Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander von Humboldt, aus Cumana in Suͤdamerika vom 17ten Oktbr. 1800, an ſeinen Bruder, Herrn Wilhelm von Humboldt in Paris. Ueberſetzt aus dem Publiciſte, Tridi 3 Pluviose An IX. Da gewiß jeder wohldenkende Deutſche an dem Schickſale dieſes vortrefflichen jungen Mannes, der ſchon ſo viel fuͤr die Wiſſenſchaften gethan hat, und wenn er von ſeiner gefaͤhrlichen Reiſe zuruͤckkommt, gewiß noch weit mehr thun wird, Antheil nimmt: ſo werden die Leſer der A. D. Bibl. hoffentlich die Ueberſetzung dieſes intereſſanten Briefes hier gern leſen. Ich kann dir nicht genug wiederholen, wie ſehr gluͤcklich ich mich befinde in dieſem Theile der Welt, in welchem ich mich ſchon ſo an das Klima gewoͤhnt habe, (acclimate) daß es mir vorkommt, als wenn ich gar nicht in Europa gewohnt haͤtte. Es giebt vielleicht kein Land in der ganzen Welt, wo man angenehmer und ruhiger leben koͤnne, als in den ſpaniſchen Kolonien, die ich ſeit 15 Monaten durchreiſe. Das Klima iſt ſehr geſund; die Hitze faͤngt erſt des Morgens gegen 9 Uhr an ſtark zu werden, und dauert nur bis um 7 Uhr des Abends. Die Naͤchte und die Morgen ſind viel friſcher als in Europa. Die Natur iſt reich, mannichfaltig, groß, und uͤber allen Ausdruck majeſtaͤtiſch. Die Einwohner ſind ſanft, gut und geſpraͤchig, ſorglos und unwiſſend zwar; aber einfach und ohne Anſpruͤche. Keine Lage koͤnnte zum Studiren und zum Unterſuchen vortheilhafter ſeyn, als diejenige, in der ich mich wirklich befinde. Die Zerſtreuungen, welche in kultivirten Laͤndern aus dem geſellſchaftlichen Umgange entſtehen, ziehen mich hier von nichts ab; dagegen bietet mir die Natur unaufhoͤrlich neue und intereſſante Gegenſtaͤnde dar. Das einzige, was man in dieſer Einſamkeit bedauern koͤnnte, iſt, daß man mit den Fortſchritten der Aufklaͤrung und Wiſſenſchaften in Europa unbekannt bleibt, und der Vortheile beraubt iſt, welche aus der Mittheilung der Ideen entſpringen. Allein, waͤre dieß auch ein Bewegungsgrund, nicht zu wuͤnſchen, ſein ganzes Leben hier zuzubringen: ſo kann man doch einige Jahre auf die allerangenehmſte Art hier verleben. Das Studium der verſchiedenen Menſchen-Raçen, die unter einander vermiſcht ſind, der Indianer, und beſonders der Wilden, iſt allein hinlaͤnglich, den Beobachter zu beſchaͤfftigen. Unter den Bewohnern dieſes Landes, die aus Europa herſtammen, mag ich mich vorzuͤglich gern mit den Koloniſten unterhalten, die auf dem Lande wohnen. Bey dieſen hat ſich ganz die Einfalt der ſpaniſchen Sitten aus dem funfzehnten Jahrhunderte erhalten; und man findet unter ihnen oft Zuͤge von Menſchlichkeit, und Grundſaͤtze einer wahren Philoſophie, die man unter den Nationen, die wir kultivirt nennen, zuweilen vergebens ſucht. Aus dieſen Urſachen wird es mir ſchwer werden, dieſe Gegend zu verlaſſen, und die reichern mehr bevoͤlkerten Kolonien zu bereiſen. Freylich findet man daſelbſt mehr Huͤlfsmittel ſich zu unterrichten; allein man ſtoͤßt oͤfters auf Menſchen, welche mit ſchoͤnen philoſophiſchen Redensarten im Munde, doch die erſten Grundſaͤtze der Philoſophie durch ihre Handlungen verleugnen, mit dem Raynal in der Hand, ihre Sklaven mißhandeln, und mit Enthuſiasmus von der wichtigen Angelegenheit der Freyheit redend, die Kinder ihrer Negern einige