Digitale Ausgabe

Download
TEI-XML (Ansicht)
Text (Ansicht)
Text normalisiert (Ansicht)
Ansicht
Textgröße
Originalzeilenfall ein/aus
Zeichen original/normiert
Zitierempfehlung

Alexander von Humboldt: „Auszug eines Schreibens von Hrn Alexander von Humboldt an seinen Herrn Bruder in Berlin“, in: ders., Sämtliche Schriften digital, herausgegeben von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich, Universität Bern 2021. URL: <https://humboldt.unibe.ch/text/1801-Auszug_eines_Schreibens-1> [abgerufen am 19.04.2024].

URL und Versionierung
Permalink:
https://humboldt.unibe.ch/text/1801-Auszug_eines_Schreibens-1
Die Versionsgeschichte zu diesem Text finden Sie auf github.
Titel Auszug eines Schreibens von Hrn Alexander von Humboldt an seinen Herrn Bruder in Berlin
Jahr 1801
Ort Berlin; Stettin
Nachweis
in: Neue Berlinische Monatschrift 6 (November 1801), S. 392–400.
Postumer Nachdruck
Briefe Alexander’s von Humboldt an seinen Bruder Wilhelm, hrsg. von der Familie von Humboldt in Ottmachau, Stuttgart 1880, S. 20–24.

Lettres américaines d’Alexandre de Humboldt (1798–1807), précédées d’une Notice de J.–C. Delamétherie et suivies d’un choix de documents en partie inédits, publiés avec une introduction et des notes par le E.T. Hamy, Paris [1905], S. 115–118. [frz. Übersetzung].

Alejandro de Humboldt. Cartas americanas. Compilación, prólogo, notas y cronología Charles Minguet. Traducción Marta Traba, Caracas 1980, S. 78–80. [span. Übersetzung].

Alexander von Humboldt, Briefe aus Amerika 1799–1804, herausgegeben von Ulrike Moheit, Berlin: Akademie 1993, S. 134–136.
Sprache Deutsch
Typografischer Befund Fraktur (Umlaute mit superscript-e); Antiqua für Fremdsprachiges; Auszeichnung: Sperrung, Schwabacher; Fußnoten mit Asterisken; Schmuck: Initialen.
Identifikation
Textnummer Druckausgabe: II.7
Dateiname: 1801-Auszug_eines_Schreibens-1
Statistiken
Seitenanzahl: 9
Zeichenanzahl: 9151

|392|

Neueſter Brief des Hrn Oberberg-raths von Humboldt.

Die weiten Reiſen unſers beruͤhmten Lands-mannes, die dadurch veranlaßten wichtigen Ent-deckungen, die damit verbundenen großen Ge-fahren, machen Ihn, fuͤr Jeden der Wiſſen-ſchaften und Menſchen zu ſchaͤtzen weiß, eben ſointereſſant als bewundernswuͤrdig. Man moͤgtewuͤnſchen, daß der edle junge Mann keiner Moͤg-lichkeit Schaden zu nehmen, ſich weiter ausſetze;aber man wuͤnſcht doch auch, daß er fortfahre,die wahrhaft neue Welt wo er ſich itzt befindet,und die ſo leicht kein Europaͤer von gleichen |393| Kenntniſſen wiederum beſucht, genau zu erfor-ſchen. Man fuͤhlt ein dringendes Verlangen,ihn zuruͤckgekehrt in ſeiner Heimat zu ſehn, unduͤber die Wunder jener Natur reden zu hoͤren;aber Niemand wird doch wollen, daß der vonihm entworfene große Plan auch nur um einJahr abgekuͤrzt werde. In der Monatſchrift ſind die merkwuͤrdigendrei Briefe des Hrn von Humboldt geliefertworden, vom J. 1799, wo zuerſt ſeine außer-europaͤiſchen Reiſen anfingen: als er ſich nehm-lich in Spanien entſchloß, nach Amerika zu gehn,und uͤber Teneriffa dahin ſchifte (man ſ. Au-guſt 1801, Nr 4; vergl. September Nr 3).Von ſeinen ungemein muͤhſeligen und gefahrvol-len Unternehmungen in Suͤdamerika ſind meh-rere Berichte vom J. 1800 gedruckt, vorzuͤglichin Franzoͤſiſchen Blaͤttern, und daraus wiederin Deutſchen Jurnalen. Ein ſehr umſtaͤndlicherBrief aus Kuba an Hrn Prof. Wildenow inBerlin, vom 21 Februar dieſes Jahrs, ſtand imJulius in der Haude- und Spenerſchen ZeitungNr 86 und 87 ausgezogen. Hier erhalten dieLeſer noch friſchere Nachrichten, und bis itzt dieletzten Nachrichten; gegen das Ende des Sep-tembers hier eingetroffen.
|394|

Auszug eines Schreibensvon Hrn Alexander von Humboldt an ſeinen Herrn Bruder in Berlin.

