Alexander von Humboldt. I. Das Leben in der Schöpfung. (1805.) Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die Natur durchforscht, oder in seiner Fantasie die weiten Räume der organischen Schöpfung misst, so wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt. Ueberall, selbst am beeisten Pol, ertönt die Luft von dem Gesange der Vögel, wie von dem Sumsen schwirrender Insekten. Nicht die unteren Schichten allein, in welchen die verdichteten Dünste schweben, auch die oberen ätherisch-reinen, sind belebt. Denn so oft man den Rücken der peruanischen Cordilleren, oder, südlich vom Leman-See, den Gipfel des weissen Berges bestieg, hat man selbst in diesen Einöden noch Thiere entdeckt. Am Chimborazo, fast zweimal höher als der Aetna, sahen wir Schmetterlinge und andere geflügelte Insekten. Wenn auch, von senkrechten Luftströmen getrieben, sie sich dahin verirrten, wohin unruhige Forschbegier des Menschen sorgsame Schritte leitet; so beweiset ihr Dasein doch, dass die biegsamere animalische Schöpfung ausdauert, wo die vegetabilische längst ihre Gränze erreicht hat. Höher als der Kegelberg von Teneriffa auf den schneebedeckten Rücken der Pyrenäen gethürmt; höher als alle Gipfel der Andeskette, schwebte oft über uns der Cundur, der Riese unter den Geyern. Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen Vikumas, welche gemsenartig und heerdenweise in den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den mächtigen Vogel in diese Region. Zeigt nun schon das unbewaffnete Auge den ganzen Luftkreis belebt, so enthüllt noch grössere Wunder das bewaffnete Auge. Räderthiere, Brachionen und eine Schaar mikroskopischer Geschöpfe heben die Winde aus den trocknenden Gewässern empor. Unbeweglich und in Scheintod versenkt, schweben sie in den Lüften, bis der Thau sie zur nährenden Erde zurückführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen wirbelnden Körper einschliesst, und (wahrscheinlich durch den Lebensstoff, den alles Wasser enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht. Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen, Insekten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zur langen Herbstreise geschickt sind. Selbst den belebenden Staub, den, bei getrennten Geschlechtern, die männlichen Blüthen ausstreuen, tragen Winde und geflügelte Insekten über Meer und Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick des Naturforschers dringt, ist Leben, oder Keim zum Leben, verbreitet. Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir getaucht sind, und über dessen Oberfläche wir uns nicht zu erheben vermögen, vielen organischen Geschöpfen zur nothwendigsten Nahrung; so bedürfen dieselben dabei doch noch einer gröberen Speise, welche nur der Boden dieses gasförmigen Oceans darbietet. Dieser Boden ist zwiefacher Art. Den kleineren Theil bildet die trockene Erde, unmittelbar von Luft umflossen; den grössern Theil bildet das Wasser, vielleicht einst vor Jahrtausenden durch elektrisches Feuer aus luftförmigen Stoffen zusammengenommen, und jetzt unaufhörlich in der Werkstatt der Wolken, wie in den pulsirenden Gefässen der Thiere und Pflanzen, zersetzt. Unentschieden ist es, wo grössere Lebensfülle verbreitet sei, ob auf dem Continent, oder in dem unergründeten Meere. In diesem erscheinen gallertartige Seegewürme, bald lebendig, bald abgestorben, als leuchtende Sterne. Ihr Phosphorlicht wandelt die grünliche Fläche des unermesslichen Oceans in ein Feuermeer um. Unauslöschlich wird mir der Eindruck jener stillen Tropen-Nächte der Südsee bleiben, wo aus der duftigen Himmelsbläue das hohe Sternbild des Schiffes und das gesenkt untergehende Kreuz ihr mildes planetarisches Licht ausgossen; und wo zugleich in der schäumenden Meeresfluth die Delphine ihre leuchtenden Furchen