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Alexander von Humboldt: „Ueber die Verbreitung und Mannigfaltigkeit des organischen Lebens, besonders der Pflanzen“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1806-Fragment_aus_der-08-neu> [abgerufen am 23.04.2024].

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https://humboldt.unibe.ch/text/1806-Fragment_aus_der-08-neu
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Titel Ueber die Verbreitung und Mannigfaltigkeit des organischen Lebens, besonders der Pflanzen
Jahr 1831
Ort Paris; Strasbourg
Nachweis
in: Joseph Willm (Hrsg.), Morceaux choisis de littérature allemande, avec des notes, et de courtes notices sur les auteurs / Auserlesene Stücke aus der deutschen Literatur, mit Anmerkungen und kurzen Notizen über die angeführten Schriftsteller, 2 Bände, Paris/Straßburg: F. G. Levrault 1830–1831, Band 2 (1831), S. 111–120.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Antiqua für Fremdsprachiges; Auszeichnung: Kursivierung; Fußnoten mit Asterisken und Ziffern.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.42
Dateiname: 1806-Fragment_aus_der-08-neu
Statistiken
Seitenanzahl: 10
Zeichenanzahl: 16397

Weitere Fassungen
Fragment aus der am 30sten Jan. 1806 in der öffentlichen Sitzung der Königl. Akademie gehaltenen Vorlesung: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Berlin, 1806, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, von Alexander von Humboldt. Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der königl. preuss. Akademie der Wissenschaften am 30 Januar 1806. 29 S. 8. (Jena, 1806, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Weimar, 1806, Deutsch)
Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen von Alexander von Humboldt. Zwey Bände. Zweyte verbesserte und vermehrte Ausgabe. Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1826. 12. (Stuttgart; Tübingen, 1827, Deutsch)
Die Fülle des Lebens in der Natur (Wien, 1828, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (London, 1830, Deutsch)
Ueber die Verbreitung und den verschiedenen Charakter des organischen Lebens, besonders der Pflanzen (Frankfurt am Main, 1831, Deutsch)
Ueber die Verbreitung und Mannigfaltigkeit des organischen Lebens, besonders der Pflanzen (Paris; Strasbourg, 1831, Deutsch)
О растенiяхъ [O rastenijach] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
О повсемѣстномъ разлитiи жизни [O povseměstnom razlitii žizni] (Sankt Petersburg, 1834, Russisch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Berlin, 1837, Deutsch)
Alexander von Humboldt (London, 1843, Deutsch)
Alexander von Humboldt (Stuttgart, 1843, Deutsch)
Das Leben in der Schöpfung (Darmstadt, 1843, Deutsch)
Das Leben in der Schöpfung (Breda, 1843, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Berlin, 1843, Deutsch)
Alexander von Humboldt (Berlin, 1844, Deutsch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Leipzig, 1843, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (München, 1845, Deutsch)
Beauties of Tropical Vegetation (Bradford, 1849, Englisch)
Beautiful Flowering Trees (Manchester, 1850, Englisch)
Beautiful Flowering Trees (Canterbury, 1850, Englisch)
Universal Diffusion of Life (Boston, Massachusetts, 1850, Englisch)
Vext-Fysiognomik (Helsinki, 1850, Schwedisch)
Beautiful Flowering Trees (Racine, Wisconsin, 1850, Englisch)
Der Pflanzenwuchs in den Tropen (London, 1850, Deutsch)
Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (Stuttgart; Tübingen, 1850, Deutsch)
Beautiful Flowering Trees (Boston, Massachusetts, 1851, Englisch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Frankfurt am Main, 1851, Deutsch)
Histoire de la couche végétale du globe (Paris, 1852, Französisch)
La physionomie des plantes (Liège, 1852, Französisch)
Allgemeines Bild der Flora auf der Erde (Wien, 1853, Deutsch)
Das Leben in der Schöpfung (Leipzig, 1853, Deutsch)
Physiognomik der Pflanzenformen (Berlin, 1853, Deutsch)
Die Physiognomik der Gewächse (Hildburghausen; New York City, New York, 1853, Deutsch)
Physiognomik der Gewächse (Stuttgart, 1854, Deutsch)
Physiognomik der Pflanzenformen (Stuttgart, 1855, Deutsch)
|111|

Ueber die Verbreitung und Mannigfaltigkeitdes organiſchen Lebens, beſonders der Pflan-zen.

