Alexander von Humboldt, geb. 1769. Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Die Syracuser hatten ire poikile wie die Athener. Vorstellungen von göttern und heroen, griechische und italische kunstwerke bekleideten die bunten hallen des porticus. Unablässig sah man das volk dahin strömen: den jungen krieger, um sich an den taten der anherrn, den künstler, um sich an dem pinsel großer meister zu weiden. Unter den zallosen gemälden, welche der emsige fleiß der Syracuser aus dem mutterlande gesammelt hatte, war nur eins, das seit einem vollen jarhunderte die aufmerksamkeit aller vorübergehenden auf sich zog. Wenn es dem olympischen Jupiter, dem städtegründer Cecrops, dem heldenmut des Harmodius und Aristogiton an bewunderern felte; so stand um jenes bild das volk in dichten rotten gedrängt. Woher dise vorliebe für dasselbe? War es ein gerettetes werk des Apelles, oder stammte es aus der malerschule des Callimachus her? Nein, anmut und grazie stralten zwar aus dem bilde hervor, aber an verschmelzung der farben, an charakter und styl des ganzen durfte es sich mit vilen andern in der poikile nicht messen. Das volk staunt an und bewundert, was es nicht versteht, und dise art des volks begreift vile klassen unter sich. Seit einem jarhundert war das bild aufgestellt, und unerachtet Syracus in seinen engen mauern mer kunstgenie umfasste als das ganze übrige merumflossene Sicilien, so blib der sinn desselben doch immer unenträtselt. Man wusste nicht einmal bestimmt, in welchem tempel dasselbe ehemals gestanden habe. Denn es ward von einem gestrandeten schiffe gerettet; und nur die waren, welche dises fürte, ließen anden, daß es von Rhodus kam. An dem vorgrunde des gemäldes sah man jünglinge und mädchen in eine dichte gruppe zusammengedrängt. Sie waren one gewand, wolgebildet, aber nicht von dem schlanken wuchse, den man in den statuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der stärkere gliderbau, welcher spuren mühevoller anstrengungen trug, der menschliche ausdruck irer sensucht und ires kummers, alles schin sie des himmlischen oder götteränlichen zu entkleiden und an ire irdische heimat zu fesseln. Ir har war mit laub und feldblumen einfach geschmückt. Verlangend streckten sie die arme gegen einander aus; aber ir ernstes trübes auge war nach einem genius gerichtet, der, von lichtem schimmer umgeben, in irer mitte schwebte. Ein schmetterling saß auf seiner schulter, und in der rechten hielt er eine lodernde fackel empor. Sein gliderbau war kindlich rund, sein blick himmlisch lebhaft. Gebieterisch sah er auf die jünglinge und mädchen zu seinen füßen herab. Mer charakteristisches war an dem gemälde nicht zu unterscheiden. Nur am fuße glaubten einige noch die buchstaben z und s zu bemerken, woraus man (denn die antiquarier waren damals nicht minder kün als jetzt) den namen eines künstlers Zenodorus, also gleichnamig mit dem späteren coloßgießer, ser unglücklich zusammensetzte. Dem rhodischen genius, so nannte man das rätselhafte bild, felte es indeß nicht an auslegern in Syracus. Kunstkenner, besonders die jüngsten, wenn sie von einer flüchtigen reise nach Korinth oder Athen zurückkamen, hätten geglaubt alle ansprüche auf talent verläugnen zu müssen, wenn sie nicht sogleich mit einer neuen erklärung hervorgetreten wären. Einige hielten den genius für den ausdruck geistiger liebe, die den genuß sinnlicher freuden verbietet; andere glaubten, er solle die herschaft der vernunft über die begirden andeuten. Die weiseren schwigen, andeten etwas erhabeneres, und ergötzten sich in der poikile an der einfachen composition der gruppe. So blib die sache immer unentschiden. Das bild ward mit mannigfachen zusätzen copirt und nach Griechenland gesandt, one daß man auch nur über seinen ursprung je einige aufklärung erhielt. Als einst mit dem frühaufgang der Plejaden die schifffart ins ägäische mer wider eröffnet ward, kamen schiffe aus Rhodus in den hafen von Syracus. Sie enthielten einen schatz von statuen, altären, candelabern und gemälden, welche die kunstliebe der Dionyse in Griechenland hatte sammeln lassen. Unter den gemälden war eins, das man augenblicklich für ein gegenstück zum rhodischen genius erkannte. Es war von gleicher größe und zeigte ein änliches colorit, nur waren die farben besser erhalten. Der genius stand ebenfalls in der mitte, aber one schmetterling, mit gesenktem haupte, die erloschene fackel zur erde gekert. Der kreis der jünglinge und mädchen stürzte in mannigfachen umarmungen gleichsam über im zusammen; ir blick war nicht mer trübe und gehorchend, sondern kündigte den zustand wilder entfesselung, die befridigung lang genärter sensucht an. Schon suchten die syracusischen altertumsforscher ire vorigen erklärungen vom rhodischen genius umzumodeln, damit sie auch auf dises kunstwerk passten: als der tyrann befehl gab es in das haus des Epicharmus zu tragen. Diser philosoph, aus der schule des Pythagoras, wonte in dem entlegenen teile