Allgemeines Bild der Flora auf der Erde. §. 1. Ungleich iſt der Teppich gewebt, den die blüthenreiche Flora über den nackten Erdkörper ausbreitet, dichter, wo die Sonne höher an dem nie bewölkten Himmel emporſteigt, lockerer gegen die trägen Pole hin, wo der wiederkehrende Froſt bald die entwickelte Knospe tödtet, bald die reifende Frucht erhaſcht. Doch überall darf der Menſch ſich der nährenden Pflanzen erfreun. Trennt im Meeresboden ein Vulkan die kochende Fluth, und ſchiebt plötzlich, wie einſt zwiſchen den griechiſchen Inſeln, einen ſchlackigen Fels hervor, oder erheben, um an eine friedlichere Naturerſcheinung zu erinnern, die einträchtigen Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis ſie nach Jahrtauſenden, über den Waſſerſpiegel hervorragend, abſterben, und ein flaches Korallen- Eiland bilden, ſo ſind die organiſchen Kräfte ſogleich bereit, den todten Fels zu beleben. Was den Saamen ſo plötzlich herbeiführt, ob wandernde Vögel, oder Winde, oder die Wogen des Meeres, iſt bei der großen Entfernung der Küſten ſchwer zu unterſcheiden. §. 2. Aber auf dem nackten Steine, ſobald ihn zuerſt die Luft berührt, bildet ſich in den nordiſchen Ländern ein Gewebe ſammetartiger Faſern, die dem unbewaffneten Auge als farbige Flecken erſcheinen. Einige ſind durch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt begrenzt; andere ſind in Furchen durchſchnitten, und in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt ſich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien verwandelt ſich nach und nach in ein ſtaubartiges Schwarz. Die Grenzen der alternden Decke fließen in einander, und auf dem dunklen Grunde bilden ſich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiße. §. 3. So lagert ſich ſchichtenweiſe ein organiſches Gewebe auf das andere, und wie das ſich anſiedelnde Menſchengeſchlecht beſtimmte Stufen der ſittlichen Kultur durchlaufen muß, ſo iſt die allmälige Verbreitung der Pflanzen an beſtimmte phyſiſche Geſetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben, da überzogen einſt zarte Flechten das erdenloſe Geſtein. Laubmooſe, Gräſer, krautartige Gewächſe und Sträucher füllen die Kluft der langen, aber ungemeſſenen Zwiſchenzeit aus. Was im Norden Flechten und Mooſe, das bewirken in den Tropen Portulaceen, Gomphrenen und andere niedrige Uferpflanzen. Die Geſchichte der Pflanzendecke, und ihrer allmäligen Ausbreitung über die öde Erdrinde, hat ihre Epochen, wie die Geſchichte des ſpäteren Menſchengeſchlechtes. §. 4. Iſt aber auch Fülle des Lebens überall verbreitet, iſt der Organismus auch unabläſſig bemüht, die durch den Tod entfeſſelten Elemente zu neuen Geſtalten zu verbinden, ſo iſt dieſe Lebensfülle und ihre Erneuerung doch nach Verſchiedenheit der Himmelsſtriche verſchieden. Periodiſch erſtarrt die Natur in der kalten Zone, denn Flüſſigkeit iſt Bedingniß zum Leben. Thiere und Pflanzen, Laubmoos und andere Cryptogamen abgerechnet, liegen hier viele Monate hindurch im Winterſchlaf vergraben. In einem großen Theile der Erde haben daher nur ſolche organiſche Weſen ſich entwickeln können, welche einer beträchtlichen Entziehung von Wärmeſtoff widerſtehen können, oder einer langen Unterbrechung der Lebensſunctionen fähig ſind. Je näher dagegen den Tropen, deſto mehr nimmt Mannigfaltigkeit der Bildungen, Anmuth der Form und des Farbengemiſches, ewige Jugend und Kraft des organiſchen Lebens zu. §. 