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Alexander von Humboldt: „Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander von Humboldt, aus Cumana in Südamerika vom 17ten Oktbr. 1800, an seinen Bruder, Herrn Wilhelm von Humboldt in Paris. Uebersetzt aus dem Publiciste, Tridi 3 Pluviose An IX“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1801-Extrait_d_une_lettre_ecrite-2> [abgerufen am 28.03.2024].

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Titel Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander von Humboldt, aus Cumana in Südamerika vom 17ten Oktbr. 1800, an seinen Bruder, Herrn Wilhelm von Humboldt in Paris. Uebersetzt aus dem Publiciste, Tridi 3 Pluviose An IX
Jahr 1801
Ort Berlin; Stettin
Nachweis
in: Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 58:1:1 (1801), S. 60–64.
Postumer Nachdruck
Briefe Alexander’s von Humboldt an seinen Bruder Wilhelm, hrsg. von der Familie von Humboldt in Ottmachau, Stuttgart 1880, S. 14–20.

Lettres américaines d’Alexandre de Humboldt (1798–1807), précédées d’une Notice de J.–C. Delamétherie et suivies d’un choix de documents en partie inédits, publiés avec une introduction et des notes par le E.T. Hamy, Paris [1905], S. 86–90.

Alejandro de Humboldt. Cartas americanas. Compilación, prólogo, notas y cronología Charles Minguet. Traducción Marta Traba, Caracas 1980, S. 58–61 [span. Übersetzung].

Alexander von Humboldt, Briefe aus Amerika 1799–1804, herausgegeben von Ulrike Moheit, Berlin: Akademie 1993, S. 105–108.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Antiqua für Fremdsprachiges; Fußnoten mit Asterisken.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.11
Dateiname: 1801-Extrait_d_une_lettre_ecrite-2
Statistiken
Seitenanzahl: 5
Zeichenanzahl: 9946
Bilddigitalisate

Weitere Fassungen
Extrait d’une lettre écrite de l’Amérique méridionale par M. de Humboldt, naturaliste prussien, de l’académie royale de Berlin (Paris, 1801, Französisch)
Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander von Humboldt, aus Cumana in Südamerika vom 17ten Oktbr. 1800, an seinen Bruder, Herrn Wilhelm von Humboldt in Paris. Uebersetzt aus dem Publiciste, Tridi 3 Pluviose An IX (Berlin; Stettin, 1801, Deutsch)
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Auszug eines Schreibens des Herrn Alexander vonHumboldt, *) aus Cumana in Suͤdamerika vom17ten Oktbr. 1800, an ſeinen Bruder, Herrn Wil-helm von Humboldt in Paris. Ueberſetzt aus dem Publiciſte, Tridi 3 Pluviose An IX.

Ich kann dir nicht genug wiederholen, wie ſehr gluͤcklichich mich befinde in dieſem Theile der Welt, in welchem ichmich ſchon ſo an das Klima gewoͤhnt habe, (acclimate) daßes mir vorkommt, als wenn ich gar nicht in Europa gewohnthaͤtte. Es giebt vielleicht kein Land in der ganzen Welt, woman angenehmer und ruhiger leben koͤnne, als in den ſpani-
*) Da gewiß jeder wohldenkende Deutſche an dem Schickſaledieſes vortrefflichen jungen Mannes, der ſchon ſo viel fuͤrdie Wiſſenſchaften gethan hat, und wenn er von ſeiner ge-faͤhrlichen Reiſe zuruͤckkommt, gewiß noch weit mehr thunwird, Antheil nimmt: ſo werden die Leſer der A. D. Bibl.hoffentlich die Ueberſetzung dieſes intereſſanten Briefes hiergern leſen.
|61| ſchen Kolonien, die ich ſeit 15 Monaten durchreiſe. DasKlima iſt ſehr geſund; die Hitze faͤngt erſt des Morgens ge-gen 9 Uhr an ſtark zu werden, und dauert nur bis um 7 Uhrdes Abends. Die Naͤchte und die Morgen ſind viel friſcherals in Europa. Die Natur iſt reich, mannichfaltig, groß,und uͤber allen Ausdruck majeſtaͤtiſch. Die Einwohner ſindſanft, gut und geſpraͤchig, ſorglos und unwiſſend zwar; abereinfach und ohne Anſpruͤche.