Wenn Du meinen letzten Brief *) aus derHavana empfangen haſt, lieber Bruder, ſoweißt Du nunmehr, daß ich meinen anfaͤngli-chen Plan geaͤndert habe, und ſtatt uͤber Nord-amerika nach Mexiko zu gehen, an die Suͤdkuͤſtedes Mexikaniſchen Meerbuſens zuruͤckgekehrt bin,um von hier zu Lande nach Quito und Limazu reiſen. Es wuͤrde zu weitlaͤuftig ſein, Dirdie Gruͤnde die mich hiezu vermogt haben, voll-ſtaͤndig aus einander zu ſetzen; der hauptſaͤch-lichſte aber war der, daß die Schiffahrt von Akapulko nach Guajaquil langwierig und be-ſchwerlich zu ſein pflegt, und daß ich doch haͤttenoch einmal nach Akapulko zuruͤckgehen muͤßen,um dort eine Gelegenheit nach den Philippinenzu finden. Ich reiſte am 8 Maͤrz von Batabano, ander ſuͤdlichen Kuͤſte der Inſel Kuba, in einemſehr kleinen Schiffe von kaum 20 Toneladas **)
*) Dieſer Brief iſt nicht angekommen.**) Eine Tonelada haͤlt zwei Tonnen.
|395| ab. Wir liefen, da wir Mangel an Waſſer hat-ten, in den Hafen la Trinidad am oͤſtlichenEnde der Inſel ein, und brachten dort zwei an-genehme Tage in einer ſchoͤnen und romantiſchenGegend zu. Hier in Cartagena landeten wirerſt am 30 Maͤrz. Gewoͤhnlich dauert zwardieſe Ueberfahrt nur 6 bis 8 Tage; allein wirhatten faſt ununterbrochene Windſtille, oder dochnur ſchwache Winde. Auch trieb uns der Mee-resſtrom, und die Unglaͤubigkeit des Kapitaͤnsder meinem Chronometer nicht traute, zu weitweſtlich, ſo daß wir in den Buſen von Darien geriethen. Wir mußten nun acht Tage hindurchlaͤngs der Kuͤſte wieder hinauffahren: was beidem orkanartigen Oſtwinde, der um dieſe Jahr-zeit beſtaͤndig hier zu wehen pflegt, mit unſermkleinen Fahrzeuge eben ſo ſchwierig als gefaͤhrlichwar. Wir legten am Rio Sinu vor Anker, undbotaniſirten zwei Tage lang an ſeinen Ufern,die wohl nie ein Beobachter betreten hat. Wirfanden eine herrliche, palmenreiche, aber wildeNatur, und ſammelten eine betraͤchtliche Anzahlneuer Pflanzen. Die Muͤndung des Flußes (erergießt ſich zwiſchen dem Rio Atrakto und demRio de la Magdalena ins Meer) iſt gegen zweiMeilen breit, und er ſelbſt mit Krokodilen ange- |396| fuͤllt. Dort ſahen wir Darien-Indianer: klein,breitſchulterig, platt, und uͤberhaupt ganz dasGegentheil der Kariben; aber ziemlich weiß, undfetter, fleiſchiger, und ſtaͤrker an Muſkeln, alsich bisher Indianer geſehen habe. Sie lebenunbezwungen und unabhaͤngig. Du ſiehſt alſo,daß, wenn unſre Schiffahrt gleich lang und be-ſchwerlich war, ſie uns doch auch mancherlei in-tereſſante Gegenſtaͤnde darbot. Nur hatten wirleider noch die groͤßeſte Gefahr am Ende der-ſelben, dicht vor Kartagena ſelbſt, zu beſtehen.
Wir wollten gegen den Wind mit Gewaltin den Hafen einlaufen. Das Meer wuͤthetefuͤrchterlich. Unſer Schifchen — und doch wares nicht meine Schuld kein groͤßeres genommenzu haben, da es zwiſchen Kuba und hier nurſo kleine Schiffe giebt — unſer Schifchen wi-derſtand der Gewalt der Wogen mit Muͤhe,und ſchlug ploͤtzlich auf die Seite. Eine entſetz-liche Welle bedeckte es, und drohte uns zu ver-ſchlingen. Der Steuermann blieb unerſchrockenauf ſeinem Platze; aber auf einmal rief er aus: no gobierna el timon (»das Steuerruder lenkt»nicht mehr«). Itzt hielten wir uns alle fuͤrverloren. Allein, da man noch das Aeußerſteverſuchte, und ein Segel abſchnitt welches nun |397| loſe flatterte, ſo hob ſich das Schif auf einmalauf dem Ruͤcken einer neuen Welle wieder em-por, und wir retteten uns hinter das Vorgebirge Gigante. Doch hier drohte mir eine neue und faſtnoch groͤßere Gefahr. Es war eine Mondfinſter-niß *); und um dieſelbe beſſer zu beobachten,ließ ich mich in einem Boote ans Land ſetzen.Aber kaum war ich mit meinen Begleitern aus-geſtiegen, ſo hoͤrten wir Ketten raſſeln; undbaumſtarke entlaufene Negern — cimarrones **)