zogen. Aber nicht der Ocean allein, auch die Sumpfwasser verbergen zahllose Gewürme von wunderbarer Gestalt. Unserem Auge fast unerkennbar sind die Cyclidien, die gefranzten Trichoden und das Heer der Naiden, theilbar durch Aeste, wie die Lemna, deren Schatten sie suchen. Von mannichfaltigen Luftgemengen umgeben, und mit dem Lichte unbekannt, athmen die gefleckte Askaris, welche die Haut des Regenwurms, die silberglänzende Leukophra, welche das Innere der Ufer-Naide, und ein Pentastoma, welches die weitzellige Lunge der tropischen Klapperschlange bewohnt. So sind auch die verborgensten Räume der Schöpfung mit Leben erfüllt. Wir wollen hier bescheiden bei den Geschlechtern der Pflanzen verweilen; denn auf ihrem Dasein beruht das Dasein der thierischen Schöpfung. Unablässig sind sie bemüht, den rohen Stoff der Erde organisch an einander zu reihen, und vorbereitend, durch lebendige Kraft, zu mischen, was nach tausend Umwandlungen zur regsamen Nervenfaser veredelt wird. Derselbe Blick, den wir auf die Verbreitung der Pflanzendecke heften, enthüllt uns die Fülle des thierischen Lebens, das von jener genährt und erhalten wird. Ungleich ist der Teppich gewebt, den die blüthenreiche Flora über den nackten Erdkörper ausbreitet; dichter, wo die Sonne höher an dem nie bewölkten Himmel emporsteigt; lockerer gegen die trägen Pole hin, wo der wiederkehrende Frost bald die entwickelte Knospe tödtet, bald die reifende Frucht erhascht. Doch überall darf der Mensch sich der nährenden Pflanzen erfreuen. Trennt im Meeresboden ein Vulkan die kochende Fluth, und schiebt plötzlich (wie einst zwischen den griechischen Inseln) einen schlackigen Fels empor; oder erheben (um an eine friedlichere Naturerscheinung zu erinnern) die einträchtigen Lithophyten ihre zelligen Wohnungen, bis sie nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden: so sind die organischen Kräfte sogleich bereit, den todten Fels zu beleben. Was den Samen so plötzlich herbeigeführt: ob wandernde Vögel, oder Winde, oder die Wogen des Meeres, ist bei der grossen Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber auf dem nackten Steine, sobald ihn zuerst die Luft berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewaffneten Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind durch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt begränzt; audere sind in Furchen durchschnitten und in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke fliessen in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weisse. So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe auf das andere, und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht bestimmte Stufen der sittlichen Cultur durchlaufen muss, so ist die allmählige Verbreitung der Pflanzen an bestimmte physische Gesetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben, da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein. Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und Sträucher füllen die Kluft der langen, aber ungemessenen Zwischenzeit aus. Was im Norden Flechten und Moose, das bewirken in den Tropen Portulaca, Gomphrenen und andere niedrige Uferpflanzen. Die Geschichte der Pflanzendecke und ihre allmählige Ausbreitung über die öde Erdrinde, hat ihre Epochen, wie die Geschichte des spätern Menschengeschlechts. II. Die Tropengewächse. Es wäre ein Unternehmen, eines grossen Künstlers werth, den Charakter aller dieser Pflanzengruppen nicht in Treibhäusern, oder in den Beschreibungen der Botaniker, sondern in der grossen Tropen-Natur selbst, zu studiren. Wie interessant und lehrreich für den Landschaftsmaler wäre ein Werk, welches dem Auge die aufgezählten sechszehn Hauptformen, erst einzeln, und dann in ihrem Contraste gegen einander, darstellte. Was ist malerischer, als