Schreiben des Herrn Oberbergraths von Humboldt an Herrn van Mons in Brüssel über den chemischen Prozeß der Vitalität . Aus dem französischen Manuscript übersetzt. G. Ich habe neuerlich verschiedene Briefe an Herrn Dolomieu und Fourcroy nach Paris abgehen lassen; ich sehe aber aus denen , welche mir der erstere geschrieben hat, daß sie verlohren gegangen sind. Erlauben Sie daher, daß ich mir die Freyheit nehme, mich an Sie zu wenden. Durch Ihre Vermittelung kann ich vielleicht einige nähere Erläuterungen über Thatsachen nach Paris gelangen lassen, die, wie ich weiß, das Nationalinstitut beschäftigen. Empfangen Sie zugleich die Versicherungen meiner Hochschätzungen, die ich längst schon wegen Ihres Eifers und Ihrer Entdeckungen in der Chemie für Sie hege. Die Naturforscher Europens sollten nur Eine Familie ausmachen; man nähert sich einander leicht, wenn man nur einerley Zweck hat. Sie kennen vielleicht meine Versuche über die Pflanzenphysiologie, wie meine Aphorismi ex doctrina physiologica chemica plantarum, die meiner Flora subterranea fribergensis angehängt sind, und verschiedene Abhandlungen, die ich dem Nationalinstitut vorgelegt habe. Der Versuch über die Würkung der oxigenirten Salzsäure auf die vegetabilische und thierische Faser, die in dem Magasin encyclopedique de Millin, Noel et Warens abgedruckt ist, scheint den mehresten Erfolg gehabt zu haben. Ich freue mich, daß Vauquelin und mein Freund Dolomieu meine Versuche zu wiederholen angefangen haben. Da die beym Nationalinstitute abgelesene Abhandlung sich hauptsächlich nur auf das Keimen der Pflanzen beschränkte, so halte ich es für nöthig, Sie mit den noch auffallendern Thatsachen in Ansehung der thierischen Faser bekannt zu machen. Der stärkste Reitz der Nervenfiber ist der von Alkalien; und es scheint, daß das Azote dieser Salze dieselben in dem irritabelen und sensibelen Systeme die Rolle spielen läßt. Man lege einen Froschschenkel in oxygenirte Salzsäure oder Salpetersäure; er bleibt unbewegt. Man lege ihn in eine Auflösung von Pottasche oder Soda, und man nimmt sogleich eben so starke Zusammenziehungen wahr, als ob er durch Metalle irritirt worden wäre. Immer werden Sie die Bewegung von unten anfangen sehen. Erst bewegen sich die Fußzehen, hernach die Gastrocnem-Muskeln, dann der Schenkel. Wenn der Nerve recht empfindlich ist (man braucht nur das Ende des Cruralnerven in Oleum tartari per deliquium zu legen), so endigen sich die Zusammenziehungen mit einer Spannung oder gänzlichen Erstarrung. Der Vorderfuß erhebt sich senkrecht; die Haut an den Füßen wird ausgespannt, und es kömmt Tetanus. In dieser Lage nun scheint alle Reitzbarkeit der Faser vernichtet zu seyn. Lasse ich einen electrischen Schlag auf die gespannten Fußzehen gehen, so wird diese Vernichtung reel. Es ist ein schönes Phänomen in diesem Augenblick den Tetanus bis auf den letzten Rest verschwinden zu sehen. Es giebt aber ein anderes Mittel, wodurch der Tetanus verschwindet, und wodurch ich den Organen die Reitzbarkeit wieder geben kann. Es scheint, daß die sauerfähigen Grundlagen der Alcalien, (hauptsächlich das Azote,) allen Sauerstoff in der Faser aufgezehrt haben; der chemische Prozeß der Vitalität hört auf. Lasse ich aber Säuren z. B. Salpetersäure auf den Nerven laufen, so entsteht ein Aufbrausen; ein Theil des Alcalis wird latent, und der Rest hat nun ein gehöriges Verhältniß zum Sauerstoffe. Von diesem Augenblicke an erscheinen die Zusammenziehungen wieder beym Contact mit Zink und Silber. Vermehren Sie die Masse der Säure, und Sie schwächen von neuem die Bewegungen. Während so die thierische Faser zwischen dem Azote des Alcali und dem Sauerstoff der Säuren schwankt, können Sie den Organen die Reitzbarkeit drey- bis viermal nehmen und wieder geben. Sie sehen leicht, daß diese Art von Versuchen eine