Fragment aus der am 30ſten Jan. 1806 in der oͤffentlichen Sitzung der Koͤnigl. Akademie gehaltenen Vorleſung: Ideen zu einer Phyſiognomik der Gewaͤchſe, von Alexander v. Humboldt. Bem. des Red. Die Hoffnung, auf die Rede des großen Geſchichtforſchers, welche die letzten Blaͤtter enthielten, auch die ganze Vorleſung des genialiſchen Naturforſchers folgen zu laſſen, iſt mir durch die Nachricht vereitelt worden, daß ſie in kurzem bei Cotta vermehrt und mit Kupfern verſehn, als ein ausfuͤhrliches Werk erſcheinen werde. Ich muß alſo die Leſer bitten, Sich mit dieſem Torſo zu begnuͤgen, aus dem Sie zwar keine neue Entdeckungen kennen lernen, wohl aber ſehen werden, daß unſer Deutſcher Buͤffon dem Franzoͤſiſchen auch in echter Beredſamkeit gluͤcklich nacheifert. Wenn der Menſch mit regſamem Sinne die Natur durchforſcht , oder in ſeiner Phantaſie die weiten Raͤume der organiſchen Schoͤpfung mißt, ſo wirkt unter den vielfachen Eindruͤcken, die er empfaͤngt, keiner ſo tief und maͤchtig als der, welchen die allverbreitete Fuͤlle des Lebens erzeugt. Ueberall, ſelbſt am beeiſten Pol, ertoͤnt die Luft von dem Geſange der Voͤgel, wie von dem Sumſen ſchwirrender Inſekten. Nicht die unteren Schichten allein, in welchen die verdichteten Duͤnſte ſchweben, auch die oberen aͤtheriſch-reinen, ſind belebt. Denn ſo oft man den Ruͤcken der Peruaniſchen Cordilleren, oder, ſuͤdlich vom Leman-See, den Gipfel des Weißen-Berges beſtieg, hat man ſelbſt in dieſen Einoͤden noch Thiere entdeckt. Am Chimborazo, ſechsmal hoͤher als der Brocken, ſahen wir Schmetterlinge und andere gefluͤgelte Inſekten. Wenn auch, von ſenkrechten Luftſtroͤmen getrieben, ſie ſich dahin, als Fremdlinge, verirrten, wohin unruhige Forſchbegier des Menſchen ſorgſame Schritte leitet; ſo beweiſet ihr Daſeyn doch, daß die biegſamere animaliſche Schoͤpfung ausdauert, wo die vegetabiliſche laͤngſt ihre Grenze erreicht hat. Hoͤher, als der Kegelberg von Teneriffa auf den Aetna gethuͤrmt; hoͤher, als alle Gipfel der Andeskette, ſchwebte oft uͤber uns der Kundur, der Rieſe unter den Geiern. Raubſucht und Nachſtellung der zartwolligen Vikunnas, welche gemſenartig und heerdenweiſe in den beſchneiten Grasebenen ſchwaͤrmen, locken den maͤchtigen Vogel in dieſe Region. Zeigt nun ſchon das unbewaffnete Auge den ganzen Luftkreis belebt, ſo enthuͤllt noch groͤßere Wunder das bewaffnete Auge. Raͤderthiere, Brachionen, und eine Schaar mikroskopiſcher Geſchoͤpfe heben die Winde aus den trocknenden Gewaͤſſern empor. Unbeweglich und in Scheintod verſenkt, ſchweben ſie vielleicht Jahre lang in den Luͤften, bis der Thau ſie zur Erde zuruͤckfuͤhrt, die Huͤlle loͤſt, die ihren durchſichtigen wirbelndeln Koͤrper einſchließt, und (wahrſcheinlich durch den Lebensſtoff, den alles Waſſer enthaͤlt,) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht. Neben den entwickelten Geſchoͤpfen traͤgt der Luftkreis auch zahlloſe Keime kuͤnftiger Bildungen, Inſekten-Eier und Eier der Pflanzen, die durch Haar- und Feder-Kronen zur langen Herbſtreiſe geſchickt ſind. Selbſt den belebenden Staub, den, bei getrennten Geſchlechtern, die maͤnnlichen Bluͤthen ausſtreuen, tragen Winde und gefluͤgelte Inſekten uͤber Meer und Land den einſamen weiblichen zu. Wohin der Blick des Naturforſchers dringt, iſt Leben, oder Keim zum Leben, verbreitet. Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir getaucht ſind, und uͤber deſſen Oberflaͤche wir uns nicht zu erheben vermoͤgen, vielen organiſchen Geſchoͤpfen zur nothwendigſten Nahrung; ſo beduͤrfen dieſelben dabei doch noch einer groͤberen Speiſe, welche nur der Boden dieſes gasfoͤrmigen Ozeans darbietet. Dieſer Boden iſt zwiefacher Art. Den kleineren Theil bildet die trockene Erde, unmittelbar von Luft umfloſſen; den groͤßeren Theil bildet das Waſſer, vielleicht einſt vor Jahrtauſenden durch electriſches Feuer aus luftfoͤrmigen Stoffen zuſammengeronnen, und jetzt unaufhoͤrlich in der Werkſtatt der Wolken, wie in den pulſirenden Gefaͤßen der Thiere und Pflanzen, zerſetzt. Unentſchieden iſt es, wo groͤßere Lebensfuͤlle verbreitet ſey; ob auf dem Continent, oder in dem unergruͤndeten Meere. In dieſem erſcheinen gallertartige Seegewuͤrme, bald