik der Gewächse (Stuttgart, 1854, Deutsch)
Physiognomik der Pflanzenformen (Stuttgart, 1855, Deutsch)
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Das Leben in der Schöpfung.

Wenn der Menſch mit regſamem Sinne die Natur durchforſcht,oder in ſeiner Phantaſie die weiten Räume der organiſchen Schö-pfung mißt, ſo wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er em-pfängt, keiner ſo tief und mächtig, als der, welchen die allverbrei-tete Fülle des Lebens erzeugt. Ueberall, ſelbſt am beeisten Polertönt die Luft von dem Geſange der Vögel, wie von dem Sum-ſen ſchwirrender Inſekten. Nicht die unteren Schichten allein, inwelchen die verdichteten Dünſte ſchweben, auch die oberen ätheriſch-reinen, ſind belebt. Denn ſo oft man den Rücken der peruaniſchenCordilleren, oder, ſüdlich vom Leman-See, den Gipfel des weißenBerges beſtieg, hat man ſelbſt in dieſen Einöden noch Thiere ent-deckt. Am Chimborazo, faſt zweimal höher als der Aetna, ſahenwir Schmetterlinge und andere geflügelte Inſekten. Wenn auch,von ſenkrechten Luftſtrömen getrieben, ſie ſich dahin, als Fremdlinge,verirrten, wohin unruhige Forſchbegier des Menſchen ſorgſame |334| Schritte leitet, ſo beweiſet ihr Daſein doch, daß die biegſamereanimaliſche Schöpfung ausdauert, wo die vegetabiliſche längſt ihreGränze erreicht hat. Höher, als der Kegelberg von Teneriffa aufden ſchneebedeckten Rücken der Pyrenäen gethürmt, höher, alsalle Gipfel der Andeskette, ſchwebte oft über uns der Cundur, derRieſe unter den Geiern. Raubſucht und Nachſtellung der zart-wolligen Vikumas, welche gemſenartig und heerdenweiſe in denbeſchneiten Grasebenen ſchwärmen, locken den mächtigen Vogel indieſe Region. Zeigt nun ſchon das unbewaffnete Auge den ganzen Luftkreisbelebt, ſo enthüllt noch größere Wunder das bewaffnete Auge.Räderthiere, Brachionen und eine Schaar mikroskopiſcher Geſchöpfeheben die Winde aus den trocknenden Gewäſſern empor. Unbeweg-lich und in Scheintod verſenkt, ſchweben ſie in den Lüften, bisder Thau ſie zur nährenden Erde zurückführt, die Hülle löſt, dieihren durchſichtigen, wirbelnden Körper einſchließt und (wahrſchein-lich durch den Lebensſtoff, den alles Waſſer enthält) den Organenneue Erregbarkeit einhaucht. Neben den entwickelten Geſchöpfen trägt der Luftkreis auchzahlloſe Keime künftiger Bildungen, Inſekten-Eier und Eier derPflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zur langen Herbſt-reiſe geſchickt ſind. Selbſt den belebenden Staub, den, bei getrenn-ten Geſchlechtern, die männlichen Blüthen ausſtreuen, tragen Windeund geflügelte Inſekten über Meer und Land den einſamen weib-lichen zu. Wohin der Blick des Naturforſchers dringt, iſt Lebenoder Keim zum Leben verbreitet. Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir getauchtſind, und über deſſen Oberfläche wir uns nicht zu erheben ver-mögen, vielen organiſchen Geſchöpfen zur nothwendigſten Nahrung;ſo bedürfen dieſelben dabei doch noch einer gröberen Speiſe, welchenur der Boden dieſes gasförmigen Oceans darbietet. Dieſer Bo-den iſt zwiefacher Art. Den kleineren Theil bildet die trockeneErde, unmittelbar von Luft umfloſſen; den größeren Theil bildetdas Waſſer, vielleicht einſt vor Jahrtauſenden durch elektriſchesFeuer aus luftförmigen Stoffen zuſammengenommen, und jetzt un-aufhörlich in der Werkſtatt der Wolken, wie in den pulſirendenGefäßen der Thiere und Pflanzen, zerſetzt. Unentſchieden iſt es, wo größere Lebensfülle verbreitet ſei, obauf dem Continent oder in dem unergründeten Meere. In dieſemerſcheinen gallertartige Seegewürme, bald lebendig, bald abgeſtor-ben, als leuchtende Sterne. Ihr Phosphorlicht wandelt die grün-liche Fläche des unermeßlichen Oceans in ein Feuermeer um. Un-auslöſchlich wird mir der Eindruck jener ſtillen Tropen-Nächte derSüdſee bleiben, wo aus der duftigen