*) Dieſe Finſterniß, in der Nacht vom 29 aufden 30 Maͤrz, war total; in Deutſchland abernur zum Theil ſichtbar, da der Mond waͤhrendderſelben unterging.**) Cimarron. Dies Spaniſche Wort, von un-bekannter oder doch zweifelhafter Abkunft, be-deutet: unbezaͤhmt, in der Wildniß lebend. Es war ſonſt nur von Thieren gebraͤuchlich, wil-den Ochſen, Kuͤhen, Pferden; und iſt nachherauf Menſchen angewandt worden, auf Sklavendie ſich durch die Flucht in Freiheit ſetzen, undſich dann in Waͤldern und unzugaͤnglichen Ge-genden aufhalten. Die andern Europaͤer habenauf ihren Kolonieen dies Wort angenommen,mit Wegwerfung der erſten Silbe. Franzoͤſiſch: maron oder marron, ein entlaufener und aufdie beſchriebene Art lebender Sklave; imglei-
|398| —, aus dem Gefaͤngniß von Cartagena entſprun-gen, ſtuͤrzten mit Dolchen in den Haͤnden ausdem Gebuͤſch hervor und auf uns zu: vermuth-lich in der Abſicht, ſich, da ſie uns unbewafnetſahen, unſers Boots zu bemaͤchtigen. Wir flo-hen augenblicklich dem Meere zu, hatten aberkaum noch ſoviel Zeit uns einzuſchiffen und dieKuͤſte zu verlaßen.
Am folgenden Tage endlich liefen wir ruhigund bei Windſtille in den Hafen von Cartagenaein. Ein ſonderbarer Zufall war es, daß derTag an dem ich dieſer doppelten Gefahr entrann,gerade der Palmſonntag (domingo de ramos)war, und daß auch genau am Palmſonntag desvorigen Jahres ich mich in gleich dringenderTodesgefahr beim Schildkroͤtenlager von Uruanaim Orinokoſtrom befand, wie ich Dir damalausfuͤhrlich ſchrieb *).
chen wild gewordenes Vieh. Die Englaͤndernennen einen ſolchen entflohenen Neger maroon;to maroon heißt: auf eine unbewohnte Inſelausſetzen.*) Bei dieſer Schiffahrt auf dem Orinoko, drohteein Sturm die Piroge umzuſchlagen, und eineMenge Krokodile im Waſſer ſahen ſchon ihrerBeute entgegen. Der Brief welcher dieſenVorfall erzaͤhlt, ward im Publiciste gedruckt,
|399| Ich habe meine ſaͤmmtlichen Manuſkripte,Karten, u. ſ. w. in der Havana in den Haͤn-den meines Freundes D. Francisko Remirez,eines geſchickten Chemikers zuruͤckgelaſſen, der ſienach geendigtem Kriege ſelbſt mit nach Europanehmen, und Dich von ihrer Ankunft daſelbſtbenachrichtigen wird. Ein Herbarium iſt gleich-falls von mir in der Havana ſtehen geblieben;ein zweites (Dubletten des erſtern) iſt mit demMoͤnch Fr. Juan Gonzalez uͤber Nordamerika nach Spanien und la Rochelle abgegangen; undein drittes (gleichfalls Dubletten) habe ich mitdem Botaniker James Fraſer nach London undBerlin geſandt *). So iſt, denke ich, Alles ge-ſichert. Meine Geſundheit iſt fortdauernd ſehr gut,und Du kannſt itzt um ſo unbeſorgter um michſein, da ich von nun an bloß in der ſtillen Suͤd-ſee ſchiffe. Ich gehe nehmlich von hier zu Landeuͤber Santa Fé und Popayan nach Quito, wo ich im Julius dieſes Jahrs einzutreffen ge-
und daraus in der N. Allgem. D. Bibl. uͤber-ſetzt: Bd 58, St. 1, Intell. Bl. S. 60.*) Dieſe fuͤr Hrn Wildenow hieſelbſt beſtimmtenPflanzen ſind ſchon gluͤcklich in London ange-kommen.
|400| denke; dann von Quito, nach Lima; von dortim Februar 1802, nach Akapulko und Mexi-ko; von Akapulko 1803, nach den Philippinen; und 1804, hoffe ich Dich wiederzuſehen.
An naͤheren Nachrichten aus Europa fehltes mir itzt ſehr. Von Dir habe ich ſeit meinerAbreiſe aus Spanien nur einen einzigen Brief,den aus Utrera *), erhalten; und doch bin ichgewiß, daß Du mir oft geſchrieben haſt. Seitdem Maͤrz 1800, hat hier Niemand Briefeaus Europa...


*) Die Stadt Utrera im Koͤnigreich Sevilla.Der aͤltere Hr von Humboldt war im Jaͤnnerdes vorigen Jahres daſelbſt, auf ſeiner Reiſevon Kadiz nach Mallaga.