Wenn der Menſch mit regſamem Sinne die Naturdurchforſcht, oder in ſeiner Phantaſie die weiten Raͤume derorganiſchen Schoͤpfung mißt, ſo wirkt unter den vielfachenEindruͤcken die er empfaͤngt, keiner ſo tief und maͤchtig,als der, welchen die allverbreitete Fuͤlle des Lebens erzeugt.Ueberall, ſelbſt am beeisten Pol, ertoͤnt die Luft von demGeſange der Voͤgel, wie von dem Geſumme ſchwirrenderInſekten. Nicht die unteren Schichten 1 allein, in welchen dieverdichteten Duͤnſte ſchweben, auch die oberen aͤtheriſch-reinen ſind belebt. Denn ſo oft man den Ruͤcken der perua-niſchen Cordilleren, oder ſuͤdlich vom Leman-See 2, den Gip-fel des Weißen-Berges 3 beſtieg, hat man ſelbſt in dieſenEinoͤden noch Thiere entdeckt. Am Chimborazo, faſt zwei-
1 les couches, les régions inférieures. 2 le lac de Genéve. 3 leMont-Blanc.
|112| mal hoͤher als der Aetna, ſahen wir Schmetterlinge undandere gefluͤgelte Inſekten. Wenn auch, von ſenkrechtenLuftſtroͤmen getrieben, ſie ſich dahin, als Fremdlinge, ver-irrten, wohin unruhige Forſchbegier des Menſchen ſorgſameSchritte leitet; ſo beweiſet ihr Daſeyn doch, daß die bieg-ſamere animaliſche Schoͤpfung ausdauert, wo die vegetabi-liſche laͤngſt ihre Graͤnze erreicht hat. Hoͤher, als der Ke-gelberg von Teneriffa 1, auf den ſchneebedeckten Ruͤcken derPyrenaͤen gethuͤrmt; hoͤher als alle Gipfel der Andeskette;ſchwebte oft uͤber uns der Cundur, der Rieſe unter denGeiern *). Raubſucht und Nachſtellung der zartwolligenVicunna’s 2, welche gemſenartig und heerdenweiſe in den
1 le Pic de Ténériſſe, haut de 3700 mètres. *) Der bekannte Cundur oder Condor (Vultur gryphus) iſt dergrößte fliegende Vogel. Die größten Individuen, welche man in der Andeskette um Quito fand, maßen mit ausgeſpannten Flügeln 3 14, diekleinern 8 Fuß. Der Cundur iſt unter allen lebendigen Geſchöpfenwahrſcheinlich dasjenige, welches ſich willkürlich, denn kleine Inſektenwerden von dem aufſteigenden Luftſtrome noch höher aufwärts getrieben,am weiteſten von der Oberfläche unſers Erdballs entfernt. Die Region,welche man als den gewöhnlichen Aufenthalt des Cundur betrachten kann,fängt in der Höhe des Aetna 4 an. Sie begreift Luftſchichten, die zwiſchen1600 und 3000 Toiſen über dem Meeresſpiegel erhaben ſind. Der Ver-faſſer ſah den Cundur oft in einer abſoluten Höhe 5 von 3639 Toiſen,ja noch höher ſchweben. Es iſt eine merkwürdige phyſiologiſche Erſchei-nung, daß derſelbe Vogel, welcher ſtundenlang in ſo luftdünnen Regio-nen im Kreiſe umherfliegt, ſich bisweilen plötzlich zum Meeresufer herab-ſenkt und in einigen Stunden gleichſam alle Klimate durchfliegt. — DerPic von Teneriffa hat 11,400 Fuß Höhe, und der höchſte Gipfel derPyrenäen, der Pic d’Anethou (welcher 40 Toiſen höher iſt als der Montperdu) 10,722 Fuß (1787 Toiſen).3 d’en-vergure, la longueur des ailes déployées. 4 l’Etna est haut de 10,300pieds. 5 la hauteur absolue, l’élévation au-dessus du niveau de lamer. 2 la vigogne duPérou, qui tient le milieu entre le chameau et la brebis.
|113| beſchneiten Grasebenen ſchwaͤrmen, locken den maͤchtigenVogel in dieſe Region.
