Ueber die Rindviehſeuche als Nervenfieber behandelt. — Aus einem Briefe des Herrn Oberbergraths von Humboldt an den G. R. Baldinger. Ich eile Ihnen, verehrungswerther Mann, eine Nachricht mitzutheilen, welche gewiß Ihr lebhafteſtes Intereſſe auf ſich ziehen wird. Unter allen Uebeln, welche der gegenwaͤrtige Krieg uͤber das weſtliche Deutſchland gebracht hat, iſt unſtreitig keines ſo fuͤrchterlich, als die Rindviehſeuche, welche die Armeen durch Schwaben, Franken und die Pfalz verbreitet haben. Der Viehſtand und mit ihm der Ackerbau in dem ſchoͤneren Theil unſeres deutſchen Vaterlandes ſind auf mehrere Generationen untergraben! Was wuͤrde wohlthaͤtiger fuͤr die Menſchheit ſeyn, als ein Mittel zu entdecken, welches jenem Uebel Grenzen ſetzen koͤnnte? Der Glaube an die Unmoͤglichkeit einer ſolchen Entdeckung iſt freylich ſehr bequem. Man wird aller Muͤhe zu experimentiren uͤberhoben und rathet zum Toͤdten des geſunden Viehs, zu allgemeiner Sperre, zu Mitteln die leichter vorzuſchlagen als im Großen auszufuͤhren ſind. In einem Lande lebend, welches von demſelben Ungluͤck betroffen iſt, hatte ich eben ſo viel Gelegenheit krankes Vieh zu beobachten, als ich Beruf fuͤhlte, Schriften uͤber die Seuche zu leſen. Unter allem was mir in die Haͤnde fiel, feſſelte nichts ſo ſehr meine Aufmerkſamkeit, als das kleine Werk des Doctors Deho, welches Herr Weikard uͤberſetzt hat. Nichts ſchien mir wahrſcheinlicher, als daß die Rindviehſeuche ein boͤsartiges Nervenfieber iſt. Man ſieht Haͤupter in wenigen Tagen ſterben, welche ſecirt oft eben ſo wenig vom geſunden Vieh zu unterſcheiden ſind, als man bey einem vom Bliz getroffenen Menſchen Spuren der Verletzung findet. Die Urſach des Todes ſcheint alſo hier in den feinern Stoffen zu liegen, von deren Abſonderung die Thaͤtigkeit des Muskel- und Nervenſyſtems abhaͤngt. Man verwechſelt das Weſen der Krankheit mit den unweſentlichen Complicationen, welche ſie begleiten. Das ploͤtzliche Hinſchwinden aller Kraͤfte, die Laͤhmung der Muskeln, die Zuckungen, das Schlagen mit dem Halſe, welcher oft rechts und links geriſſen wird (mit einer Staͤrke, daß es Ketten ſprengt) — alles dieß verkuͤndigt ein boͤsartiges Nervenfieber, ſo bald der Anſteckungsſtoff eingeathmet und mittelſt des, in der Lunge oxygenirten, arteriellen Bluts verbreitet iſt. Je ermuͤdeter das Thier durch ſtrenge Arbeit, je ſchlechter genaͤhrt es bei kaͤrglichem Futter iſt, deſto empfaͤnglicher wird es fuͤr den Krankheitsſtoff, eine deſto ſchleunigere Vernichtung der vitalen Kraͤfte bringt dieſer hervor. Daher breitet ſich die Viehſeuche im Kriege, wo Ochſen und Kuͤhe fuͤrchterlich angeſtrengt werden, ſo unaufhaltſam aus! Daher wuͤthet ſie in ſolchen Jahren am heftigſten, wo die Vegetation gehindert oder wo (wie dem aufmerkſamen Beobachter der Wieſen nicht entgehen kann) gewiſſe ſehr nahrhafte Graͤſer und Futterkraͤuter in geringer Menge hervorkeimen! Dieſelbe