fortdaurende Aufmerksamkeit erfordet. Bey ihrer Wiederholung kann der Grad der Empfindlichkeit, in welchen man den Nerven versetzt, sehr verschieden getroffen werden. Man kann genau die Beschaffenheit der chemischen Wirkungsmittel, ihr Gewicht, ihre Temperatur bestimmen, und doch können die Versuche damit nicht gelingen. Warum? Weil es Bedingungen dabey giebt, die sich auf die Individualität der Organe beziehen, und worüber wir noch unsere tiefe Unwissenheit gestehen müssen. Der Einfluß der oxygenirten Salzsäure auf die thierische Faser ist weniger auffallend, als der der Alcalien; er bleibt aber dem ohngeachtet immer wichtig. Ich legte die Hinterfüße eines Frosches (ich nenne dies Thier vorzugsweise, ob ich gleich die Versuche auch mit andern Arten von Thieren gemacht habe) in eine Auflösung des Opiums in Alcohol. Die Metalle oder der Galvanismus erregten darin keine Bewegung weiter. Ich warf nun den einen Fuß in reines Wasser, den andern in oxygenirte Salzsäure. Der erstere blieb unbeweglich; der zweyte hingegen gab wieder starke Zusammenziehungen, und zeigte, daß seine Reitzbarkeit wieder hergestellt war. Die gemeinen Säuren unterdrücken die Reitzbarkeit der Nervenfiber. Ein durch gewöhnliche Salzsäure unempfindlich gemachter Cruralnerve bleibt unempfindlich, wenn man ihn auch in die Auflösung der Pottasche legt. Aber die Mineralsäuren erhöhen die Muskelkräfte, indem sie die Elemente der Muskelfaser verdichten. Es ist mit Säuren, wie mit der Kälte; diese unterdrückt die Nerven und verstärkt die Muskeln. Die Muskeln und Nerven haben spezifische Reitze, der Verschiedenheit ihrer Elemente gemäß. Die fürchterliche Action der Alkalien auf die Nerven scheint uns die Wirkung der Secretion der Saamenflüßigkeit im Blute zu erklären. Eben dies in dem ganzen Systeme verbreitete Alkali dient zum wohlthätigen Stimulus für die thierische Faser. Aus ihm erkläre ich mir die Wildheit fischessender Völker. -- Mein älterer Bruder, der in dem Studium der Anatomie sehr geübt ist, brachte Zink und Silber an das Maul und das Gehirn eines todten Fisches; er gab keine Bewegung von sich. Ich goß oxygenirte Salzsäure auf die Nerven, und in eben dem Augenblicke wurden die Zusammenziehungen sehr stark. Herr Herz und mehrere Gelehrte von Berlin waren bey diesen und mehrern andern Versuchen gegenwärtig. Das Herz eben dieses Fisches, das durchaus zu schlagen aufgehört hatte, fieng die Bewegung wieder regelmäßig an, als ich es in oxygenirte Salzsäure gelegte hatte. Eben dieser Versuch gelang mehrere male mit Froschherzen. Ein in Pottaschauflösung gelegtes Herz verlohr seine Reitzbarkeit auf immer; auch ist das Azote kein spezifischer Stimulus fürs Herz. Ich ersuche Sie, die Aufmerksamkeit des Herrn Vauquelin auf die Action des Schwefelalkali auf die Nerven zu lenken. Ich wunderte mich über alles das, was ich sahe. Zwey sehr reitzfähige Froschschenkel wurden in die Auflösung von Schwefelalkali gelegt. Ich versuchte daran nach 3 bis 4 Minuten den Metallreitz; die Contractionen waren sehr verstärkt; sie waren convulsivisch. Es schien, daß die drey säurefähigen Grundlagen in der Auflösung, Wasserstoff, Stickstoff und Schwefel, stark auf den Sauerstoff des arteriösen Bluts wirkten. Diese Action belebt den Prozeß der Vitalität. Nach 14 bis 16 Minuten wurde der ganze Schenkel schwarzbraun. Aller Sauerstoff des Bluts war davon eingesogen, und der wasserstoffhaltige Kohlenstoff (Carbure d'hydrogene) erschien im freyen Zustande. Der Zink und das Silber waren nicht im Stande, die mindeste Bewegung zu erregen. Man würde sich indessen sehr irren, wenn man glauben wollte, daß die ganze Reitzbarkeit vernichtet sey. Ich sahe die Contractionen mehrere male wieder zum Vorscheine kommen, da ich der Faser durch Hülfe einer Auflösung von Arsenikkalk den Sauerstoff wieder gab. Man erweckt die