5. Dieſe Zunahme kann leicht von denen bezweifelt werden, welche nie unſern Welttheil verlaſſen, oder das Studium der allgemeinen Erdkunde vernachläſſigt haben. Wenn man aus unſeren dicklaubigen Eichenwäldern über die Alpen- oder Pyrenäen-Kette nach Welſchland oder Spanien hinabſteigt, wenn man gar ſeinen Blick auf die afrikaniſchen Küſtenländer des Mittelmeeres richtet, ſo wird man leicht zu dem Fehlſchluſſe verleitet, als ſei Baumloſigkeit der Charakter heißer Klimate. Aber man vergißt, daß das ſüdliche Europa eine andere Geſtalt hatte, als pelasgiſche oder carthagiſche Pflanzvölker ſich zuerſt darin feſtſetzten; man vergißt, daß die frühere Bildung des Menſchengeſchlechts die Waldungen verdrängt, und daß der umſchaffende Geiſt der Nationen der Erde allmälig den Schmuck raubt der uns in dem Norden erfreut, und der mehr als alle Geſchichte die Jugend unſerer ſittlichen Kultur anzeigt. Die große Kataſtrophe, durch welche das Mittelmeer ſich gebildet, indem es, ein anſchwellendes Binnenwaſſer, die Schleuſen der Dardanellen und die Säulen des Herkules durchbrochen, dieſe Kataſtrophe ſcheint die angrenzenden Länder eines großen Theils ihrer Dammerde beraubt zu haben. Was bei den griechiſchen Schriftſtellern von den Samothraciſchen Sagen erwähnt wird, deutet die Neuheit dieſer zerſtörenden Naturveränderung an. §. 6. Auch iſt in allen Ländern, welche das Mittelmeer begrenzt, und welche die Kalkformation des Jura charakteriſirt, ein großer Theil der Erdoberfläche nackter Fels. Das Maleriſche italieniſcher Gegenden beruht vorzüglich auf dieſem lieblichen Kontraſte zwiſchen dem unbelebten öden Geſtein und der üppigen Vegetation, welche inſelförmig darin aufſproßt. Wo dieſes Geſtein, minder zerklüftet, die Waſſer auf der Oberfläche zuſammen hält, wo dieſe mit Erde bedeckt iſt, wie an den reizenden Ufern des Albaner Sees, da hat ſelbſt Italien ſeine Eichenwälder, ſo ſchattig und grün, als der Bewohner des Nordens ſie wünſcht. §. 7. Auch die Wüſten jenſeits des Atlas, und die unermeßlichen Ebenen oder Steppen von Südamerika ſind als bloße Lokalerſcheinungen zu betrachten. Dieſe findet man, in der Regenzeit wenigſtens, mit Gras und niedrigen, faſt krautartigen Mimoſen bedeckt; jene ſind Sandmeere im Innern des alten Continents, große pflanzenleere Räume, mit ewiggrünenden waldigen Ufern umgeben. Nur einzeln ſtehende Fächerpalmen erinnern den Wanderer, daß dieſe Einöden Theile einer belebten Schöpfung ſind. Im trügeriſchen Lichtſpiele, das die ſtrahlende Wärme erregt, ſieht man bald den Fuß dieſer Palmen frei in der Luft ſchweben, bald ihr umgekehrtes Bild in den wogenartigzitternden Luftſchichten wiederholt. Auch weſtlich von der peruaniſchen Andeskette, an den Küſten des ſtillen Meeres haben wir Wochen gebraucht, um ſolche waſſerleere Wüſten zu durchſtreichen. §. 8. Der Urſprung derſelben, dieſe Pflanzenloſigkeit großer Erdſtrecken in Gegenden, wo umher die kraftvollſte Vegetation herrſcht, iſt ein wenig beachtetes geognoſtiſches Phänomen, welches ſich unſtreitig in allen Naturrevolutionen, in Ueberſchwemmungen oder vulkaniſchen Umwandlungen der Erdrinde gründet. Hat eine Gegend einmal ihre Pflanzendecke verloren, iſt der Sand beweglich und quellenleer, hindert die heiße, ſenkrecht aufſteigende Luft den Niederſchlag der Wolken, ſo vergehen Jahrtauſende, ehe von den grünen Ufern aus organiſches Leben in das Innere der Einöde dringt. §. 9. Wer demnach die Natur mit Einem Blicke zu umfaſſen, und von Lokalphänomenen zu abſtrahiren weiß, der ſieht mit Zunahme der belebenden Wärme, von den Polen zum Aequator hin, ſich auch allmälig organiſche Kraft und Lebensfülle vermehren. Aber bei dieſer Vermehrung ſind jedem Erdſtriche beſondere Schönheiten vorbehalten: den Tropen Mannigfaltigkeit und Größe der Pflanzenformen, dem Norden der Anblick der Wieſen, und das periodiſche Wiedererwachen der Natur beim erſten Wehen der Frühlingslüfte. Jede Zone hat außer den ihr eigenen Vorzügen auch ihren eigenthümlichen Charakter. So wie man an einzelnen organiſchen Weſen eine beſtimmte Phyſiognomie erkennt, wie beſchreibende Botanik und Zoologie, im engeren Sinne des Wortes faſt nichts als Zergliederung der Thier- und Pflanzenformen iſt: ſo giebt es auch eine gewiſſe Naturphyſiognomie, welche jedem Himmelsſtriche ausſchließlich zukommt. Alexander von Humboldt.