Keine Lage koͤnnte zum Studiren und zum Unterſuchen vor-theilhafter ſeyn, als diejenige, in der ich mich wirklich befinde.Die Zerſtreuungen, welche in kultivirten Laͤndern aus demgeſellſchaftlichen Umgange entſtehen, ziehen mich hier vonnichts ab; dagegen bietet mir die Natur unaufhoͤrlich neueund intereſſante Gegenſtaͤnde dar. Das einzige, was man indieſer Einſamkeit bedauern koͤnnte, iſt, daß man mit denFortſchritten der Aufklaͤrung und Wiſſenſchaften in Europaunbekannt bleibt, und der Vortheile beraubt iſt, welche ausder Mittheilung der Ideen entſpringen. Allein, waͤre dießauch ein Bewegungsgrund, nicht zu wuͤnſchen, ſein ganzes Lebenhier zuzubringen: ſo kann man doch einige Jahre auf die aller-angenehmſte Art hier verleben. Das Studium der verſchie-denen Menſchen-Raçen, die unter einander vermiſcht ſind,der Indianer, und beſonders der Wilden, iſt allein hinlaͤng-lich, den Beobachter zu beſchaͤfftigen. Unter den Bewohnerndieſes Landes, die aus Europa herſtammen, mag ich mich vor-zuͤglich gern mit den Koloniſten unterhalten, die auf dem Lan-de wohnen. Bey dieſen hat ſich ganz die Einfalt der ſpani-ſchen Sitten aus dem funfzehnten Jahrhunderte erhalten; undman findet unter ihnen oft Zuͤge von Menſchlichkeit, und Grund-ſaͤtze einer wahren Philoſophie, die man unter den Nationen,die wir kultivirt nennen, zuweilen vergebens ſucht. Aus die-ſen Urſachen wird es mir ſchwer werden, dieſe Gegend zu ver-laſſen, und die reichern mehr bevoͤlkerten Kolonien zu berei-ſen. Freylich findet man daſelbſt mehr Huͤlfsmittel ſich zuunterrichten; allein man ſtoͤßt oͤfters auf Menſchen, welchemit ſchoͤnen philoſophiſchen Redensarten im Munde, doch dieerſten Grundſaͤtze der Philoſophie durch ihre Handlungen ver-leugnen, mit dem Raynal in der Hand, ihre Sklaven miß-handeln, und mit Enthuſiasmus von der wichtigen Angele-genheit der Freyheit redend, die Kinder ihrer Negern einigeMonate nach der Geburt verkaufen. Welche Wuͤſte wuͤrde |62| nicht einem Umgange mit ſolchen Philoſophen vorzuziehenſeyn! Ich bin Landwaͤrts eingedrungen, von den Kuͤſten Por-to-Cabello und dem großen See von Valencia durch die Lia-nos, und uͤber den Fluß Apureo bis an den Urſprung des Orinoko und den Fluß Niu, unter dem Aequator; ich habedas weitlaͤuftige Land zwiſchen dem Orinoko und dem Amazo-nenfluſſe, Popayan und Guyana, durchſtreiſt; ein Land, inwelches die Europaͤer ſeit 1766 nicht wieder gekommen ſind,und wo nur jenſeit der Waſſerfaͤlle ohngefaͤhr 1800 Weiße ineiner Art von Doͤrfern beyſammen wohnen. Die Waſſerfaͤllehabe ich zweymal geſehen. Von St. Carl bin ich auf der Rivière noire nach Guyana zuruͤck gekommen. *) Durchdie Schnelle des Stroms legten wir in 25 Tagen, die