Himmelsbläue das hoheSternbild des Schiffes und das geſenkt untergehende Kreuz ihr |335| mildes planetariſches Licht ausgoſſen, und wo zugleich in der ſchäu-menden Meeresfluth die Delphine ihre leuchtenden Furchen zogen. Aber nicht der Ocean allein, auch die Sumpfwaſſer verbergenzahlloſe Gewürme von wunderbarer Geſtalt. Unſerem Auge faſtunerkennbar ſind die Cyclidien, die gefranzten Trichoden und dasHeer der Naiden, theilbar durch Aeſte, wie die Lemna, derenSchatten ſie ſuchen. Von mannichfaltigen Luftgemengen umgebenund mit dem Lichte unbekannt, athmen die gefleckte Askaris, welchedie Haut des Regenwurms, die ſilberglänzende Leukophra, welchedas Innere der Ufer-Naide und ein Pentaſtoma, welches die weit-zellige Lunge der tropiſchen Klapperſchlange bewohnt. So ſind auchdie verborgenſten Räume der Schöpfung mit Leben erfüllt. Wirwollen hier beſcheiden bei den Geſchlechtern der Pflanzen verweilen;denn auf ihrem Daſein beruht das Daſein der thieriſchen Schö-pfung. Unabläſſig ſind ſie bemüht, den rohen Stoff der Erde or-ganiſch an einander zu reihen und vorbereitend, durch lebendigeKraft, zu miſchen, was nach tauſend Umwandlungen zur regſamenNervenfaſer veredelt wird. Derſelbe Blick, den wir auf die Ver-breitung der Pflanzendecke heften, enthüllt uns die Fülle des thie-riſchen Lebens, das von jener genährt und erhalten wird. Ungleich iſt der Teppich gewebt, den die blüthenreiche Floraüber den nackten Erdkörper ausbreitet; dichter, wo die Sonnehöher an dem nie bewölkten Himmel emporſteigt; lockerer gegendie trägen Pole hin, wo der wiederkehrende Froſt bald die ent-wickelte Knospe tödtet, bald die reifende Frucht erhaſcht. Dochüberall darf der Menſch ſich der nährenden Pflanzen erfreuen. Trennt im Meeresboden ein Vulkan die kochende Fluth undſchiebt plötzlich (wie einſt zwiſchen den griechiſchen Inſeln) einenſchlackigen Fels empor; oder erheben (um an eine friedlichere Na-turerſcheinung zu erinnern) die einträchtigen Lithophyten ihre zelli-gen Wohnungen, bis ſie nach Jahrtauſenden über den Waſſer-ſpiegel hervorragend abſterben und ein flaches Corallen-Eiland bil-den: ſo ſind die organiſchen Kräfte ſogleich bereit, den todten Felszu beleben. Was den Samen ſo plötzlich herbeiführt, ob wan-dernde Vögel oder Winde oder die Wogen des Meeres, iſt beider großen Entfernung der Küſten ſchwer zu entſcheiden. Aberauf dem nackten Steine, ſobald ihn zuerſt die Luft berührt, bildetſich in den nordiſchen Ländern ein Gewebe ſammtartiger Faſern,die dem unbewaffneten Auge als farbige Flecken erſcheinen. Einigeſind durch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt begränzt;andere ſind in Furchen durchſchnitten und in Fächer getheilt. Mitzunehmendem Alter verdunkelt ſich ihre lichte Farbe. Das fern-leuchtende Gelb wird braun und das bläuliche Grau der Leprarienverwandelt ſich nach und nach in ein ſtaubartiges Schwarz. DieGränzen der alternden Decke fließen in einander und auf dem dun-keln Grunde bilden ſich neue zirkelrunde Flechten von blendender |336| Weiße. So lagert ſich ſchichtenweiſe ein organiſches Gewebe aufdas andere, und wie das ſich anſiedelnde Menſchengeſchlecht be-ſtimmte Stufen der ſittlichen Cultur durchlaufen muß, ſo iſt dieallmählige Verbreitung der Pflanzen an beſtimmte phyſiſche Ge-ſetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig er-heben, da überzogen einſt zarte Flechten das erdenloſe Geſtein.Laubmooſe, Gräſer, krautartige Gewächſe und Sträucher füllendie Kluft der langen, aber ungemeſſenen Zwiſchenzeit aus. Wasim Norden Flechten und Mooſe, das bewirken in den TropenPortulaca, Gomphrenen und andere niedrige Uferpflanzen. DieGeſchichte der Pflanzendecke und ihre allmählige Ausbreitung überdie öde Erdrinde hat ihre Epochen, wie die Geſchichte des ſpäternMenſchengeſchlechts.

Alexander v. Humboldt.