F. Humboldt's Brief an Hrn. Professor Pictet, über die Wirkung der übersauren Salzsäure und die Irritabilität der organischen Fieber. -- -- -- ---- Sie verlangen von mir genaue Nachricht über die kleinen Entdeckungen, welche ich in der Physik, Botanik und allgemeinen Physiologie zu machen Gelegenheit gehabt habe, und ich bin zu eitel, als daß ich Ihre Wünsche nicht erfüllen sollte, ich bitte aber zugleich um gütige Nachsicht. Seit 6 Jahren, da ich mit Georg Forster nach England reiste, habe ich mich unaufhörlich mit physikalischen Beobachtungen beschäftigt. Ich habe die berühmtesten Bergwerke Europens gesehen, und hatte häufige Gelegenheit, die Natur in den verschiedensten Gesichtspuncten zu belauschen -- -- -- -- -- -- -- Ich fange damit an, Ihnen eine Entdeckung für die Irritabilität der vegetabilischen Fiber mitzutheilen, welche ich im Jahr 1793 zu machen Gelegenheit hatte. Ich kündigte sie in meinen Aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum an, ich verfolgte sie aber unermüdet fast zwey Jahre nach meiner Rückkehr von Genf nach Deutschland, mit so glücklichem Erfolg bey der thierischen Faser, daß ich Ihnen jetzt ein ungleich interessanteres Detail davon geben kann. Die außerordentliche Wirkung der Metallkalche, des Sauerstoffgas und des Wassers selbst auf die belebte Materie, die wichtige Erscheinung des Athemholens, und die sinnreichen Ideen von Girtanner ließen den Sauerstoff als das Princip der Irritabilität der organischen Natur ansehen, und alle diese verschiedenen Rücksichten bewogen mich, eine Substanz aufzusuchen, mit welcher der Sauerstoff in so geringer Verbindung stände, daß er sich leicht von derselben trennte. Ich glaubte, daß eine solche Substanz mich auf sehr nützliche Versuche leiten dürfte, indem ich dann unter meinen Augen die Irritabilität der belebten Fiber würde vermehren können. Meine Wahl fiel zuerst auf das mit Wasser geschwängerte übersaure salzsaure Gas. Die Grundlagen dieser Flüßigkeit zeigen eine so schwache Attraktion an einander, daß der Sauerstoff sich durch den bloßen Lichtreiz aus derselben entwickelt. Ich bereitete diese Säure so rein wie möglich, obgleich diese Bereitung für den thierischen Proceß des Athemholens sehr gefährlich ist. Mit dem genauen Detail meiner Erfahrungen will ich Ihnen nicht beschwerlich fallen, sondern ich setze bloß einige Thatsachen her, die Ihnen unstreitig auffallen werden. Diese Aphorismen machen einen Theil meiner Schrift aus, welche unter folgendem Titel erschien: Florae Fribergensis Specimen, plantas cryptogamicas praesertim subterraneas recensens, Berol. 1793. 4. Sie wurde mit Anmerkungen vom Professor Hedwig und Dr. Ludwig in Leipzig vom Dr. Fischer übersetzt. Ich nahm drey große gläserne Gefäße, welche ich mit verschiedenen Flüßigkeiten füllte . No. 1 enthielt reines unvermischtes Wasser, in welches ich etwas Kohlensäure, Pottasche und sehr wenig Erde goß. No. 2 enthielt gewöhnliche mit Wasser so weit verdünnte Salzsäure, daß man den Geschmack auf der Zunge recht gut aushalten konnte. No. 3 war mit übersaurer Salzsäure und Gas geschwängertes Wasser. Diese Säure war so stark, daß sie dicke Dämpfe von sich gab, und daß sie vegetabilische Stoffe augenblicklich entfärbte. Ich füllte diese drey Gläser mit Saamen von Brunnenkresse (Lepidium sativum Linn.), und nach einer Viertelstunde fand ich die in reines Wasser geworfenen Körner bräunlich und mit kleinen Luftblasen bedeckt . Die Saamenkörner in No. 2 fielen ins Schwärzliche, die von No. 3 zeigten ein grünliches Gelb, sehr angeschwollen, und gleichsam in