Ruhe-tage ungerechnet, einen Weg von 500 franzoͤſiſchen Meilen zu-ruͤck. Ich habe von mehr als 50 Orten die Laͤnge und Breitebeſtimmt, viele Ein- und Austritte der Planeten beobachtet,und werde von dieſem ungeheuern Lande, das von mehr als200 indianiſchen Voͤlkerſchaften bewohnt wird, wovon die mei-ſten noch keinen weißen Menſchen geſehen, und ganz verſchie-dene Sprachen und Bildungen haben, eine genaue Charte her-ausgeben. Alle Beſchwerlichkeiten dieſer muͤhevollen Reiſe habeich gluͤcklich uͤberſtanden. Vier Monate ſind wir vom Regen,von fuͤrchterlichen Mosquiten und Ameiſen, und vorzuͤglichvom Hunger grauſam geplagt worden. Wir haben beſtaͤndigin Waͤldern geſchlafen; Bananen, Manioc, Waſſer, undzuweilen etwas Reiß war unſere ganze Nahrung. Mein Freund Bonpland (ein Naturkundiger aus Ro-chelle) iſt von den Folgen unſerer Streiferey viel mehr an-gegriffen worden, als ich. Er bekam nach unſerer Ankunftin Guyana, Erbrechen und ein Fieber, das mich fuͤr ihn fuͤrch-
*) Wenn, wie faſt nicht zu zweifeln iſt, unter dem franzoͤſi-ſchen Namen Noire der Negro gemeint iſt: ſo iſt nach denCharten von Mannert und d’Anville nicht abzuſehen, wieHerr v. H. auf dieſem Fluß nach Guyana hat kommen koͤn-nen. Auch iſt auf dieſen Charten der Fluß Niu unter dem Aequator nicht zu finden. A. d. U.
|63| ten ließ. Wahrſcheinlich war dieß die uͤble Wirkung der Nah-rung, an die wir ſeit langer Zeit nicht gewohnt waren. Daich ſahe, daß er in der Stadt nicht wieder geſund werden woll-te, brachte ich ihn auf das Landhaus meines Freundes, des D. Felix Farreras, 4 Meilen von dem Orinoko, in ein etwashoͤher liegendes und ziemlich friſches Thal. In dieſem tropi-ſchen Klima giebt es kein geſchwinderes Geneſungsmittel alsdie Veraͤnderung der Luft; und ſo ward auch in wenig Ta-gen die Geſundheit meines Freundes wieder hergeſtellt. Ichkann dir meine Unruhe nicht beſchreiben, in der ich waͤhrendſeiner Krankheit war; niemals wuͤrde ich einen ſo treuen,thaͤtigen und muthigen Freund wieder gefunden haben. Aufunſerer Reiſe, wo wir unter den Indianern ſowohl, als inden mit Krokodillen, Schlangen und Tigern angefuͤllten Wuͤ-ſten, mit Gefahren umringt waren, hat er erſtaunliche Pro-ben von Muth und Reſignation gezeigt. Nie werde ich ſeinegroßmuͤthige Anhaͤnglichkeit an mich vergeſſen, wovon er mirbey einem Sturme, der uns am 6ten April 1800. mitten aufdem Orinoko uͤberfiel, die groͤßten Beweiſe gab. Unſere Pi-rogue war ſchon zwey Drittel mit Waſſer angefuͤllt; und dieIndianer, die bey uns waren, fiengen ſchon an, ſich in das Waſ-ſer zu werfen, um das Ufer durch Schwimmen zu erreichen.Mein großmuͤthiger Freund bat mich, ihrem Beyſpiele zu fol-gen, und erbot ſich, mich eben ſo zu retten.