Zeigt nun ſchon das unbewaffnete Auge den ganzen Luft-kreis belebt, ſo enthuͤllt noch groͤßere Wunder das bewaff-nete Auge. Raͤderthiere 1, Brachionen, und eine Schaarmikroſkopiſcher Geſchoͤpfe heben die Winde aus den trock-nenden Gewaͤſſern empor. Unbeweglich und in Scheintodverſenkt, ſchweben ſie in den Luͤften, bis der Thau ſie zurnaͤhrenden Erde zuruͤckfuͤhrt, die Huͤlle loͤst, die ihren durch-ſichtigen wirbelnden Koͤrper einſchließt, und (wahrſcheinlichdurch den Lebensſtoff, den alles Waſſer enthaͤlt) den Or-ganen neue Erregbarkeit einhaucht. Neben den entwickelten Geſchoͤpfen traͤgt der Luftkreisauch zahlloſe Keime kuͤnftiger Bildungen, Inſekten-Eier undEier der Pflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zurlangen Herbſtreiſe geſchickt ſind. Selbſt den belebendenStaub, den, bei getrennten Geſchlechtern, die maͤnnlichenBluͤten ausſtreuen, tragen Winde und gefluͤgelte Inſektenuͤber Meer und Land den einſamen weiblichen zu. Wohinder Blick des Naturforſchers dringt, iſt Leben oder Keimzum Leben verbreitet. Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir ge-taucht ſind, und uͤber deſſen Oberflaͤche wir uns nicht zu er-heben vermoͤgen, vielen organiſchen Geſchoͤpfen zur nothwen-digſten Nahrung; ſo beduͤrfen dieſelben dabei doch noch einergroͤbern Speiſe, welche nur der Boden dieſes gasfoͤrmigenOceans darbietet. Dieſer Boden iſt zweifacher Art. Den klei-nern Theil bildet die trockene Erde, unmittelbar von Luft
1 le rotifère et le brachion, animalcules zoophytes, qui viventdans les eaux croupissantes, et qu’on ne peut observer qu’aumoyen d’une loupe.
|114| umfloſſen; den groͤßern Theil bildet das Waſſer, vielleichtvor Jahrtauſenden durch elektriſches Feuer aus luftfoͤrmigenStoffen zuſammengeronnen, und jetzt unaufhoͤrlich in derWerkſtatt der Wolken, wie in den pulſirenden Gefaͤßen derThiere und Pflanzen zerſetzt.
Unentſchieden iſt es, wo groͤßere Lebensfuͤlle verbreitet ſey;ob auf dem Continent, oder in dem unergruͤndeten Meere.In dieſem erſcheinen gallertartige Seegewuͤrme, bald leben-dig, bald abgeſtorben, als leuchtende Sterne *). Ihr Phos-phorlicht wandelt die gruͤnliche Flaͤche des unermeßlichenOceans in ein Feuermeer um. Unausloͤſchlich wird mir derEindruck jener ſtillen Tropen-Naͤchte der Suͤdſee bleiben,wo aus der duftigen Himmelsblaͤue das hohe Sternbild desSchiffes und das geſenkt untergehende Kreuz ihr mildes pla-netartiges Licht ausgoſſen, und wo zugleich in der ſchaͤu-menden Meeresfluth die Delphine ihre leuchtende Furchenzogen. Aber nicht der Ocean allein, auch die Sumpfwaſſer ver-
*) Das Leuchten des Oceans gehört zu den prachtvollen Naturerſchei-nungen, die Bewunderung erregen, wenn man ſie auch Monate langmit jeder Nacht wiederkehren ſieht. Unter allen Zonen phosphorescirtdas Meer; wer aber das Phänomen nicht unter den Wendekreiſen (be-ſonders in der Südſee) geſehen, hat nur eine unvollkommene Vorſtel-lung von der Majeſtät dieſes großen Schauſpiels. Wenn ein Kriegsſchiffbei friſchem Winde die ſchäumende Fluth durchſchneidet, ſo kann manſich, auf einer Seitengallerie ſtehend, an dem Anblick nicht ſättigen,den der nahe Wellenſchlag gewährt. So oft die entblößte Seite desSchiffs ſich umlegt, ſcheinen röthliche Flammen blitzähnlich vom Kielaufwärts zu ſchießen. Der Grund dieſer Erſcheinung liegt wahrſcheinlichin faulenden Fäſerchen abgeſtorbener Mollusken (gallertartiger Meer-gewürme), die in zahlloſer Menge im Waſſer zerſtreut ſind. Bisweilenwird das Leuchten des Meerwaſſers auch durch mehrere leuchtende Mol-lusken, welche bei ihrem Leben nach Willkür ein ſchwaches Phosphor-licht verbreiten, bewirkt.