Monate nach der Geburt verkaufen. Welche Wuͤſte wuͤrde nicht einem Umgange mit ſolchen Philoſophen vorzuziehen ſeyn! Ich bin Landwaͤrts eingedrungen, von den Kuͤſten Porto-Cabello und dem großen See von Valencia durch die Lianos, und uͤber den Fluß Apureo bis an den Urſprung des Orinoko und den Fluß Niu, unter dem Aequator; ich habe das weitlaͤuftige Land zwiſchen dem Orinoko und dem Amazonenfluſſe, Popayan und Guyana, durchſtreiſt; ein Land, in welches die Europaͤer ſeit 1766 nicht wieder gekommen ſind, und wo nur jenſeit der Waſſerfaͤlle ohngefaͤhr 1800 Weiße in einer Art von Doͤrfern beyſammen wohnen. Die Waſſerfaͤlle habe ich zweymal geſehen. Von St. Carl bin ich auf der Rivière noire nach Guyana zuruͤck gekommen. Durch die Schnelle des Stroms legten wir in 25 Tagen, die Ruhetage ungerechnet, einen Weg von 500 franzoͤſiſchen Meilen zuruͤck. Ich habe von mehr als 50 Orten die Laͤnge und Breite beſtimmt, viele Ein- und Austritte der Planeten beobachtet, und werde von dieſem ungeheuern Lande, das von mehr als 200 indianiſchen Voͤlkerſchaften bewohnt wird, wovon die meiſten noch keinen weißen Menſchen geſehen, und ganz verſchiedene Sprachen und Bildungen haben, eine genaue Charte herausgeben. Wenn, wie faſt nicht zu zweifeln iſt, unter dem franzoͤſiſchen Namen Noire der Negro gemeint iſt: ſo iſt nach den Charten von Mannert und d’Anville nicht abzuſehen, wie Herr v. H. auf dieſem Fluß nach Guyana hat kommen koͤnnen. Auch iſt auf dieſen Charten der Fluß Niu unter dem Aequator nicht zu finden. A. d. U. Alle Beſchwerlichkeiten dieſer muͤhevollen Reiſe habe ich gluͤcklich uͤberſtanden. Vier Monate ſind wir vom Regen, von fuͤrchterlichen Mosquiten und Ameiſen, und vorzuͤglich vom Hunger grauſam geplagt worden. Wir haben beſtaͤndig in Waͤldern geſchlafen; Bananen, Manioc, Waſſer, und zuweilen etwas Reiß war unſere ganze Nahrung. Mein Freund Bonpland (ein Naturkundiger aus Rochelle) iſt von den Folgen unſerer Streiferey viel mehr angegriffen worden, als ich. Er bekam nach unſerer Ankunft in Guyana, Erbrechen und ein Fieber, das mich fuͤr ihn fuͤrchten ließ. Wahrſcheinlich war dieß die uͤble Wirkung der Nahrung, an die wir ſeit langer Zeit nicht gewohnt waren. Da ich ſahe, daß er in der Stadt nicht wieder geſund werden wollte, brachte ich ihn auf das Landhaus meines Freundes, des D. Felix Farreras, 4 Meilen von dem Orinoko, in ein etwas hoͤher liegendes und ziemlich friſches Thal. In dieſem tropiſchen Klima giebt es kein geſchwinderes Geneſungsmittel als die Veraͤnderung der Luft; und ſo ward auch in wenig Tagen die Geſundheit meines Freundes wieder hergeſtellt. Ich kann dir meine Unruhe nicht beſchreiben, in der ich waͤhrend ſeiner Krankheit war; niemals wuͤrde ich einen ſo treuen, thaͤtigen und muthigen Freund wieder gefunden haben. Auf unſerer Reiſe, wo wir unter den Indianern ſowohl, als in den mit Krokodillen, Schlangen und Tigern angefuͤllten Wuͤſten, mit Gefahren umringt waren, hat er erſtaunliche Proben von Muth und Reſignation gezeigt. Nie werde ich ſeine großmuͤthige Anhaͤnglichkeit an mich vergeſſen, wovon er mir bey einem Sturme, der uns am 6ten April 1800. mitten auf dem Orinoko uͤberfiel, die groͤßten Beweiſe gab. Unſere Pirogue war ſchon zwey Drittel mit Waſſer angefuͤllt; und die Indianer, die bey uns