Das Schickſal wollte nicht, daß wir in dieſer Wuͤſte um-kommen ſollten, wo 10 Meilen in Umkreiſe kein Menſch we-der unſern Untergang, noch die geringſte Spur davon wuͤrdeentdeckt haben. Unſere Lage war in Wahrheit ſchrecklich;das Ufer war uͤber eine halbe Meile von uns entfernt, undeine Menge Krokodille ließen ſich mit halbem Koͤrper uͤberdem Waſſer ſehen. *) Selbſt wenn wir der Wuth der Wel-len und der Gefraͤßigkeit der Krokodille entgangen, und an dasLand gekommen waͤren, wuͤrden wir daſelbſt vom Hungeroder von Tigern verzehrt worden ſeyn; denn die Waͤlder ſindan dieſen Ufern ſo dick, ſo mit Lianen durchſchlungen, daß esſchlechterdings unmoͤglich iſt, darin fortzukommen. Der robu-
*) Da die Indianer wagten ans Land zu ſchwimmen, war esviel Gluͤck, daß ſie den Krokodillen oder Alligatorn entgien-gen. Note des Ueberſetzers.
|64| ſteſte Menſch wuͤrde mit dem Beil in der Hand, in 20 Ta-gen kaum eine franzoͤſiſche Meile zuruͤcklegen. Der Flußſelbſt iſt ſo wenig befahren, daß kaum in zwey Monaten einindianiſches Canot an dieſen Ort kommt. In dieſem aller-gefaͤhrlichſten und bedenklichſten Augenblicke, ſchwellte einWindſtoß das Segel unſers Schiffchens, und rettete uns aufeine unbegreifliche Weiſe. Wir verloren nur einige Buͤcherund Lebensmittel.
Wie gluͤcklich fuͤhlten wir uns, als wir nun des Abends,nachdem wir an das Land gekommen und ausgeſtiegen waren,mit einander auf dem Sande ſaßen, und unſre Abendmahlzeithielten, daß keiner von unſerer Geſellſchaft fehlte. Die Nachtwar dunkel, und der Mond kam nur augenblicklich durch dievom Winde gejagten Wolken zum Vorſchein. Der Moͤnch,der bey uns war, richtete ſich mit ſeinem Gebete an den h. Franciscus und an die h. Jungfrau. Die andern alle warenin tiefen Gedanken, geruͤhrt, und mit der Zukunft beſchaͤff-tiget. Wir waren von den großen Waſſerfaͤllen, die wir inzwey Tagen paſſiren ſollten, noch gegen Norden, und hattennoch mehr als 700 Meilen mit unſerer Pirogue zu machen,welche, wie uns die Erfahrung gelehrt hatte, gar leicht um-ſchlagen konnte. Dieſe Unruhe dauerte indeß nur eine Nacht.Der darauf folgende Tag war ſehr ſchoͤn; und die Ruhe undHeiterkeit, welche ſich uͤber die ganze Natur verbreitete, kehrteauch in unſre Seelen zuruͤck. Wir begegneten des Vormit-tags einer Familie Caraiben, die von der Muͤndung des Ori-noko kam, um Schildkroͤten-Eyer zu ſuchen, und dieſe ſchreck-liche Reiſe von 200 Meilen mehr zum Vergnuͤgen und ausLiebe zur Jagd, als aus Nothwendigkeit unternommen hatte.Dieſe Geſellſchaft ließ uns vollends alle unſere Widerwaͤrtig-keiten vergeſſen. Nach einem monatlichen Aufenthalte in Guyana, nah-men wir abermals den Weg durch die Lianos, um nach Bar-celona oder Cumanagota zu kommen. Wir hatten dieſesLand ſchon im Monate Januar durchreiſet. Damals hattenwir durch den Staub und an Waſſermangel ſehr viel gelit-ten, und mußten oft einen Umweg von 3 bis 4 Meilen ma-chen, um etwas faules Waſſer zu finden. Dieſes mal wardie Regenzeit; und nur mit Muͤhe konnten wir in den uͤber-ſchwemmten Ebenen vorwaͤrts kommen. Dieſes Land gleichtin dieſer Jahreszeit Nieder-Aegypten.