|115| bergen zahlloſe Wuͤrmer von wunderbarer Geſtalt. UnſermAuge faſt unerkennbar ſind die Cyclidien, die gefranzten Tri-choden 1 und das Heer der Naiden 2, theilbar durch Aeſte,wie die Lemna 3, deren Schatten ſie ſuchen. Von mannich-faltigen Luftgemengen 4 umgeben und mit dem Lichte unbe-kannt, athmen die gefleckte Askaris 5, welche die Haut desRegenwurms, die ſilberglaͤnzende Leukophra, welche dasInnere der Ufer-Naide 6, und ein Pentaſtoma, welches dieweitzellige Lunge der tropiſchen Klapperſchlange bewohnt.So ſind auch die verborgenſten Raͤume der Schoͤpfung mitLeben erfuͤllt. Wir wollen hier beſcheiden bei den Geſchlech-tern der Pflanzen verweilen; denn auf ihrem Daſeyn beruhtdas Daſeyn der thieriſchen Schoͤpfung. Unablaͤßig ſind ſiebemuͤht, den rohen Stoff der Erde organiſch an einanderzu reihen, und vorbereitend durch lebendige Kraft zu miſchen,was nach tauſend Umwandlungen zur regſamen Nervenfaſerveredelt wird. Derſelbe Blick, den wir auf die Verbreitungder Pflanzendecke heften, enthuͤllt uns die Fuͤlle des thieri-ſchen Lebens, das von jener genaͤhrt und erhalten wird.
Ungleich iſt der Teppich gewebt, den die bluͤtenreicheFlora uͤber den nackten Erdkoͤrper ausbreitet; dichter, wodie Sonne hoͤher an dem nie bewoͤlkten Himmel emporſteigt;lockerer gegen die traͤgen Pole hin, wo der wiederkehrendeFroſt bald die entwickelte Knospe toͤdtet, bald die reifendeFrucht erhaſcht. Doch uͤberall darf der Menſch ſich der naͤh-renden Pflanzen erfreuen. Trennt im Meeresboden ein Vul-kan die kochende Fluth, und ſchiebt ploͤtzlich (wie einſt
1 les cyclides et les trichodes, vers des marais. 2 les naïades, versaquatiques; si on les coupe, il s’en forme plusieurs. 3 la lentilledes marais. 4 mélanges d’air. 5 les ascarides, vers des intestins. 6 nais littoralis.
|116| zwiſchen den griechiſchen Inſeln) einen ſchlackigen Fels em-por; oder erheben (um an eine friedlichere Naturerſcheinungzu erinnern) die eintraͤchtigen Lithophyten 1 ihre zelligen Woh-nungen, bis ſie nach Jahrtauſenden, uͤber den Waſſerſpie-gel hervorragend, abſterben und ein flaches Corallen-Eilandbilden: ſo ſind die organiſchen Kraͤfte ſogleich bereit, dentodten Fels zu beleben. Was den Samen ſo ploͤtzlich her-beifuͤhrt: ob wandernde Voͤgel, oder Winde, oder die Wo-gen des Meeres, iſt bei der großen Entfernung der Kuͤſtenſchwer zu entſcheiden. Aber auf dem nackten Steine, ſobaldihn zuerſt die Luft beruͤhrt, bildet ſich in den nordiſchenLaͤndern ein Gewebe ſammtartiger Faſern, die dem unbe-waffneten Auge als farbige Flecken erſcheinen. Einige ſinddurch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt be-graͤnzt; andere ſind in Furchen durchſchnitten und in Faͤchergetheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt ſich ihre lichteFarbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das blaͤu-liche Grau der Leprarien 2 verwandelt ſich nach und nach inein ſtaubartiges Schwarz. Die Graͤnzen der alternden Deckefließen in einander, und auf dem dunkeln Grunde bildenſich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiße. Solagert ſich ſchichtenweiſe ein organiſches Gewebe auf dasandere; und wie das ſich anſiedelnde Menſchengeſchlechtbeſtimmte Stufen der ſittlichen Cultur durchlaufen muß, ſoiſt die allmaͤlige Verbreitung der Pflanzen an beſtimmtephyſiſche Geſetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbaͤume ihreGipfel luftig erheben, da uͤberzogen einſt zarte Flechten daserdenloſe Geſtein. Laubmooſe, Graͤſer, krautartige Gewaͤchſeund Straͤucher fuͤllen die Kluft der langen, aber ungemeſ-
1 les coraux. 2 nom de cette espèce de mousse qui se forme surles rochers: plantes lèpreuses.