lebendig, bald abgeſtorben, als leuchtende Sterne. Ihr Phosphorlicht wandelt die gruͤnliche Flaͤche des unermeßlichen Ozeans in ein Feuermeer um. Unausloͤſchlich wird mir der Eindruck jener ſtillen Tropen-Naͤchte der Suͤdſee bleiben, wo aus der duftigen Himmelsblaͤue das hohe Sternbild des Schiffes und das geſenkt-untergehende Kreuz ihr mildes planetariſches Licht ausgoſſen, und wo zugleich in der ſchaͤumenden Meeresfluth die Delphine ihre leuchtenden Furchen zogen. Aber nicht der Ozean allein, auch die Sumpfwaſſer verbergen zahlloſe Gewuͤrme von wunderbarer Geſtalt. Unſerem Auge faſt unerkennbar ſind die Cyclidien, die gefranzten Trichoden und das Heer der Naiden, theilbar durch Aeſte, wie die Lemna, deren Schatten ſie ſuchen. Von mannigfaltigen Luftgemengen umgeben, und mit dem Lichte unbekannt, athmen: die gefleckte Askaris, welche die Haut des Regenwurms, die ſilberglaͤnzende Leukophra, welche das Innere der Ufer-Naide, und der Echynorynchus, welcher die weitzellige Lunge der tropiſchen Klapperſchlange bewohnt. So ſind auch die verborgenſten Raͤume der Schoͤpfung mit Leben erfuͤllt. Wir wollen hier beſcheiden bei den Geſchlechtern der Pflanzen verweilen; denn auf ihrem Daſeyn beruht das Daſeyn der thieriſchen Schoͤpfung. Unablaͤßig ſind ſie bemuͤht, den rohen Stoff der Erde organiſch an einander zu reihen, und vorbereitend, durch lebendige Kraft, zu miſchen, was nach tauſend Umwandlungen zur regſamen Nervenfaſer veredelt wird. Derſelbe Blick, den wir auf die Verbreitung der Pflanzendecke heften, enthuͤllt uns die Fuͤlle des thieriſchen Lebens, das von jener genaͤhrt und erhalten wird. Ungleich iſt der Teppich gewebt, den die bluͤthenreiche Flora uͤber den nackten Erdkoͤrper ausbreitet; dichter, wo die Sonne hoͤher an dem nie bewoͤlkten Himmel emporſteigt; lockerer gegen die traͤgen Pole hin, wo der wiederkehrende Froſt bald die entwickelte Knoſpe toͤdtet, bald die reifende Frucht erhaſcht. Doch uͤberall darf der Menſch ſich der naͤhrenden Pflanzen erfreuen. Trennt im Meeresboden ein Vulkan die kochende Fluth, und ſchiebt ploͤtzlich (wie einſt zwiſchen den Griechiſchen Inſeln) einen ſchlackigen Fels empor; oder erheben (um an eine friedlichere Naturerſcheinung zu erinnern) die eintraͤchtigen Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis ſie nach Jahrtauſenden uͤber dem Waſſerſpiegel hervorragend, abſterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden: ſo ſind die organiſchen Kraͤfte ſogleich bereit, den todten Fels zu beleben. Was den Saamen ſo ploͤtzlich herbeifuͤhrt: ob wandernde Voͤgel, oder Winde, oder die Wogen des Meeres; iſt bei der großen Entfernung der Kuͤſten ſchwer zu entſcheiden. Aber auf dem nackten Steine, ſo bald ihn zuerſt die Luft beruͤhrt, bildet ſich in den nordiſchen Laͤndern ein Gewebe ſammtartiger Faſern, die dem unbewaffneten Auge als farbige Flecken erſcheinen. Einige ſind durch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt begraͤnzt; andere ſind in Furchen durchſchnitten und in Faͤcher getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt ſich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das blaͤuliche Grau der Leprarien verwandelt ſich nach und nach in ein ſtaubartiges Schwarz. Die Graͤnzen der alternden Decke fließen in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden ſich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiſſe. So lagert ſich ſchichtenweiſe ein organiſches Gewebe auf das andere; und wie das ſich anſiedelnde Menſchengeſchlecht beſtimmte Stufen der ſittlichen Kultur durchlaufen muß, ſo iſt die allmaͤlige Verbreitung der Pflanzen an beſtimmte phyſiſche Geſetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbaͤume ihre Gipfel luftig erheben, da uͤberzogen einſt zarte Flechten das erdenloſe Geſtein. Laubmooſe, Graͤſer, krautartige Gewaͤchſe und Straͤucher, fuͤllen die Kluft der langen aber ungemeſſenen Zwiſchenzeit aus. Was im Norden Flechten und Mooſe, das bewirken in den Tropen Portulacca, Gomphernen und andere niedrige Uferpflanzen. Die Geſchichte der Pflanzendecke, und ihre allmaͤlige Ausbreitung uͤber die oͤde Erdrinde, hat ihre Epochen, wie die Geſchichte des ſpaͤtern Menſchengeſchlechts. —