baumartige Farrenkräuter, die ihre zartgewebten Blätter über die mexikanische Lorbeereichen ausbreiten! Was reizender, als Pisanggebüsche von hohen Bambusgräsern umschattet! Dem Künstler ist es gegeben, die Gruppen zu zergliedern, und unter seiner Hand löst sich (wenn ich den Ausdruck wagen darf) das grosse Zauberbild der Natur, gleich den geschriebenen Werken der Menschen, in wenige einfache Züge auf! Am glühenden Sonnenstrahl des tropischen Himmels gedeihen die herrlichsten Gestalten der Pflanzen. Wie im kalten Norden die Baumrinde mit dürren Flechten und Laubmoosen bedeckt ist, so beleben dort Cymbidium und duftende Vanille den Stamm der Anacardien und der riesenmässigen Feigenbäume. Das frische Grün der Pothosblätter und der Dracontien contrastirt mit den vielfarbigen Blüthen der Orchideen. Rankende Bauhinien, Passifloren und gelbblühende Banisterien umschlingen den Stamm der Waldbäume. Zarte Blumen entfalten sich aus den Wurzeln der Theobroma, wie aus der dichten und rauhen Rinde der Crescentien und der Gustavia. Bei dieser Fülle von Blüthen und Blättern, bei diesem üppigen Wuchse und der Verwirrung rankender Gewächse, wird es oft dem Naturforscher schwer zu erkennen, welchem Stamme Blüthen und Blätter zugehören. Ein einziger Baum mit Paullinien, Bignonien, und Deudrobium geschmückt, bildet eine Gruppe von Pflanzen, welche, von einander getrennt, einen beträchtlichen Erdraum bedecken würden. In den Tropen sind die Gewächse saftstrotzender, von frischerem Grün, mit grösseren und glänzenderen Blättern geziert, als in den nördlichern Erdstrichen. Gesellschaftlich lebende Pflanzen, welche die europäische Vegetation so einförmig machen, fehlen am Aequator beinahe gänzlich. Bäume, fast zweimal so hoch als unsere Eichen, prangen dort mit Blüthen, welche gross und prachtvoll wie unsere Lilien sind. An den schattigen Ufern des Magdalenenflusses in Süd-Amerika wächst eine rankende Aristolochia, deren Blume, von vier Fuss Umfang, sich die indischen Knaben in ihren Spielen über den Scheitel ziehen. Im südindischen Archipel hat die Blüthe der Rafflesia fast drei Fuss Durchmesser und wiegt 14 Pfund. Die ausserordentliche Höhe, zu welcher sich unter den Wendekreisen nicht blos einzelne Berge, sondern ganze Länder erheben, und die Kälte, welche Folgen dieser Höhe ist, gewähren dem Tropen-Bewohner einen seltsamen Anblick. Ausser den Palmen und Pisanggebüschen umgeben ihn auch die Pflanzenformen , welche nur den nordischen Ländern anzugehören scheinen. Cypressen, Tannen und Eichen, Berberissträucher und Erlen (nahe mit den unsrigen verwandt) bedecken die Gebirgsebenen im südlichen Mexico, wie die Andeskette unter dem Aequator. So hat die Natur dem Menschen in der heissen Zone verliehen, ohne seine Heimath zu verlassen, alle Pflanzengestalten der Erde zu sehen; wie das Himmelsgewölbe von Pol zu Pol ihm keine seiner leuchtenden Welten verbirgt. Diesen und so manchen andern Naturgenuss entbehren die nordischen Völker. Viele Gestirne und viele Pflanzenformen, von diesen gerade die schönsten (Palmen und Pisanggewächse, baumartige Gräser und feingefiederte Mimosen), bleiben ihnen ewig unbekannt. Die krankenden Gewächse, welche unsere Treibhäuser einschliessen, gewähren nur ein schwaches Bild von der Majestät der Tropenvegetation. Aber in der Ausbildung unserer Sprache, in der glühenden Phantasie des Dichters, in der darstellenden Kunst der Maler, ist eine reiche Quelle des Ersatzes geöffnet. Aus ihr schöpft unsere Einbildungskraft die lebendigen Bilder einer exotischen Natur. Im kalten Norden, in der öden Heide, kann der einsame Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen erforscht wird, und so in seinem Innern eine Welt sich schaffen, welche das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich, wie diese, ist.