|117| ſenen Zwiſchenzeit aus. Was im Norden Flechten undMooſe, das bewirken in den Tropen Portulaca, Gomphre-nen, und andere niedrige Uferpflanzen. Die Geſchichte derPflanzendecke, und ihre allmaͤlige Ausbreitung uͤber dieoͤde Erdrinde, hat ihre Epochen, wie die Geſchichte desſpaͤtern Menſchengeſchlechts.
Iſt aber auch Fuͤlle des Lebens uͤberall verbreitet; iſt derOrganismus auch unablaͤßig bemuͤhet, die durch den Todentfeſſelten Elemente zu neuen Geſtalten zu verbinden: ſoiſt dieſe Lebensfuͤlle und ihre Erneuerung doch nach Verſchie-denheit der Himmelsſtriche verſchieden. Periodiſch erſtarrtdie Natur in der kalten Zone; denn Fluͤſſigkeit iſt Bedingnißzum Leben. Thiere und Pflanzen (Laubmooſe und andereKryptogamen abgerechnet) liegen hier viele Monate hindurchim Winterſchlaf vergraben. In einem großen Theile derErde haben daher nur ſolche organiſche Weſen ſich entwickelnkoͤnnen, welche einer betraͤchtlichen Entziehung von Waͤrme-ſtoff widerſtehen, oder einer langen Unterbrechung derLebensfunktionen faͤhig ſind. Je naͤher dagegen den Tropen,deſto mehr nimmt Mannichfaltigkeit der Bildungen, An-muth der Form und des Farbengemiſches, ewige Jugendund Kraft des organiſchen Lebens zu...... Wer die Natur mit Einem Blicke zu umfaſſen, undvon Localphaͤnomenen zu abſtrahiren 1 weiß, der ſieht,wie mit Zunahme der belebenden Waͤrme, von den Polenzum Aequator hin, ſich auch allmaͤlig organiſche Kraft undLebensfuͤlle vermehren. Aber bei dieſer Vermehrung ſinddoch jedem Erdſtriche beſondere Schoͤnheiten vorbehalten:den Tropen Mannichfaltigkeit und Groͤße der Pflanzenfor-
1 faire abstraction de certains phénomènes accidentels, attachésaux localités.
|118| men; dem Norden der Anblick der Wieſen, und das perio-diſche Wiedererwachen der Natur beim erſten Wehen derFruͤhlingsluͤfte. Jede Zone hat außer den ihr eigenen Vor-zuͤgen auch ihren eigenthuͤmlichen Charakter. So wie manan einzelnen organiſchen Weſen eine beſtimmte Phyſiogno-mie erkennt, ſo giebt es auch eine gewiſſe Natur-Phyſiogno-mie, welche jedem Himmelsſtriche ausſchließlich zukommt...
Wenn aber auch der Charakter verſchiedener Weltgegen-den von allen aͤußeren Erſcheinungen zugleich abhaͤngt;wenn Umriß der Gebirge, Phyſiognomie der Pflanzen undThiere, wenn Himmelsblaͤue, Wolkengeſtalt und Durch-ſichtigkeit des Luftkreiſes den Totaleindruck bewirken; ſoiſt doch nicht zu laͤugnen, daß das Hauptbeſtimmende 1 die-ſes Eindrucks die Pflanzendecke iſt. Dem thieriſchen Orga-nismus fehlt es an Maſſe, und die Beweglichkeit der Indi-viduen entzieht ſie oft unſern Blicken. Die Pflanzenſchoͤpfungdagegen wirkt durch ſtetige Groͤße auf unſere Einbildungs-kraft. Ihre Maſſe bezeichnet ihr Alter, und in den Gewaͤch-ſen allein iſt Alter und Ausdruck ſtets ſich erneuernder Kraftmit einander gepaart. Der rieſenfoͤrmige Drachenbaum,den ich auf den kanariſchen Inſeln ſah, und der 16 Schuhim Durchmeſſer hat, traͤgt noch immerdar (gleichſam inewiger Jugend) Bluͤte und Frucht. Als franzoͤſiſche Aben-theurer, die Bethencourts, im Anfang des fuͤnfzehntenJahrhunderts, die gluͤcklichen Inſeln eroberten, war derDrachenbaum von Orotava 2 (den Eingebornen heilig wie derOelbaum in der Burg zu Athen, oder die Ulme zu Epheſus)
1 ce qui détermine principalement. 2 le dragonier d’Orotava dansl’île de Ténériffe, haut de 60 pieds, a, près des racines, une circon-férence de 45 pieds; à une hauteur de dix pieds le tronc a douzepieds de diamètre.