einer unzähligen Menge Blasen verdeckt, welche ein beschleunigtes Keimen anzeigten. Nach 6 -- 7 Stunden erschien dieser Keim in dem Gefäß No. 3. Nach einem Verlauf von 9 Stunden zeigte sich der Keim als eine Linie lang. Die Kresse hingegen, welche in gewöhnlicher Salzsäure lag, wurde von Augenblick zu Augenblick schwärzer. Die Körner schienen falticht und ausgetrocknet und brachten durchaus keinen Keim hervor. In No. 2 zeigten sich erst nach 36 -- 38 Stunden die ersten Spuren von Keimen, und diese waren dann noch unendlich viel kleiner, als die, welche im salzsauren Gas sich in sechs bis acht Stunden entwickelt hatten. Die Erscheinung ist sehr auffallend, durch eine Flüßigkeit die Entstehung der Keime so sehr befördert zu sehn, von welcher man vielmehr glauben sollte, daß sie sehr nachtheilig auf die organische Materie wirken müsse. Mir selbst war dieser Erfolg so unerwartet, daß ich meine Versuche fast zwey Monate ganz für mich allein fortsetzte. Der Erfolg blieb sich durchaus gleich und die Zeit der Keimung war nur um [Formel] oder eine Stunde verschieden, das salzsaure Gas kam dem Wasser immer um 29 bis 30 Stunden zuvor, und man brauchte mit dem erstern nur den sechsten Theil. Die Saamen von Erbsen und Bohnen und alle übrigen Pflanzen, mit denen ich Versuche anstellte, zeigten dieselben Resultate. Ich wiederholte meine Versuche im März, in Gegenwart der berühmten Chemiker, Hrn. Klaproth und Hermbstädt , und mehrerer anderer Mitglieder der Akademie zu Berlin, um sie von der Genauigkeit meiner Beobachtungen zu überzeugen. Ich habe in meinen physiologischen Aphorismen S. 166 mehrere Versuche über die Luftentwickelung und Wasserzersetzung bey dem Hervorkommen der Pflanzen angegeben, und ich werde Ihnen den fortgesetzten Versuch nächstens mittheilen. Die Saamen scheinen Stickstoff zu enthalten, so wie man im Eye Wasserstoffgas findet. Ich komme aber auf die genauere Angabe meiner Versuche zurück. Wenn man zwey verschiedene Arten vom salzsauren Gas bereitet, wovon die eine stark, die andre aber sehr schwach ist, so wird man bemerken, daß die Keime in der concentrirten Säure immer zuerst erscheinen. Setzt man einen Theil gleicher Flüßigkeit mit dem Saamen in eine finstre Kammer, den andern aber in den Sonnenschein, so wird man bemerken, daß die Vegetation in der Finsterniß immer schneller von Statten geht, nicht nur, weil, wie Sennebier bewiesen hat, die Entstehung der Keime im Finstern immer schneller von Statten geht, sondern weil das Sonnenlicht den Sauerstoff aus der Flüßigkeit zieht, so, daß bloße Salzsäure übrig bleibt, welche für die Pflanzen sehr schädlich wirkt. Wenn man die Keime zufällig in dem Gefäß No. 3 läßt, so wird man nach Verlauf von 30 Stunden kleine Knöspchen sehen, die an Weiße dem Elfenbein gleich kommen. Diese Erscheinung zeigt sich in verschiedenen Gestalten. Die übersaure Salzsäure ist durch die Entstehung der Keime in gewöhnliche Salzsäure verwandelt worden, und diese Veränderung ist die Wirkung des fortgehenden Wachsthums der Fiber. Diese Veränderung geschieht um so schneller, je schneller die Keime entstehen, und geht selbst in der größten Finsterniß vor sich. Ich suchte die Versuche zu verändern, sie waren aber eben so auffallend, als ich sie jetzt beschrieben habe, bey ganz verschiedenen Verhältnissen. Ich bereitete ganz reine Kieselerde oder reinen Quarz, welchen ich in zwey gläserne Gefäße füllte, in welche ich Kreßsaamen gelegt hatte, und benetzte auf der einen Seite diese Erde mit reinem Wasser, auf der andern mit dem Wasser, welches das übersaure salzsaure