Laͤhmung, welche das kranke Vieh in den Bewegungsmuskeln der Extremitaͤten aͤußert, trift den wichtigſten Theil des Nervenſyſtems, die Abdominalnerven. Die Thaͤtigkeit des Magens und das Geſchaͤft der Verdauung hoͤrt in dieſem Nervenfieber daher auf. Mit aufhoͤrender Verdauung iſt der Aſſimilationsproceß geſtoͤhrt. Den Organen wird nicht erſetzt, was ſie bei den convulſiviſchen Zuckungen, bei den unwillkuͤhrlichen Entladungen in dem Muskel, verlohren haben. Das Thier ſtirbt in dem Zuſtande der hoͤchſten Schwaͤche. — Selten bleibt die Krankheit aber ſo einfach. Meiſt geſellen ſich andre Uebel hinzu, ein Entzuͤndungsfieber, unnatuͤrliche Abſonderungen der Galle, Verſtopfung oder (am haͤnfigſten) ein catarrhaliſcher Affect der Daͤrme — Ruhr. Wird die Deho’ſche Methode daher nicht fruͤh genug, ſondern in einem Zeitpunkt angewandt, wo die Complicationen bereits eingetreten ſind, ſo muß der Arzt natuͤrlich auf dieſelben Ruͤckſicht nehmen. Deho’s Methode gruͤndet ſich auf Browniſche Grundſaͤtze. Dies war bey mir nicht die einzige Empfehlung fuͤr ſie. Aber ich glaube daß man in einer Sache, welche den Wohlſtand des Volks ſo nahe angeht, Erfahrungen nur durch Erfahrungen pruͤfen koͤnne. Ich glaubte, daß in einer Sache, von der niemand etwas beſtimmtes weiß, alles zu verſuchen ſey. Ich wartete den Zeitpunkt ab, wo die Seuche ſich unſerer Stadt naͤhern wuͤrde, um dann ſelbſt krankes Vieh zu kaufen und die Wirkung reizender Mittel zu pruͤfen. Andere Beſchaͤftigungen hielten mich von der Ausfuͤhrung dieſes Entſchlußes ab und ich reichte daher bey der hieſigen Koͤniglichen Krieges- und Domainencammer ein Memoire ein, in welchem ich dieſelbe aufforderte, jene Verſuche anſtellen zu laſſen. Bey dem regen Eifer, welchen der Herr Praͤſident von Schukmann fuͤr jedes nuͤtzliche Unternehmen aͤußert, blieb mein Wunſch nicht unerfuͤllt. Ein uͤberaus thaͤtiger und kenntnißvoller hieſiger Arzt, Herr von Schallern erhielt den Auftrag, Deho’s Kurplan auszufuͤhren — und ſeine erſten Verſuche haben einen Erfolg gehabt, uͤber den Sie mit mir erſtaunen werden. In Neuſtadt am Culm wuͤthete die Rindviehſeuche ſo fuͤrchterlich, daß dort von hundert Haͤuptern kaum eines die Krankheit uͤberſtand. Herr von Schallern nahm 21 Stuͤck in die Kur und von dieſen ſind bereits 16 Stuͤck gerettet!! Alle wurden nach Deho’s reizender Methode mit Wein, Theriak, Opium und Knoblauch behandelt; Esluſt, Muskelſtaͤrke, munteres Ausſehen kehrten in wenig Tagen zuruͤck. Und doch waren dieſe Verſuche unter unguͤnſtigen aͤußern Umſtaͤnden angeſtellt. Das Neuſtadter Vieh leidet ſeit dem verfloſſenen Jahre meiſt an Lungenuͤbeln, daher es die Seuche jetzt um ſo gewaltſamer hinraft. Auch die Winterkaͤlte ſchadet der Kur, da Herr von Schallern ausdruͤcklich bemerkte, daß bey hoͤheren Thermometerſtaͤnden die Geneſung ſchneller als bey niedrigern erfolgte. Ich ſchreibe Ihnen noch keine Beſtimmungen uͤber die quantitativen