von Syracus, den man Tyche nannte. Er besuchte selten den hof der Dionyse: nicht, als hätten nicht ausgezeichnete männer aus allen griechischen pflanzstädten sich um in versammelt, sondern weil solche fürstennähe auch den geistreichsten männern von irem geiste und irer freiheit raubt. Er beschäftigte sich unablässig mit der natur der dinge und iren kräften, mit der entstehung von pflanzen und tieren, mit den harmonischen gesetzen, nach denen weltkörper im großen, und schneflocken und hagelkörner im kleinen sich kugelförmig ballen. Da er überaus bejart war, so ließ er sich täglich in die poikile und von da nach Nasos an den hafen füren, wo im im weiten mere, wie er sagte, sein auge ein bild des unbegrenzten, unendlichen gab, nach dem der geist vergebens strebt. Er ward von dem nideren volke und doch auch von dem tyrannen geert. Disem wich er aus, wie er jenem freudig und oft hülfreich entgegenkam. Epicharmus lag jetzt entkräftet auf seinem ruhebette, als der befehl des Dionysius im das neue kunstwerk sandte. Man hatte sorge getragen im eine treue copie des rhodischen genius mit zu überbringen, und der philosoph ließ beide nebeneinander vor sich stellen. Sein blick war lange auf sie geheftet, dann rief er seine schüler zusammen und hub mit gerürter stimme an: "Reißt den vorhang von dem fenster hinweg, daß ich mich noch einmal weide an dem anblick der reichbelebten lebendigen erde! Sechzig jare lang habe ich über die inneren tribräder der natur, über den unterschid der stoffe gesonnen, und erst heute lässt der rhodische genius mich klarer sehen, was ich sonst nur andete. Wenn der unterschid der geschlechter lebendige wesen woltätig und fruchtbar an einander kettet, so wird in der anorganischen natur der rohe stoff von gleichen triben bewegt. Schon im dunklen chaos häufte sich die materie und mid sich, je nachdem freundschaft oder feindschaft sie anzog oder abstieß. Das himmlische feuer folgt den metallen, der magnet dem eisen; das geribene electrum bewegt leichte stoffe; erde mischt sich zur erde; das kochsalz gerinnt aus dem mere zusammen, und die saure feuchte der stypteria wie das wollige harsalz trichitis lieben den ton von Melos. Alles eilt in der unbelebten natur sich zu dem seinen zu gesellen. Kein irdischer stoff (wer wagt es das licht disen beizuzälen?) ist daher irgendwo in einfachheit und reinem, jungfräulichem zustande zu finden. Alles strebt von seinem entstehen an zu neuen verbindungen; und nur die scheidende kunst des menschen kann ungepart darstellen, was Ir vergebens im innern der erde und in dem beweglichen wasser- oder luftoceane sucht. In der toten anorganischen materie ist träge ruhe, so lange die bande der verwandtschaft nicht gelöst werden, so lange ein dritter stoff nicht eindringt um sich den vorigen beizugesellen. Aber auch auf dise störung folgt dann wider unfruchtbare ruhe. Anders ist die mischung derselben stoffe im tier- und pflanzenkörper. Hier tritt die lebenskraft gebieterisch in ire rechte ein; sie kümmert sich nicht um die demokritische freundschaft und feindschaft der atome; sie vereinigt stoffe, die in der unbelebten natur sich ewig fliehen, und trennt, was in diser sich unaufhaltsam sucht. Tretet näher um mich her, meine schüler, und erkennet im rhodischen genius, in dem ausdruck seiner jugendlichen stärke, im schmetterling auf seiner schulter, im herscherblick seines auges das symbol der lebenskraft, wie sie jeden keim der organischen schöpfung beselt. Die irdischen elemente, zu seinen füßen, streben gleichsam irer eigenen begirde zu folgen und sich mit einander zu mischen. Befehlend droht inen der genius mit aufgehobener, hochlodernder fackel, und zwingt sie, irer alten rechte uneingedenk, seinem gesetze zu folgen. Betrachtet nun das neue kunstwerk, welches der tyrann mir zur auslegung gesandt; richtet eure augen vom bilde des lebens ab auf das bild des todes. Aufwärts entschwebt ist der schmetterling, ausgelodert die umgekerte fackel, gesenkt das haupt des jünglings. Der geist ist in andere sphären entwichen, die lebenskraft erstorben. Nun reichen sich jünglinge und mädchen fröhlich die hände. Nun treten die irdischen stoffe in ire rechte ein. Der fesseln entbunden, folgen sie wild, nach langer entberung, iren geselligen triben; der tag des todes wird inen ein bräutlicher tag. -- So ging die tote materie, von lebenskraft beselt, durch eine zallose reihe von geschlechtern, und derselbe stoff umhüllte villeicht den göttlichen geist des Pythagoras, in welchem vormals ein dürftiger wurm in augenblicklichem genusse sich seines daseins erfreute. Geh Polykles! und sage dem tyrannen, was du gehört hast! Und ir, meine lieben, Euryphamos, Lysis und Skopas, tretet näher und näher zu mir! Ich füle, daß die schwache lebenskraft auch in mir den irdischen stoff nicht lange mer beherschen wird. Er fordert seine freiheit wider. Fürt mich noch einmal in die poikile und von da ans offene gestade. Bald werdet ir meine asche sammeln!"