Gas enthielt. Ich nahm mich sehr in Acht, daß die letzte Flüßigkeit bloß die Erde berührte, nicht aber die junge Pflanze, denn diese würde ganz dadurch gelblicht worden seyn. Das übersaure salzsaure Gas brachte in 3 Tagen Stengel von einem halben Zoll hervor, reines Wasser brachte diese erst nach 4 bis 5 Tagen. In fünf Tagen waren die jungen Pflanzen in beyden Gefäßen gleich grün und sehr schön. Ein geschickter Botaniker, Uslar, (Fragmente eines neuen Systems der Gewächskunde. Braunschweig 1794) wiederholte diese Versuche mit der brassica campestris und brassica napus, der lactica sativa und reseda odorata. Er behauptete sogar, die Irritabilität der mimosa pudica und der drosera rotundifolia durch Besprengen dieser Flüßigkeit verstärkt zu haben, da ich diese Versuche aber nie nachgemacht habe, so kann ich auch über die Richtigkeit derselben nicht urtheilen. Bis jetzt richtete ich meine Aufmerksamkeit bloß auf die vegetabilische Fiber. Die auffallende Analogie, welche zwischen den beyden Naturreichen statt findet, und die Meinung, welche ich mir vorstellte, daß die Muskelfiber im Thierreiche mit der des Pflanzenreichs übereinstimmend sey, veranlaßten mich, mit der thierischen Faser Versuche anzustellen. Da ich mich schon sehr lange Zeit mit den Erscheinungen des Galvanismus beschäftigt hatte , so sah ich hier das beste Mittel, den Grad der Irritabilität, welcher bey einem Thiere statt findet, zu prüfen. Ich nahm einen Froschschenkel, dessen Nerve durch Zink armirt und mit Silber gereizt worden war. Seit 3 Stunden waren die Versuche fortdauernd so oft wiederholt, daß sich nur sehr schwache Bewegungen zeigten. Das ganze Glied zog sich nicht mehr zusammen, und selbst Gold und Zink (welche ich für die wirksamsten Metalle halte) brachten nur an dem doppelten Wadenmuskel schwache Zuckungen hervor. Dieser Schenkel schien mir zur Anstellung entscheidender Versuche sehr geschickt. Ich befeuchtete den Schenkelnerven mit Wasser, welches sehr viel von der angegebenen Gasart enthielt. Ich legte ihn wieder auf den Zink, und ich berührte diesen und die Muskeln mit einem silbernen Leiter, und meine Verwunderung war sehr groß, da ich das Bein seiner ganzen Länge nach zittern sah, und daß die Zuckungen so stark waren, daß der Nerve vom Zink wegsprang. Ich stellte sogleich vergleichende Versuche an, welche ich als den einzigen Schutz für Irrthümer ansehe. Ich nahm drey Schenkel von der rana temporaria Linn., welche schon seit vier Stunden galvanisirt worden waren, so daß ihre Irritabilität äußerst schwach zu seyn schien. Ich legte die drey Schenkelnerven in drey Gefäße, von dem das eine mit reinem Wasser, das andere mit dem salzsauren Gas in Wasser enthalten angefüllt waren. Die Resultate mehrerer und oft wiederholter Versuche waren folgende: die Zuckungen des ersten Nerven waren sehr wenig verstärkt, der zweyte wurde ganz unempfindlich gegen den Galvanismus, der dritte hatte aber beträchtliche Verstärkung erlitten, die Muskelbewegungen waren sehr verstärkt, so daß man glauben mußte, daß das Thier erst eben getödtet sey, und noch seine völlige Stärke beysammen habe. Die gewöhnlichen Ausdrücke, thierische Eletricität und Metallreiz, scheinen mir sehr unbestimmt und unrichtig, denn man muß die Ursachen nicht angeben, wenn man ihre Beschaffenheit nicht kennet. Der Ausdruck Galvanismus ist allgemein verständlich und seiner Kürze wegen zu empfehlen. Ich will sie nicht mit den Versuchen ermüden, welche ich seit meiner Rückkehr aus Italien angestellt habe, sondern ich begnüge mich, Ihnen bloß die Thatsachen angegeben