Verhaͤltniſſe, in denen jedes Mittel gebraucht worden iſt, da man hier fortfaͤhrt, Verſuche daruͤber zu machen, ob nicht wohlfeilere Stoffe den theuerern zu ſubſtituiren ſind. In einer Sache, die ſo neu iſt, muß man ſich huͤten, zu voreilig beſtimmte Vorſchriften zu geben. Genug, daß man hier auf einem neuen, vielverſprechenden Wege iſt. Das Landvolk ſelbſt hat das groͤßte Vertrauen dazu gefaßt, und wer wuͤrde eine Ausgabe von ſelbſt mehreren Thalern ſcheuen, um einen wohlgemaͤſteten Ochſen und ein Stuͤck Zugvieh zu retten. Ich werde mich freuen, wenn durch dieſe Betrachtungen die Aufmerkſamkeit derer, deren Beruf es iſt, fuͤr den allgemeinen Landeswohlſtand zu ſorgen, auf einen ſo wichtigen Gegenſtand geleitet wuͤrde. Aber freylich iſt es leichter, eine Vorſchrift, wie man ſich bey der Viehſeuche zu verhalten habe, drucken zu laſſen und Purgirſalze zu empfehlen, welche (wie hier die allgemeine Erfahrung lehrt) den letzten Reſt der Kraͤfte rauben und den Tod deſto ſchneller herbeyrufen! Am Schluß dieſes Briefes nur noch wenige Worte uͤber den Anſteckungsſtoff: Man hat bey der diesjaͤhrigen Seuche einige auffallende Erfahrungen daruͤber geſammelt. Wann angeſteckte Dorfſchaften von unangeſteckten Gegenden gegen Weſten lagen, ſo haben dieſe die Seuche oft nicht eher zugefuͤhrt erhalten, als bis der Oſtwind ſich in einen Weſtwind umſetzte. — Nichts iſt wichtiger fuͤr den Landmann, als das Reinigen der ausgeſtorbenen Staͤlle, wenn neu gekauftes geſundes Vieh wieder hineingebracht werden ſoll. Man begnuͤgt ſich gewoͤhnlich die Bohlen umzuwenden, und mit Wachholder (Junip. comm.) zu raͤuchern. Erfahrungen haben gelehrt, daß dies Raͤuchern nicht hinlaͤnglich iſt; ich wuͤrde zu einem chemiſchen Mittel rathen, welches den Anſteckungsſtoff niederzuſchlagen oder zu zerſetzen faͤhig iſt, und welches auf engliſchen Sklavenſchiffen, bey Epidemien, laͤngſt mit Gluͤck gebraucht wird. Man ſetze in mehrere Ecken des Stalles flache Schuͤſſeln mit Kochſalz und gieße auf dieſes Vitrioloͤl (2 Theil Schwefelſaͤure gegen 1 Theil Kochſalz) es entwickelt ſich ſogleich die Kochſalzſaure Luft (Gas acide muriatique) welche bey Beruͤhrung mit der feuchten atmosphaͤriſchen Luft als ein weißlichgrauer Nebel niederfaͤllt. Ich wuͤßte kein Mittel, welches den Dunſtkreis geſchickter von allen fremdartigen, beſonders ammoniakaliſchen Theilen (die bey jeder Faͤulniß oder thieriſchen Ausduͤnſtung eine Rolle ſpielen) reinigen koͤnnte. In meinem phyſicaliſchen Werke uͤber die gereizte Nervenfaſer und den Proceß der Vitalitaͤt (wovon der Druck in einigen Wochen vollbracht ſeyn wird) werde ich mich bemuͤhen, die chemiſchen Gruͤnde davon naͤher zu entwickeln. Daß man aber bey jener Luftentbindung nicht (wie beym Raͤuchern mit Wachholder) die Naſe uͤber den Becken halten muß, bedarf keiner Erinnerung fuͤr die, welche das Mittel dem gemeinen Landvolk empfehlen. Bayreuth den 28ſten Jenner 1797.