Flamme wieder, die schon zu verlöschen scheint. Dieser Arsenikkalk bewirkt einen Tetanus, eine vollkommene Unempfindlichkeit, wenn ein Nerv lange darin eingeweicht liegt. Es scheint, daß der zu viele Sauerstoff, so zu sagen, die sauerfähigen Grundlagen, welche den chemischen Prozeß der Vitalität unterhalten, verschlucke. Ich warf den ganzen Schenkel in eine Auflösung von Pottasche, und beobachtete, daß jetzt der Galvanismus wiederum Bewegungen erregte. Sie sehen also, mein Herr, welche unermeßliche Anzahl von Versuchen über diese Gegenstände der Lebenschemie zu machen sind. Es ist genug, die Methode, den Grad der Reitzbarkeit der organischen Theile vermittelst des Galvanismus zu messen, angezeigt zu haben. Ich werde die Ehre haben, Ihnen mein Werk über die Nerven- und Muskelfaser und über den chemischen Prozeß der Vitalität zu schicken. Ich sammle Thatsachen, und bin gegen meine eigenen hypothetischen Ideen mißtrauisch. Sie bemerken mit mir, wie sehr man Unrecht hat, anzunehmen, daß der Sauerstoff die erste Rolle in dem Prozesse der Vitalität spiele. Meine Versuche beweisen, daß die Reitzbarkeit oder der Ton der Faser nur von dem reciproken Gleichgewichte zwischen allen Elementen der Faser, dem Stickstoffe, dem Wasserstoffe, u. s. w., abhängt. Die chemischen Verbindungen des Phosphors und des Stickstoffs z. B., scheinen eben so wichtig zu seyn, als die des Sauerstoffs mit den sauerfähigen Grundlagen. Welches Licht werden Sie, und die Fourcroy und die Vauquelin, über diese Gegenstände verbreiten! Nachschrift. Ich hatte für diesen Winter noch einige Frösche aufgehoben, und habe eben diesen Morgen einige Versuche wiederhohlt, wovon ich Ihnen noch die näheren Umstände melden will. Ich sage in dem vorstehenden Briefe, daß, weil wir die Principien der Lebenschemie nur oberflächlich kennen, wir uns nicht wundern dürfen, wenn wir nicht immer dieselbigen Resultate erhalten. Ein negativer Versuch beweist nichts gegen einen affirmativen. Ich bin gewiß, daß man niemals sehen wird, daß ein durch Alcohol unempfindlich gemachter Nerve seine Reitzbarkeit durch Schwefelalkali wieder erhalten wird. Hier einige Thatsachen, die ich so eben seit einer Viertelstunde wahrgenommen habe. Ich nahm die vier Extremitäten eines sehr lebhaften Frosches. Der rechte Vorderfuß hüpfte auf Zink und Silber. Ich legte ihn eine Minute lang in Alcohol. Das Hydrogen würkte stark auf die Faser. Die Zähen des Fußes zitterten in der ersten Minute. Bald nachher kam eine totale Erstarrung. Der Muskel wurde weiß, da das Blut wahrscheinlich seinen Sauerstoff verlohren hatte. Ich brachte wieder Zink und Silber an. Nicht die mindeste Zusammenziehung! Ich eilte, ihn in oxygenirte Salzsäure zu werfen, die ich vorher stark geschüttelt hatte. Die Gliedmaßen blieben drey Minuten lang darin. Ein schwaches Erzittern der Muskeln zeigte in der Tasse selbst die Wiederherstellung der Lebenskräfte. Ich legte den Fuß nun wieder auf die Metalle. Die Contractionen kamen wieder, und zwar nicht blos mit Zink und Silber, sondern sogar mit Zink und Eisen. Dies ist, dünkt mich, eine einfache und sehr entscheidende Erfahrung. Ich wechselte nun mit der Methode ab, um den Effect davon zu sehen . Ich nahm den linken Schenkel. Ich ließ ihn neun Minuten in Alcohol. Er hatte alle Reitzbarkeit verlohren, und die oxygenirte Salzsäure war nicht im Stande, die Lebenskräfte wieder herzustellen. Der linke Vorderfuß war 15 bis 18 Minuten hindurch unberührt geblieben. Ich brachte an seinen Nerven Zink und Silber, aber er zeigte nur schwache und langsame Zusammenziehungen. Ich warf ihn in Alcohol. Nach der ersten Minute hatte seine Reitzbarkeit zugenommen. Der Galvanismus würkte weit stärker . Aber nach drey Minuten war alle Reitzbarkeit vernichtet, und ich versuchte die oxygenirte Salzsäure vergeblich. Ich legte den Fuß