waren, fiengen ſchon an, ſich in das Waſſer zu werfen, um das Ufer durch Schwimmen zu erreichen. Mein großmuͤthiger Freund bat mich, ihrem Beyſpiele zu folgen, und erbot ſich, mich eben ſo zu retten. Das Schickſal wollte nicht, daß wir in dieſer Wuͤſte umkommen ſollten, wo 10 Meilen in Umkreiſe kein Menſch weder unſern Untergang, noch die geringſte Spur davon wuͤrde entdeckt haben. Unſere Lage war in Wahrheit ſchrecklich; das Ufer war uͤber eine halbe Meile von uns entfernt, und eine Menge Krokodille ließen ſich mit halbem Koͤrper uͤber dem Waſſer ſehen. Selbſt wenn wir der Wuth der Wellen und der Gefraͤßigkeit der Krokodille entgangen, und an das Land gekommen waͤren, wuͤrden wir daſelbſt vom Hunger oder von Tigern verzehrt worden ſeyn; denn die Waͤlder ſind an dieſen Ufern ſo dick, ſo mit Lianen durchſchlungen, daß es ſchlechterdings unmoͤglich iſt, darin fortzukommen. Der robuſteſte Menſch wuͤrde mit dem Beil in der Hand, in 20 Tagen kaum eine franzoͤſiſche Meile zuruͤcklegen. Der Fluß ſelbſt iſt ſo wenig befahren, daß kaum in zwey Monaten ein indianiſches Canot an dieſen Ort kommt. In dieſem allergefaͤhrlichſten und bedenklichſten Augenblicke, ſchwellte ein Windſtoß das Segel unſers Schiffchens, und rettete uns auf eine unbegreifliche Weiſe. Wir verloren nur einige Buͤcher und Lebensmittel. Da die Indianer wagten ans Land zu ſchwimmen, war es viel Gluͤck, daß ſie den Krokodillen oder Alligatorn entgiengen. Note des Ueberſetzers. Wie gluͤcklich fuͤhlten wir uns, als wir nun des Abends, nachdem wir an das Land gekommen und ausgeſtiegen waren, mit einander auf dem Sande ſaßen, und unſre Abendmahlzeit hielten, daß keiner von unſerer Geſellſchaft fehlte. Die Nacht war dunkel, und der Mond kam nur augenblicklich durch die vom Winde gejagten Wolken zum Vorſchein. Der Moͤnch, der bey uns war, richtete ſich mit ſeinem Gebete an den h. Franciscus und an die h. Jungfrau. Die andern alle waren in tiefen Gedanken, geruͤhrt, und mit der Zukunft beſchaͤfftiget. Wir waren von den großen Waſſerfaͤllen, die wir in zwey Tagen paſſiren ſollten, noch gegen Norden, und hatten noch mehr als 700 Meilen mit unſerer Pirogue zu machen, welche, wie uns die Erfahrung gelehrt hatte, gar leicht umſchlagen konnte. Dieſe Unruhe dauerte indeß nur eine Nacht. Der darauf folgende Tag war ſehr ſchoͤn; und die Ruhe und Heiterkeit, welche ſich uͤber die ganze Natur verbreitete, kehrte auch in unſre Seelen zuruͤck. Wir begegneten des Vormittags einer Familie Caraiben, die von der Muͤndung des Orinoko kam, um Schildkroͤten-Eyer zu ſuchen, und dieſe ſchreckliche Reiſe von 200 Meilen mehr zum Vergnuͤgen und aus Liebe zur Jagd, als aus Nothwendigkeit unternommen hatte. Dieſe Geſellſchaft ließ uns vollends alle unſere Widerwaͤrtigkeiten vergeſſen. Nach einem monatlichen Aufenthalte in Guyana, nahmen wir abermals den Weg durch die Lianos, um nach Barcelona oder Cumanagota zu kommen. Wir hatten dieſes Land ſchon im Monate Januar durchreiſet. Damals hatten wir durch den Staub und an Waſſermangel ſehr viel gelitten, und mußten oft einen Umweg von 3 bis 4 Meilen machen, um etwas faules Waſſer zu finden. Dieſes mal war die Regenzeit; und nur mit Muͤhe konnten wir in den uͤberſchwemmten Ebenen vorwaͤrts kommen. Dieſes Land gleicht in dieſer Jahreszeit Nieder-Aegypten.