zu haben. Ich füge nur diese einzige Beobachtung hinzu, welche sie überzeugen wird, daß die übersaure Salzsäure nur durch den Sauerstoff, der sich entwickelt, auf die Nervenfibern wirkt. Die Verstärkung der Irritabilität durch diese Säure dauert nur 5--8 Minuten, und nach Verlauf dieser Zeit wird die Muskelbewegung noch schwächer als vor der Anfeuchtung. Die übersaure Salzsäure wird dann in gewöhnliche Salzsäure verwandelt, und diese Veränderung ist der Irritabilität sehr nachtheilig. Man möchte vielleicht glauben, daß die Schwäche, welche sich nach 5--8 Minuten zeigt, die Wirkung einer Ueberreizung, oder indirecten Asthenie sey. Dies ist aber nicht der Fall, denn wenn man von neuem die Nerven mit der Flüßigkeit benetzt, so sieht man auch sogleich die stärkern Contractionen der Muskeln wieder erfolgen, da es überdem auch unmöglich seyn würde, eine indirecte Asthenie durch sthenische Mittel zu heilen. Im Gegentheil scheint es, daß diese neue Anfeuchtung nur dadurch die Irritabilität verstärkt, daß sie dem Nerven wieder einen größern Antheil Sauerstoff zuführt. Die Wirkung des übersauren salzsauren Gas auf das Herz ist eine sehr auffallende Erscheinung. Ich weiß nicht, ob sich diese Wirkung immer zeigt, aber ich hatte noch gestern Gelegenheit, dieselbe sehr deutlich und ziemlich lange zu beobachten. Ich machte den Versuch an dem Herzen eines Frosches, welches nicht mehr zuckte. Die Irritabilität war so geschwächt, daß selbst mechanische Reize durchaus keine Bewegung hervorbrachten. Ich nahm es zwischen der Zange, und ich tauchte es in ein Gefäß mit gewöhnlicher Salzsäure, es zeigte sich aber keine Irritation. Kaum hatte ich es aber in übersaure Salzsäuze gelegt, so fieng es an zu zucken und diese Zuckungen nahmen beträchtlich zu, ich legte das Herz wieder auf den Tisch, es zuckte aber wohl noch sechs Minuten. Nach und nach wurden die Zusammenziehungen schwächer, ich konnte sie aber sogleich durch neue Befeuchtung wieder erregen. Ich schließe mit einer Erfahrung, die noch beständig eingetroffen ist. Ich legte den Schenkel eines Frosches 12 Minuten lang in eine Opiatauflösung und es verlor sich alle Irritabilität, der Galvanismus erregte gar keine Bewegung mehr, und gegen die Berührung der Metalle war der Schenkel ganz unempfindlich. Ich nahm sehr starke übersaure Salzsäure und befeuchtete den Schenkel damit, und in zwey Minuten war die Irritabilität ungeschwächt hergestellt, und die Muskeln wurden sehr stark zusammengezogen. Diese Versuche wurden an Mäusen mit sehr glücklichem Erfolge wiederholt, doch sind die warmblütigen Thiere nicht so empfindlich gegen diese Substanz als die kaltblütigen. Die übersaure Salzsäure wird sowohl durch die thierische als vegetabilische Fiber in gewöhnliche Salzsäure verändert. Diese Erscheinung beweist uns: 1) daß die Vermehrung der Irritabilität eine Folge der genauen Verbindung des Sauerstoffs mit den belebten Organen ist: 2) daß, trotz der anscheinenden Verschiedenheit der thierischen und vegetabilischen Faser, sich doch dieselben Verwandtschaften zeigen und beyde auf gleiche Weise durch den Sauerstoff in Thätigkeit versetzt werden: 3) daß der chemische Lebensproceß eine Art von leichter Verbrennung ist, und daß, nach Reil's Angabe, die Verbrennlichkeit einer todten Substanz der Irritabilität der organischen Materie gleicht; denn beyde hangen von dem Einflusse des Sauerstoffs ab, und bey beyden entwickelt sich Wärmestoff? -- Sollte die durch Soda oder Pottasche neutralisirte übersaure Salzsäure nicht ein interessanter Gegenstand für die Pharmazie seyn?