in die Auflösung von Arsenikkalk, und nun gab er Contractionen, aber sehr schwache. Hier sind vier Versuche, von denen zwey gelangen, und zwey die Lebenskräfte nicht wieder erweckten. Ich glaube, daß man nach einer guten Logik sich doch an die affirmativen Versuche halten müsse. Untersuchen Sie die Bedingungen, und Sie werden sie sehr verschieden wahrnehmen. Der linke Schenkel blieb sehr lange (9 Minuten lang) in Alcohol. Der rechte Fuß war schon sehr schwach als der Versuch anfieng. Wer könnte sich rühmen, von den Todten aufzuerwecken! Wenn von zwey Chemisten der eine beym Erhitzen des rothen Quecksilberkalks Sauerstoff erhielt, und der andere nichts, so würden wir doch immer glauben, daß der Apparat des letztern nicht luftdicht gewesen sey. Ich sehe niemals bey einem, durch Alcohol unempfindlich gemachten, Organe die Reitzbarkeit wiederkehren, wenn es sich selbst überlassen blieb. Also muß bey den Ihnen gemeldeten Versuchen, dergleichen mein Werk noch eine große Anzahl enthält, der Sauerstoff der oxygenirten Salzsäure eine Rolle gespielt haben . -- Die Medicin wird unendlich gewinnen, wenn man sich bestrebt, die Phänomene zu beobachten, welche die verschiedenen Elemente in Berührung mit der reitzbaren Faser hervorbringen. Man muß von einfachen Verbindungen ausgehen, und zu den zwiefachen, dreyfachen und vierfachen fortschreiten. Sollte man denn aber aus der stärkeren Würkung eines spätern Reitzungsmittels immer nur auf Zunahme der Reitzfähigkeit, und nicht vielmehr auf stärkere Intensität der Würkung des neuen Reitzes, schließen dürfen, und umgekehrt? Dieser Gesichtspunkt ist doch wahrlich nicht zu übersehen. Anmerk. des Uebers. Was berechtigt denn aber hier gleich zu dem Schluß, daß nur der Sauerstoff die Rolle gespielt haben müsse? Geht denn in der Faser dabey nichts weiter vor, als daß sie mehr Sauerstoff empfängt? Kann man behaupten, daß ihr kein Kohlenstoff, kein Wasserstoff, kein Phosphor, durch den Sauerstoff entzogen werde? Und darf man aus so unvollkommenen Versuchen gleich auf das, Wie, mit Bestimmtheit schließen? Warum soll man sich nicht vorerst dabey beruhigen, nur die Gesetze der Lebenskraft zu erforschen, und also nur bey der Thatsache stehen bleiben, daß die oxygenirte Salzsäure für die reitzbare Faser noch ein Reitzungsmittel sey, wenn mehrere andere Substanzen es nicht mehr sind? -- In Ansehung des angeführten Maaßes für die Reitzfähigkeit, (nemlich des Galvanismus,) ist auch noch zu erinnern, daß die heterogenen Metalle an die reitzfähige Faser für sich angewandt ein anderes Reitzungsmittel dem Grade nach sind, als wenn sie an die von oxygenirter Salzsäure noch feuchte Faser applicirt werden. Anmerk. des Uebers. Ich habe dem Nationalinstitute eine Abhandlung über die Natur des Lichtes und seine chemischen Verbindungen geschickt. Wedgwood behauptet, daß die Phosphorescenz calcinirter Körper im Wasserstoffgas und Stickgas keine Aenderung erleide. Ich glaube, daß er diese Gasarten nicht so gereinigt angewendet hat, als ich es vermittelst des Phosphors gethan habe. Ich sahe das leuchtende faule Holz in Stickgas und Wasserstoffgas nicht weiter leuchtend. Etwas Sauerstoff aber in die Glocke gebracht, erweckte das ganze Leuchten wieder . -- Auch habe ich die Morcheln (Phallus esculentus) in eine talgähnliche Substanz durch Hülfe der schwefelichten Säure verwandelt, und daraus auch Seife gemacht. Spalanzani hat eben diese Phänomene beobachtet, und was noch wichtiger ist, er sahe, daß die phosphorischen oder leuchtenden Thiere in Stickgas, Wasserstoffgas und kohlensaurem Gas zu leuchten aufhörten, und daß sie ein viel lebhafteres Licht im Sauerstoffgas, als in atmosphärischer Luft verbreiteten. (Esame chimico degli esperimenti del Prof. Goettling. Modena 1796.) Amerk. von van Mons. Bayreuth, den 29sten Dec. 1796. von Humboldt.