|119| von eben der koloſſalen Staͤrke als jetzt. In den Tropen iſtein Wald von Hymenaͤen und Caͤſalpinien 1 vielleicht dasDenkmal von einem Jahrtauſend.
Umfaßt man mit Einem Blick die verſchiedenen Pflanzen-arten, welche bereits auf dem Erdboden entdeckt ſind, undderen Zahl nach Decandolles Schaͤtzung, uͤber 56,000 be-traͤgt; ſo erkennt man in dieſer wundervollen Menge wenigeHauptformen, auf welche ſich alle andere zuruͤckfuͤhren laſ-ſen, und von deren individueller Schoͤnheit, Vertheilungund Gruppirung die Phyſiognomie der Vegetation einesLandes abhaͤngt. Die Zahl dieſer Formen wird gewiß anſehnlich vermehrtwerden, wenn man einſt in das Innere der Continente tiefereindringt, und neue Pflanzengattungen entdeckt. Im ſuͤdoͤſt-lichen Aſien, im Innern vonAfrikaund Neuholland, inSuͤd-Amerika, vom Amazonenſtrome bis zu der ProvinzChiquitos hin, iſt uns die Vegetation noch voͤllig unbekannt.Wie, wenn man einmal ein Land entdeckte, in dem holzigeSchwaͤmme, z. B. Clavarien, oder Mooſe, hohe Baͤumebildeten? Neckera dendroïdes, ein deutſches Laubmoos,iſt in der That baumartig, und die tropiſchen Farrenkraͤuter,oft hoͤher als unſere Linden und Erlen, ſind fuͤr den Euro-paͤer noch jetzt ein eben ſo uͤberraſchender Anblick, als demerſten Entdecker ein Wald hoher Laubmooſe ſeyn wuͤrde!Groͤße und Entwicklung der Organe haͤngt von der Beguͤn-ſtigung klimatiſcher Verhaͤltniſſe ab. Die kleine, aber ſchlankeForm unſerer Eidechſe dehnt ſich im Suͤden zu dem koloſ-ſalen und gepanzerten Koͤrper furchtbarer Krokodile aus.In den ungeheuern Katzen vonAfrikaund Amerika, im Tie-ger, im Loͤwen und Jaguar, iſt die Geſtalt eines unſerer
1 qui fournissent le bois de Fernambuc, ou de Brésil.
|120| kleinſten Hausthiere nach einem groͤßern Maßſtabe wieder-holt. Dringen wir gar in das Innere der Erde, durchwuͤh-len wir die Grabſtaͤtte der Pflanzen und Thiere, ſo verkuͤn-digen uns die Verſteinerungen nicht bloß eine Vertheilungder Formen, die mit den jetzigen Klimaten im Widerſpruchſteht; nein, ſie zeigen uns auch koloſſale Geſtalten, welchemit den kleinlichen, die uns gegenwaͤrtig umgeben, nichtminder contraſtiren, als die einfache Heldennatur der Grie-chen gegen die Charaktergroͤße neuerer Zeit. Hat die Tem-peratur des Erdkoͤrpers betraͤchtliche, vielleicht periodiſchwiederkehrende Veraͤnderungen erlitten, iſt das Verhaͤltnißzwiſchen Meer und Land, ja ſelbſt die Hoͤhe des Luftoceansund ſein Druck nicht immer derſelbe geweſen; ſo muß diePhyſiognomie der Natur, ſo muͤſſen Groͤße und Geſtaltdes Organismus, ebenfalls ſchon manchem Wechſel unter-worfen geweſen ſeyn.

Al. v. Humboldt.